Am 21. Juni 2021 ist knapp acht Jahre nach dem symbolischen Baubeginn im Juni 2013 das Dokumentationszentrum der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in virtueller Anwesenheit von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel publikumswirksam eröffnet worden. Neben der Bundeskanzlerin sprachen beim Festakt Staatsministerin Prof. Monika Grütters, die als Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) dem Stiftungsrat vorsitzt, Stiftungsdirektorin Dr. Gundula Bavendamm sowie die 92-jährige Zeitzeugin Christine Rösch, vertrieben im März 1946 aus Neutitschein in Nordmähren.
Unter den coronabedingt handverlesenen Gästen waren u.a. Alt-Bundespräsident Joachim Gauck und Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble sowie die Botschafter Polens, Tschechiens und Ungarns, Prof. Dr. Andrzej Przyłębski, Dr. Tomáš Kafka und Dr. Péter Györkös. Ebenso anwesend waren Grütters‘ Amtsvorgänger Bernd Neumann, gebürtig 1942 aus Elbing in Westpreußen, der Gründungsdirektor der Bundesstiftung, Prof. Dr. Manfred Kittel, und der ehemalige Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, selbst noch 1943 in Breslau geboren.
Der Bund der Vertriebenen war durch seinen Präsidenten, Dr. Bernd Fabritius MdB, sowie durch die Stiftungsratsmitglieder Stephan Grigat, Christian Knauer, Iris Ripsam und Johann Thießen vertreten. Auch BdV-Vizepräsident Stephan Mayer, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, wohnte als Stiftungsrat seitens der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestages dem Festakt bei. Als 1931 im südmährischen Leipertitz geborener Zeitzeuge und Vorsitzender der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen war außerdem Reinfried Vogler eingeladen.
Grütters: Flucht und Vertreibung lange zu wenig wahrgenommene Wahrheit
Staatsministerin Grütters setzte als erste Rednerin den Ton – und begann mit einem Zitat des ehemaligen Bundesinnenministers Otto Schily vom Tag der Heimat des BdV 1999: „Der geschichtlichen Wahrheit müssen wir uns stellen. (…) Wir dürfen den Blick nicht um der einen oder der anderen politischen Bequemlichkeit willen oder aus dem einen oder anderen politischen Interesse (…) von der Wahrheit abwenden oder ihr auszuweichen versuchen, weil das nicht in unser vorgefasstes Wahrnehmungsmuster passt.“
Die Staatsministerin ergänzte, dass sich Deutschland mit dem neuen Dokumentationszentrum nun einer lange zu wenig wahrgenommen Wahrheit stelle: „dem unermesslichen und millionenfachen Leid in Folge von Flucht und Vertreibung im und nach dem von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg“. Es sei wichtig, dass „individuelle Leidensgeschichten von Heimatverlust und Entwurzelung (…) einen historisch wie politisch angemessenen Platz bekommen“. Eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur könne nur darin bestehen, „der Vielstimmigkeit der Erinnerungen Gehör zu verschaffen und im Sinne eines Erinnerungsaustauschs zu einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, zu Verstehen und Verständigung zu finden“, schloss Grütters mit einem Blick auf konkurrierende nationale Narrative in Europa und die Herausforderungen der Stiftungsarbeit.
Bavendamm: Flucht und Vertreibung der Deutschen war Unrecht
Daran konnte Dr. Gundula Bavendamm anschließen, indem sie sowohl Aufbau und Inhalte der Dauerausstellung skizzierte als auch auf Bedingungen hinwies, unter denen die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ entstanden war. Als Initiatoren schloss sie dabei Erika Steinbach und Peter Glotz mit in die Entstehungsgeschichte ein. Im Zusammenhang mit der Schwerpunktsetzung auf Flucht und Vertreibung der Deutschen erklärte sie: „Eines ist klar: Ohne die nationalsozialistischen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik hätten nicht 14 Millionen Deutsche (…) ihre Heimat verloren. Das ändert allerdings gar nichts daran, dass auch ihre Vertreibung durch die Alliierten und die ostmitteleuropäischen Staaten infolge des Zweiten Weltkrieges ein Unrecht war.“
Dieses Unrechtsprinzip gelte auch für die Kontextualisierung durch andere Vertreibungsvorgänge, wodurch außerdem sichtbar werde, dass „Zwangsmigration“ – so laut Bavendamm der wissenschaftliche Begriff – bis in die Gegenwart menschliches Leid verursache. Dies veranschaulichte sie mit der Schilderung mehrerer sehr unterschiedlicher, jedoch in der Flucht- bzw. Vertreibungserfahrung ähnlicher Schicksale aus verschiedenen Zeiten und mit unterschiedlicher geografischer Herkunft.
Rösch: Vertreibung mit 40 Kilo Gepäck
An diese Schilderungen anknüpfend, folgte ein bewegender Zeitzeugenbericht der Sudetendeutschen Christine Rösch, die aus der zeitlichen Entfernung eines Dreivierteljahrhunderts auf ihre Vertreibung, auf das Wiedersehen mit ihrer Mutter nach über einem Jahr der Trennung und auf ihre Ankunft in Bayern blickte. Heimatliebe und -sehnsucht hätten sie nie losgelassen, in einem langjährigen Hobby, dem Trachtentanz, Ausdruck gefunden – und über die Begegnung mit einer tschechischen Tanzgruppe zu einer viele Jahre währenden, grenzüberschreitenden Freundschaft geführt. Fast im Nebensatz erwähnte Rösch, dass die Geschichte ihrer eigenen Familie im Nordmährischen bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte und mit „pro Person 40 Kilo Gepäck“ ihr Ende fand.
Merkel: Dem Gedenken an Flucht und Vertreibung einen Raum gegeben
„Niemand kann besser als Sie, liebe Zeitzeugen, vermitteln, was geschehen ist. Sie wissen, wie es war, unter zum Teil lebensbedrohlichen Umständen fliehen zu müssen. Sie wissen, was es bedeutete, aus der Heimat vertrieben zu werden und diesen Verlust ein Leben lang zu tragen“, betonte die per Bildschirm zugeschaltete Bundeskanzlerin Angela Merkel und sprach die anwesenden Zeitzeugen damit direkt an. Deren Berichte würden dazu beitragen, dass die Dimensionen des Erlittenen nicht abstrakt blieben und die Erinnerung an vergangenes Leid wachgehalten würden – mit dem Ziel, aus der Geschichte die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen.
Dabei sei der geschichtliche Kontext entscheidend: „Ohne den von Deutschland im Nationalsozialismus über Europa und die Welt gebrachten Terror, ohne den von Deutschland im Nationalsozialismus begangenen Zivilisationsbruch der Shoah und ohne den von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg wäre es nicht dazu gekommen, dass zum Ende des Zweiten Weltkriegs und danach Millionen Deutsche Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung erleiden mussten.“ Ebenso deutlich erklärte Merkel, deren Mutter aus Danzig stammte und die in der DDR aufgewachsen war, dass das Ende von Flucht und Vertreibung nicht immer das Ende des Leids bedeutete: „In der DDR hatten Vertriebene über ihr Schicksal gleich ganz zu schweigen, aber auch in der früheren Bundesrepublik wurde das Thema lange Zeit in der Öffentlichkeit weitgehend ausgeblendet.“ Dies alles gelte es aufzuarbeiten.
Abschließend würdigte die Bundeskanzlerin Stiftung und Dokumentationszentrum in ihrer Entstehungsgeschichte und sparte dabei auch die frühere BdV-Präsidentin Erika Steinbach als Ideengeberin für das „Sichtbare Zeichen“ nicht aus. In ihren Dank an die konkret am Stiftungsaufbau Beteiligten schloss sie ausdrücklich auch die Vertreter des Bundes der Vertriebenen im Stiftungsrat ein. Gemeinsam sei es gelungen, „dem Gedenken an Flucht und Vertreibung mit einem sichtbaren Ort in unserer Hauptstadt einen angemessenen und notwendigen Raum in unserer Erinnerungskultur zu geben“.
Virtueller Rundgang durch die Ausstellung
Am Ende des Festaktes wurde ein virtueller Rundgang durch die Dauerausstellung eingespielt, auf den sich RBB-Moderator Sascha Hingst, filmisch dokumentiert, gemeinsam mit Gundula Bavendamm begeben hatte. Der Film bietet einen Überblick über die Ausstellung und kommentiert zugleich über das Interview mit der Stiftungsdirektorin deren Inhalte. Er endet im Raum der Stille mit der Frage, ob das Dokumentationszentrum tatsächlich zur Versöhnung etwas beitragen könne. Bavendamm antwortet, die Ausstellung könne die Empathie mit Flüchtlingen und Vertriebenen aller Zeiten und Orte stärken, bekennt aber gleichzeitig: „Ich denke, all diese Erfahrungen, die hier stattfinden, können (…) vielleicht in so etwas wie Verständigung oder Versöhnung münden, aber wir können es natürlich nicht verordnen.“
Marc-P. Halatsch