Ansprache zum bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2022 in Berlin

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius

Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident Ramelow,
sehr geehrte Frau Bundesministerin Geywitz,
sehr geehrte Damen Rohrmoser und Liebert,
verehrte Gäste der Gedenkstunde zum nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung,

heute binden wir Fäden zusammen, die im Alltag oft lose bleiben und nicht zusammengedacht werden. Unser Gedenken an die Opfer der Vergangenheit ist das respektvolle und demütige Verneigen vor dem Leid der Mitmenschen, die Flucht, Vertreibung, Entrechtung oder gar den Tod unter solchen Umständen erleben mussten.

Gleichzeitig müssen wir gerade dieser Tage wieder voller Entsetzen und Unverständnis zur Kenntnis nehmen, was sich mitten in Europa abspielt: Erneut Brüche der Menschlichkeit, Barbarei – und das gezielte Zerstören von Heimat.

Als mit den historischen Umbrüchen Ende der 80er-Jahre der amerikanische Politologe Francis Fukuyama seine These zum „Ende der Geschichte“ aufstellte – er meinte natürlich die der großen Konflikte –, gab es zwar vereinzelt Widerspruch.

Der Osten bröckelte politisch; der Westen wollte nur noch Frieden und Demokratie in einer freien Welt. Willkür, Krieg und Gewalt gegen Unschuldige sollten jedoch in der Geschichte verbannt bleiben, und auch die großen ethnischen Säuberungen nach dem Zweiten Weltkrieg, Flucht und Vertreibung der Deutschen, am Besten dem kollektiven Vergessen anheim fallen.

Die Gegenwart belehrt uns schmerzhaft eines Schlechteren: Vielleicht hatten wir uns alle bereits zu sehr daran gewöhnt, dass Flucht- und Vertreibungserlebnisse von Deutschen heutzutage nur noch von Vertretern der Großelterngeneration erzählt werden. Doch die wichtigste Funktion von Geschichte ist sicher diejenige, als Lernstoff zur Problemvermeidung der Zukunft zu dienen!

Ich danke Ihnen, verehrte Frau Rohrmoser, dass Sie uns Ihre Erlebnisse der Vergangenheit heute zur Verfügung stellen. Gerade die deutschen Heimatvertriebenen mahnen schon seit Schaffung Ihrer Charta vor über 70 Jahren zum Lernen aus der Geschichte. Umso schmerzlicher trifft uns alle, was aber Sie, verehrte Frau Liebert, als Person der Gegenwart über Ihrer Flucht aus Lemberg berichten.

Ihr Bericht muss uns allen Weckruf sein und uns jeden Morgen der Gegenwart daran erinnern, dass in der Ukraine erneut Menschen vor einem Krieg flüchten, ihre Heimat aufgeben, ihre kämpfenden Männer zurücklassen und mit den Kindern an der Hand Schutz in der Flucht nehmen müssen. Die Invasoren der Gegenwart zeigen ihre hässliche Fratze und unterscheiden sich kaum von den Verbrechern vergangener Jahrhunderte.

Die Parallele zum Ende des Zweiten Weltkrieges und der Zeit danach ist keine politische, sondern eine Parallele der Verzweiflung. Die Angst, das eigene Leben zu verlieren, die Sorge um die Kinder und das Heil in der Flucht prägten damals wie heute das Schicksal der Betroffenen.

Es ist aber auch eine Parallele der tiefen Wunden, die der Heimatverlust verursacht. 1945, nach Ende des Krieges, blieben die über 12 Millionen Heimatvertriebenen, die Flucht und Vertreibung überlebt hatten, in der neuen Fluchtheimat auf ihren unausgepackten Fluchtkoffern sitzen, weil sie glaubten, in absehbarer Zeit wieder nach Hause zu können. Der Wille, in die Heimat zurückzukehren und das Zerstörte aufzubauen war so groß, dass es über 20 Jahre dauern sollte, bis auch der Letzte einsah, dass eine Heimkehr nicht mehr möglich war.

Dieses Phänomen der Sehnsucht nach der Heimat, die man verlassen musste, begegnet uns heute unter den Geflüchteten aus der Ukraine genau so ausgeprägt. Vor zwei Wochen war ich selbst in der Ukraine. Ich habe dort, in Munkatsch (Mukatschewo) und Ungwar (Ushgorod), Menschen getroffen, die sich vor barbarischen Angreifern, vor Mördern und Vergewaltigern, aus zerbombten Kellern und vernichteten Landschaften gerettet hatten – und deren trotzdem unbedingter Bleibewille und Tatendrang zum Wiederaufbau daher um so überwältigender anmutet. Die vielen Binnenflüchtlinge im Land sammeln sich im Westen, in noch ruhigen Teilen des Landes, und warten darauf, wieder nach Hause gehen zu können.

Eine überzeugendere Bestätigung für die existenzielle Rolle von Heimat, meine Damen und Herren, ist nicht vorstellbar – und für uns Heimatvertriebene auch nicht nötig. Heimat ist für jede Gemeinschaft die Luft zum Atmen. Heimat ist nie ausgrenzend, sondern eine Einladung an alle, die Heimat suchen.

Lassen Sie uns das heutige Gedenken daher um eine Zukunftsperspektive erweitern: Für die Menschen in und aus der Ukraine – russischsprachige Ukrainer ausdrücklich eingeschlossen – darf sich nicht wiederholen, was die Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg erleben mussten.

Darum fordern wir beständig und seit vielen Jahren ein menschenrechtlich bindendes Recht auf die Heimat und ein gleichermaßen international verankertes wie strafbewehrtes Vertreibungsverbot. Ziel muss es bleiben, dass aus der Geschichte die richtigen Lehren gezogen werden.

Die deutsche Geschichte – und gerade auch die Geschichte der deutschen Heimatvertriebenen und Spätaussiedler und ihrer Verbände – zeigt, dass der Weg zu diesem Ziel ein immerwährender Prozess der Verständigung auch über Grenzen hinweg ist. Selbst wenn dieses Ziel einst erreicht zu sein scheint, wie damals bei Fukuyama, wird unsere Arbeit fortgesetzt werden müssen!

Denn auch dann wird es gelten, das Erreichte zu sichern und Heimat als etwas Wunderbares, als etwas Unersetzbares und als unverletzbare Lebensgrundlage für alle Menschen zu sichern und zu schützen.
 
Wir, meine Damen und Herren, wollen niemals vergessen, dass jede Vertreibung, jede ethnische Säuberung – gleichgültig wo, wann und warum – immer Verbrechen sind.
 
Ich danke Ihnen, dass wir gemeinsam diese Gedenkstunde begehen konnten.

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius spricht bei der Gedenkstunde in Berlin (Foto: BdV).