Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen wurde am 5. August 1950 in Stuttgart-Bad Cannstatt von 30 Vertretern der deutschen Heimatvertriebenen unterzeichnet und am folgenden Tag vor dem Stuttgarter Schloss und im ganzen Bundesgebiet verkündet. Sie gilt als das Grundgesetz der deutschen Heimatvertriebenen. In ihrem Kern enthält sie einen Aufruf zum Verzicht auf Rache und Gewalt trotz des eigenen gerade erlittenen Unrechts und ein klares Bekenntnis zur Schaffung eines einigen Europas, zur Verständigung zwischen den Staaten, den Völkern und Volksgruppen. Sie war zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung am 5. August 1950 ihrer Zeit weit voraus und eine große moralische Leistung der Vertriebenen, die damals noch nicht wussten, was überhaupt mit ihnen geschehen sollte und wie es weitergehen würde. Tausende befanden sich zudem noch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.

Aber die Charta spricht auch vom Recht auf die Heimat, als einem von Gott geschenkten Grundrecht der Menschheit, das in Bezug auf die Heimatvertriebenen bis heute nicht verwirklicht ist. Dazu heißt es: "Die Völker müssen erkennen, dass das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert."


Aus großer Not zu einem Grundgesetz der Vertriebenen

Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen

 

„Die Charta der Heimatvertriebenen aus dem Jahr 1950 gehört zu den Gründungsdokumenten der Bundesrepublik Deutschland, sie ist eine wesentliche Voraussetzung ihrer vielgerühmten Erfolgsgeschichte. Die Charta ist deshalb von historischer Bedeutung, weil sie innenpolitisch radikalen Versuchungen den Boden entzog, außenpolitisch einen Kurs der europäischen Einigung und Versöhnung unter Einbeziehung der mittel- und osteuropäischen Nachbarn vorbereitete und wirtschafts- und gesellschaftspolitisch nicht nur die Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, sondern über sie hinaus einen beispiellosen Wirtschaftsaufbau ermöglichte, der weltweit als ‚deutsches Wirtschaftswunder‘ Anerkennung gefunden hat. (…) Die Charta der Heimatvertriebenen ist nicht nur ein wichtiges Dokument der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, der zweiten deutschen Demokratie, sie ist auch ein bleibendes Vermächtnis für die Zukunft des wiedervereinigten Deutschland in einem zusammenwachsenden Europa.“

Monumental in der Wortwahl und extrem verdichtet im Inhalt ist dieses Zitat „die bislang vielleicht eindringlichste Würdigung“ – Zitat BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius – der Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Noch mehr Bedeutung entfaltet es mit Blick auf den Redner, denn es war der Präsident des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, der diese Worte als oberster Repräsentant unserer Volksvertretung am 5. August 2010 anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Charta in Stuttgart sagte. Mehr noch: Fast wortgleich drückte er sich in seiner Rede zum zweiten nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2016 in Berlin aus. Damit zeigte er, dass diese überzeugte Bewertung aus einer eingehenden Auseinandersetzung mit den Entstehungsumständen der Charta, ihrer Bedeutung und ihrer Wirkung entsprungen war.

Tatsächlich wird es mit jedem weiteren Jahrzehnt, das seit der Formulierung, Unterzeichnung und Verkündung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen vergeht, wichtiger, sich ein Stück weit in diese Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und 1950 bzw. vielleicht sogar bis zur Verabschiedung des Lastenausgleichsgesetzes 1952 oder des Bundesvertriebenengesetzes 1953 zurückzuversetzen. Nur so erfasst man ihre Bedeutung ganz und kann vielleicht auch die heute schwerer zu verstehenden Passagen zumindest in ihrer Zielrichtung nachvollziehen.

"Die Verzweiflung der Vertriebenen ist nicht zu beschreiben"

„Die Verhältnisse auf dem Wohnungsgebiet, (…) die auch das Leben der Vertriebenen und Ausgebombten so unendlich schwer machen, werden von uns mit ganzer Kraft einer Besserung entgegengeführt werden. Wir wollen mit allen Mitteln den Wohnungsbau energisch fördern, nicht indem der Bund selbst baut, sondern indem er Mittel zur Verfügung stellt und darauf dringt, dass von den Ländern alle Möglichkeiten auf dem Gebiete des Wohnungsbaus erschöpft werden. (…) Wenn es nicht gelingt, das Privatkapital für den Wohnungsbau zu interessieren, ist eine Lösung des Wohnungsproblems unmöglich.“ Es ist eine fast gegenständlich wirkende Not, die aus diesem Zitat von Bundeskanzler Konrad Adenauer aus dessen Regierungserklärung im September 1949 spricht und die einen Teil der sozialen Probleme verdeutlicht, die damals zu lösen waren.

Mehr als 7,5 Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge waren in Westdeutschland „angekommen“. Davon lebte 1950 rund die Hälfte noch immer in Lagern. Weitere ca. 35 Prozent waren in sogenannten Notwohnungen untergekommen, also etwa in unbeheizten Dachzimmern oder notdürftig umgebauten Ställen. Rund 40 Prozent der Vertriebenen waren arbeitslos, viele weitere „berufsfremd“ oder als Hilfsarbeiter beschäftigt. Wie das Adenauer-Zitat es erahnen lässt, steckten Wohnungsbauprogramme noch in den Kinderschuhen. An den oben erwähnten Lastenausgleich oder eine Vertriebenengesetzgebung war nur entfernt zu denken. Noch immer hatten die Suchdienste alle Hände voll zu tun, getrennte Familien zusammenzuführen oder Vermisste wiederaufzufinden. Dazu wog es schwer, dass heimatlich, landschaftlich und kulturell verbundene Vertriebene nicht regional beieinander angesiedelt, sondern über ganz Westdeutschland verteilt worden waren.

Insbesondere der letzte Punkt ist mit dem fast unmittelbar nach Kriegsende von den Alliierten verhängten Koalitionsverbot zu sehen, mit dem die Herausbildung von Vertriebenenorganisationen oder -parteien behindert werden sollte. Wie u.a. von den Historikern Prof. Dr. Manfred Kittel oder Prof. Dr. Michael Schwartz herausgearbeitet wurde, verfolgten die Siegermächte im Hinblick auf die Vertriebenen eine assimilatorische Zielsetzung – sicher auch aufgrund von Befürchtungen im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Potsdamer Konferenz 1945 und der real erlebten Vertreibung.

Erst ab ca. 1948 gelang es, dieses Koalitionsverbot etwa mit dem Zusammentritt der Landesflüchtlingsausschüsse aufzuweichen. Nachdem das Verbot dann zurückgenommen wurde, folgte etwa 1949 die Gründung erster landsmannschaftlicher Verbindungen auf Landes- und Bundesebene sowie die Herausbildung zweier Dachverbände: dem Zentralverband der vertriebenen Deutschen (ZvD) und den Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften (VOL). 1950 wiederum entstand mit dem „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) die erste Vertriebenenpartei. Diese errang bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein Mitte des Jahres, dem Bundesland mit dem höchsten Bevölkerungsanteil an Vertriebenen und Flüchtlingen, auf Anhieb mehr als 23 Prozent der Stimmen.

Allein dieser kurze Einblick in die 1950 herrschende Gemengelage zeigt, wie explosiv sich die Situation damals noch immer darstellte. Umso wichtiger war, welche Art Signal von der ersten gemeinsamen politischen Willenskundgebung unter der Regie der beiden Dachverbände ZvD und VOL am 5. und 6. August in Stuttgart ausgehen würde. Öffentlichkeit und Politik des Inlands und in Teilen auch des Auslands sahen dieser Veranstaltung daher mit Spannung entgegen. Man befürchtete eine radikale, nationalistisch-sozialistische, parteipolitische Entwicklung und im schlimmsten Fall die Entstehung einer Art neuer „Dolchstoßlegende“.

In der „Neue Zürcher Zeitung“ war zu lesen: „Die Verzweiflung der Vertriebenen ist nicht zu beschreiben.“ Sie habe sich nur deshalb noch nie Bahn gebrochen, weil sie gepaart sei mit einer aus Hoffnungslosigkeit geborenen Apathie. Ruhe und Ordnung seien jedoch nur unter einer dünnen Decke gewahrt, die jederzeit brechen könne.

Auch die „New York Times“ hatte sich vor Ort ein Bild von der Lage gemacht und in einer Serie von Artikeln gewarnt, ein explosiver Aufruhr der Betroffenen werde den demokratischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau in Westdeutschland zunichtemachen, der mit Marshallplan-Hilfe und anderen Maßnahmen in Gang gekommen war. Verstärkter westlicher Einsatz sei nötig.

Die Berichte der Besatzungsbehörden an ihre Regierungen warnten, die junge Bundesrepublik in dieser Sache nicht im Stich zu lassen, da sie sonst „ideologischer Hilfe“ durch die östlich-kommunistischen Regime anheimfallen würde. Auf der Londoner Außenministerkonferenz im Mai 1950 befassten sich die Alliierten auch mit einer möglichen Revision des Besatzungsstatuts und machten sich Gedanken über eine Mitverantwortung an der damaligen Situation. Die Konferenz begnügte sich jedoch damit, die Bundesrepublik mit der Aussicht auf Wiedervereinigung zu trösten, durch die auch dieses Problem gelöst werden sollte.

Im sowjetisch besetzten Sektor jedoch wurden kurz darauf wirkungsvolle Nebelkerzen gezündet: Im Juli 1950 schlossen die DDR und Polen das Görlitzer Abkommen, mit dem ein sowjetisch besetzter, völkerrechtlich nicht als souverän anerkannter Teil Deutschlands und ein sowjetischer Vasallenstaat die Oder-Neiße-Linie als endgültige deutsch-polnische Grenze bestätigten. Dagegen liefen die Vertriebenen und mit ihnen ein Großteil der westdeutschen Politik sowie die West-Alliierten Sturm, ohne jedoch Einfluss auf den vom Sowjet-Regime dominierten Teil Europas nehmen zu können.

Ein völkerverbindendes und zukunftsweisendes Manifest

In einer Situation, in der also alles zu erwarten war, überraschten die Vertriebenen die deutsche wie die Weltöffentlichkeit mit einer in Sprache, Inhalt und Stil gemäßigten Veranstaltung, in deren Rahmen ein friedenstiftendes, Rechtsverbindlichkeiten suchendes, Engagement forderndes, völkerverbindendes und somit zukunftsweisendes Manifest vorgestellt wurde, das die Leitlinien der Verbandsarbeit bis heute prägt.

Dazu passt auch, dass die Autoren und Unterzeichner der Charta absichtlich in den Hintergrund traten. In Teilen belastet von eigener Schuld aus der Zeit des Nationalsozialismus suchten sie nach der Kriegs- und Vertreibungserfahrung dennoch einen Weg, eine erneute – innerdeutsche wie internationale – Eskalation von Gewalt zu verhindern und den deutschen Heimatvertriebenen einen konstruktiven Weg der selbstgestalteten Eingliederung und Völkerverständigung aufzuzeigen. Indem sie, angesehene Repräsentanten der Vertriebenen, am 5. August 1950 das Dokument unterzeichneten, verliehen sie ihm Gewicht. Als die Charta jedoch am 6. August vor mehr als 150.000 Menschen vor dem Neuen Schloss in Stuttgart verkündet wurde, trug sie ein „unbekannter Vertriebener“ vor – eine unbeschriebene Identifikationsfigur, dessen Name noch auf Jahrzehnte ungenannt bleiben sollte. Erst in den späten 1980ern erfuhr man, dass es der Oberschlesier Manuel Jordan gewesen war.

Zu diesen Gedankengängen passend, steht der Verzicht auf Rache und Vergeltung an erster Stelle des Dokumentes. Dabei ist anzumerken, dass es selbstverständlich kein „Recht auf Rache“ gibt. Ein solches wurde jedoch auch niemals insinuiert. Die Entschließung fußt vielmehr auf der Betrachtung der jüngeren Vergangenheit – dem Weg vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, der Kriegszeit selbst und dem selbst erlittenen Schicksal. Gleichermaßen offenbart sie eine realistische Wahrnehmung zivilisationsfeindlicher Mechanismen in der menschlichen Natur, die es zu bändigen gilt.

An zweiter Stelle schon folgt eine Vision, von der die deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler und ihre Verbände bis heute beseelt sind: „die Schaffung eines geeinten Europas (…), in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können“ – die Grundlage der völkerverständigenden, grenzüberschreitenden Arbeit der Vertriebenen. Schon damals war klar, dass nur gutnachbarschaftliche Beziehungen in Europa welchen Weg auch immer in die Heimat ebnen würden. Das Bild eines geeinten Europa aus Heimatliebe und -sehnsucht entstand also noch vor der Montan-Union, womit der Einheit Europas eine wirtschaftliche Zielrichtung gegeben wurde.

Der Aufruf zum aktiven Einsatz für die Wiederaufbau Deutschlands und Europas bildet den dritten wichtigen Punkt der Charta, der konsequent aus den ersten beiden Punkten folgt. Die „harte, unermüdliche Arbeit“, die in der Folge tatsächlich von der Überzahl der Vertriebenen geleistet wurde und mit der sie zu Mitgestaltern des Wirtschaftswunders wurden, zeigt, dass dieser Aufruf Erfolg hatte. Gerade dieser Punkt wird in den folgenden Formulierungen der Charta aber auch mit Bedingungen der von den Kriegsfolgen mit am stärksten betroffenen Deutschen an Politik und Gesellschaft verbunden, die dann etwa mit dem Lastenausgleich 1952 oder dem Bundesvertrieben- und Flüchtlingsgesetz 1953 zumindest zum Teil erfüllt wurden.

Ganz zentral – und auch gestalterisch hervorgehoben – steht in der Charta das Recht auf die Heimat. Dahinter steht zum einen der ganz konkrete Wunsch und Anspruch, in die eigene Heimat zurückkehren zu können, die damals offiziell ja nur unter fremder Verwaltung stand. Dies kann durchaus als Reaktion auf das Görlitzer Abkommen gesehen werden – aber auch als späte Stellungnahme zu den Ergebnissen der Potsdamer Konferenz 1945. Zusätzlich lässt sich diese Formulierung aber ebenso mit einem, nach dem Krieg geweiteten Blick erklären, in den z.B. auch die Situation von Flucht und Vertreibung weltweit hineinspielte – und damit auch die im Dezember 1948 in Paris verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In diese allgemeingültigen Menschenrechte war zwar das Recht aufgenommen worden, aus seinem Heimatland auswandern und dorthin wieder zurückkehren zu können. Gerade mit Blick auf ihr millionenfaches Schicksal, das Völkerrecht – etwa die Haager Landkriegsordnung von 1899 oder das die Genfer Konvention von 1949/50 – hätten die Vertriebenen hier jedoch sicher mehr erwartet. Daher ist es eine weitere große Leistung der Charta, dass der konkrete Wunsch nach Heimkehr mit einem abstrakten, weltweiten Naturrecht auf Heimat verknüpft wurde und so die Diskussion um ein internationales Vertreibungsverbot bis heute befeuert.

Viele dieser Überlegungen schwangen mit am 5./6. August 1950 in Stuttgart und Bad Cannstatt, als die Charta unterzeichnet, verkündet und damit bundesweit zum ersten Mal der Tag der Heimat eingeläutet wurde. Das Dokument wurde zu einem Sinnbild dafür, wie es gelingen konnte, politischen Fehlentwicklungen vorzubeugen, vorhandene Energien zu kanalisieren sowie friedens- und zukunftssichernd über Grenzen hinweg zu wirken. Sie erfüllte den Anspruch, ein „Grundgesetz“ der Vertriebenen zu sein, und sie wurde zu einem Gründungsdokument der Bundesrepublik Deutschland.

Marc-P. Halatsch (mit Material aus dem DOD-Archiv)