Ansprache zum bundesweiten Gedenktag an die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2019 in Berlin

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius

Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister Seehofer,

Herr Bundesratspräsident, Ministerpräsident Günther,

Frau Bundesministerin Giffey,

Frau Staatsministerin Professor Grütters,

hochwürdiger Herr Bischof Guib,

Frau Professor Assmann,

Herr Bartsch,

liebe Landsleute,

meine Damen und Herren,

„Winter 1945: Millionen Deutsche fliehen in panischer Angst vor der heranrückenden Roten Armee. Ihre Flucht führt sie über verschneite Straßen oder über die gefrorene Ostsee, auf Schiffen und in überfüllten Zügen nach Westen. (…) Millionen weitere Deutsche sind Leidtragende von Vertreibungen am und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (…)“ – mit diesen Worten wird das Kapitel Flucht und Vertreibung im Katalog zur Ausstellung „Unsere Geschichte. Deutschland seit 1945“ im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn eingeleitet.

Zeitzeugen erzählen uns vom Kampf ums Überleben. Manche berichten heute in erschütternder Abgeklärtheit, dass sie gemeinsam mit vielen anderen oft nur einen Wimpernschlag davon entfernt waren, den Kampf ums Überleben aufzugeben und im tiefen Schnee am Wegesrand neben dem bereits erfrorenen Kind den nächsten Tiefflieger zu erwarten.

Meine Damen und Herren,

je näher der heutige Tag, dieser 20. Juni, heranrückt, umso mehr verspüre ich jedes Jahr einen tiefen Zwiespalt: Die Vorfreude auf diese – unsere – Gedenkstunde geht immer einher auch mit der Trauer über den Anlass unseres Zusammenkommens.

Denn: Ähnlich wie das unentschuldbare und verbrecherische Vorgehen Nazideutschlands gegen heute befreundete Völker und eigene Bürger uns geprägt und uns eine Verantwortung für die Zukunft aufgebürdet hat, der sich jede Generation von neuem stellen muss, bleiben Gedenken und Erinnern an Flucht und Vertreibung für unsere gesamte Gesellschaft sinnstiftend und notwendig.

Denn: Auch dieses Unrecht, das rund 15 Millionen Deutschen widerfahren ist, und dessen Folgen, haben unser Zusammenleben in Deutschland, unsere Identität und unser Verhältnis zu den Nachbarländern im Osten ganz erheblich geprägt.

Bitte erlauben Sie mir, wie jedes Jahr an dieser Stelle, an die Menschen aus jenen Landstrichen zu erinnern, die von Flucht und Vertreibung betroffen waren. Ich nenne beim Namen:

  • Schlesien, Pommern, Ostbrandenburg,
  • Ostpreußen, Westpreußen, Danzig, den Weichsel-Warthe-Raum, das Baltikum,
  • das Sudetenland, den Karpaten- und den Donauraum,
  • die deutsch besiedelten Gebiete Russlands und der Ukraine.

Aus allen Reden und Ansprachen haben wir heute herausgehört, dass Flucht, Vertreibungen und ethnische Säuberungen, dass „aktiver und passiver Migrationsdruck“ – wie oft empathielos und verharmlosend gesagt wird – in unserer heutigen Zeit jedes Jahr mehr und mehr Menschen entwurzeln und zu neuen Opfern machen.

Wir sprechen wieder von Millionen Flüchtlingen! Als ob sich die Geschichte wiederholen und sich immer und immer wieder dieselben Phänomene zeitversetzt begegnen müssen!

Aber, meine Damen und Herren, Geschichte begegnet nicht, sie schafft sich selbst – und blickt dann auf das Geschehene mit der leidenschaftslosen Geduld eines Chronisten. Wir selbst haben es in der Hand, solche Spiralen zu durchbrechen!

Es ist daher bedauerlich und nicht hinnehmbar, dass es angesichts des hohen Anspruchs an die Geltung der Menschenrechte bis heute noch nicht einmal in unserem vereinten Europa eine klar normierte Festlegung zur Ahndung ethnischer Säuberungen gibt! Eine solche fordert der BdV schon lange. Jede Vertreibung, jede ethnische Säuberung – gleichgültig wo, wann und warum – ist immer ein Verbrechen. Es ist an der Zeit, dass Europa den Tatbestand der Vertreibung für die Zukunft sanktionsfähig normiert!

Die Unionsparteien in Deutschland haben eine solche Forderung exponiert in das gemeinsame Wahlprogramm zur Europawahl aufgenommen. Dafür bin ich ausdrücklich dankbar! Nun muss die Umsetzung folgen.

Meine Damen und Herren,

im Namen der Überlebenden und in Erinnerung an die Todesopfer danke ich der Bundesregierung, dass am nationalen Gedenktag 20. Juni der Opfer aus den eigenen Reihen gedacht werden darf. Lassen Sie uns mit Empathie, in Würde und mit der angemessenen Ehrerbietung unserer menschlichen Pflicht des Erinnerns und des Gedenkens nachkommen.  Überall auf der Welt gereicht es einem Land zu Ehre und Respekt, seine Opfer und seine Toten zu beklagen!

Dankeschön.