Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Frau Bundesministerin Faeser,
sehr geehrte Frau Hoffmann,
sehr geehrter Herr Ramadan,
verehrte Gäste der Gedenkstunde zum Nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung.
Der spätere Bundespräsident Joachim Gauck hat vor vielen Jahren einmal gesagt: „Kein Land hat wie Deutschland über zwei Generationen intensiv über die eigene Schuld an Unrecht und Mord debattiert wie die Deutschen.“
Als er dann bereits Bundespräsident war, griff er das Thema beim ersten Nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung wieder auf.
Ich zitiere erneut: „(…) unsere Haltung zum Leid der Deutschen war und blieb verknüpft mit unserer Haltung gegenüber der Schuld der Deutschen. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis wir – wieder – an das Leid der Deutschen erinnern konnten, weil wir die Schuld der Deutschen nicht länger ausblendeten.“
…und dann sprach Gauck vom „Schatten der Erinnerung“, der sich – hinsichtlich der Heimat¬vertriebenen – der deutschen Wahrnehmung bemächtigt hätte.
Dieses Zitat möchte ich mit einem scheinbar völlig anderen Gedankengang verbinden: Nachdrücklich werden wir seit über einem Jahr daran erinnert, dass es keinen Krieg ohne Lügen gibt. Immer wieder hören und sehen wir Wortmeldungen aus Russland, über die wir nur den Kopf schütteln können. Aber wir wissen, dass die Lüge im Krieg militärstrategisches und psychologisches Mittel zum Zweck ist.
Wir wissen das auch deshalb, weil unsere Eltern und Großeltern, unsere Schulen und Universitäten uns über die Lügen Nazideutschlands aufgeklärt haben: von der Entmenschlichung jeder unliebsamen Volksgruppe und jedes Nachbarvolkes bis hin zur Fabel des „Endsiegs“, als die Niederlage in diesem grauenvollen, selbst entfesselten Krieg schon sichtbar war und die Städte brannten.
Damals und heute sind solche Lügen in der Regel auf den Zeitraum der kriegerischen Auseinandersetzung begrenzt und sollten diese nicht überdauern. Danach kommt zum einen die Zeit der Geschichtsschreibung mit ihrem unbestechlichen Wahrheitsanspruch. Es kommt aber – leider – zum anderen immer auch die Zeit historischer Mythen und Anti-Mythen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
führt man die Äußerungen des ehemaligen Bundespräsidenten mit meinen Gedanken grundsätzlicher Art zu Krieg samt seinen Lügen zusammen, eröffnet sich eine Perspektive, über die es nachzudenken gilt: Deutschland war zu lange dem Anti-Mythos verhaftet, dass es in seinen Reihen ausschließlich Täter gegeben habe, einige meinen das heute noch...
Aber wo ausschließlich Täter vermutet werden, können nicht gleichzeitig auch Opfer sein. Und: Kann man „Tätern“ überhaupt Unrecht zufügen?
Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist gut, dass wir heute der Opfer gedenken können. Es ist gut, dass wir in einer Zeit leben, die auf historische Wahrhaftigkeit Wert legt. Die Bundesregierung legt – schon immer - ihrem Handeln – sowohl im Inland als auch im Ausland – einen moralisch anspruchsvollen Kompass zugrunde, der mit differenziertem Blick die Komplexität eines jeden Sachverhalts bewertet und Pauschalurteile meidet.
Dafür sind die Vertriebenenverbände und die Menschen, die sie vereinen, dankbar – denn nur so erlangt auch die Vertreibung der Deutschen aus ihren Heimatgebieten den angemessenen Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein.
Es sind bald 80 Jahre, dass 15 Millionen Deutsche vor der Roten Armee flüchteten oder aus ihren Häuser, Höfen und Wohnungen vertrieben wurden. Es waren Menschen mit Kindern und Enkelkindern, Menschen mit Müttern und Vätern, Großmüttern und Großvätern, die dort gelebt haben! Menschen, die nicht mehr und nicht weniger persönliche Schuld auf sich geladen hatten als die Württemberger, Thüringer oder Ostfriesen. Sie hatten jedoch das kollektive Pech, dass ihre Heimat im Osten statt im Westen lag.
Wir denken heute im Besonderen an jene, die kollektiv Opfer von Flucht und Vertreibung wurden.
Menschen aus unseren Reihen, …
… aus Schlesien, Pommern, Ostbrandenburg,
… aus Danzig, Ost- und Westpreußen, dem Baltikum,
… aus dem Sudetenland,
… aus dem Karpaten- und dem großen Donauraum,
… aus den deutsch besiedelten Gebieten Russlands und gerade auch der Ukraine.
Dieses Unrecht an unseren Landsleuten gegen Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg ist einer der Schicksalsstränge gesamtdeutscher Geschichte. Der Bund der Vertriebenen achtet und fordert die unabdingbaren Gesten des Gedenkens. Und wir haben – vielleicht sogar mehr als andere – den aufmerksamen und empathischen Blick für und auf die Opfer von Flucht und Vertreibung der Gegenwart, des Jetzt. Wir wissen nur zu genau, dass Flucht und Vertreibung für jeden Betroffenen aber auch ein Davor und ein Danach haben.
Lassen Sie uns in der heutigen Gedenkstunde auch daran denken, dass mit der überlebten – und somit gelungenen – Flucht die existenziellen Verwerfungen für die Betroffenen noch nicht zu Ende waren.
Wo endet eine Flucht? Im ersten sicheren Lager? In der ersten notdürftigen Wohnung am Ankunftsort?
Wann endet eine Flucht? Wenn man am Ankunftsort registriert worden ist? Oder doch erst, wenn man wieder nach Hause zurückkehren konnte?
Es sind diese und ähnliche Fragen, die aktuell auch die Menschen aus der Ukraine bewegen.
Für uns fühlt es sich an wie ein bitteres Déjà-vu der Geschichte: denn es sind dieselben Fragen, die auch die über 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen sich stellten, nachdem sie die Hölle der Flucht überlebt hatten.
Menschen, die ihre Heimat, viele Familienmitglieder, Ihr gesamtes Hab und Gut, verloren haben, sehen sich mit psychischen und emotionalen Belastungen konfrontiert, die manchmal ein Leben lang nicht mehr weichen.
1944, 1945 kamen die Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem damaligen Osten Deutschlands in einem zerbombten West- und Mitteldeutschland an.
Kaum eine Großstadt, in der noch ein Stein auf dem anderen stand. Flüchtlinge wurden in Notunterkünften wie Schulen, Kasernen und Lagerhallen untergebracht, die hoffnungslos überfüllt und in schlechtem Zustand waren. Beengte Verhältnisse, nicht genug zu essen, keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung.
Die feindliche Stimmung, die den Vertriebenen und Flüchtlingen von den eigenen Landsleuten entgegenschlug, ist in vielen Zeitzeugenberichten dokumentiert. Willkommenskultur in der Gesellschaft – das Wort gab es noch nicht.
Die Infrastruktur war stark zerstört, es herrschte eine allgemeine wirtschaftliche und soziale Instabilität – nicht zuletzt durch die unvorstellbar hohe Arbeitslosigkeit und dem Mangel an Wohnraum.
Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, sagte in seiner Rede vor dem Parlamentarischen Rat am 8. September 1948: „Die Flüchtlingsfrage ist für uns eine der schwersten Aufgaben. [...] Die Bereitstellung von Arbeitsmöglichkeiten und Wohnungen ist unser erstes Ziel.“
Es war zu jener Zeit allenthalben überdeutlich: der Kampf um die durch den Krieg massiv dezimierten Ressourcen wäre auch ohne die 12 Millionen zusätzlichen Menschen schwer genug gewesen.
Es war eine politische Leistung sondergleichen, Unruhen und Revolten in der Bevölkerung zu vermeiden und den sozialen Frieden zu wahren. Und es gilt, stets daran zu erinnern, wie viel die Vertriebenen und Flüchtlinge selbst dazu beigetragen haben, dass dies gelang.
Gemeinsam aber nahm man diese Herkulesaufgabe der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung an – und bewältigte sie.
Noch Mitte der 50er-Jahre mahnte eine der bekanntesten Prominenten jener Zeit, Marlene Dietrich, die sich schon zu Nazi-Zeiten NIE von deren Lügenmärchen beeindrucken ließ, in einem Interview zu Menschlichkeit untereinander:
Sie sagte so treffend: „Man darf nie vergessen, dass all diese Menschen, die jetzt Flüchtlinge sind, gestern ganz normale Mitbürger waren, genauso wie wir.“
Wir, meine Damen und Herren, wollen niemals vergessen, dass jede Vertreibung, jede ethnische Säuberung – gleichgültig wo, wann und warum – immer Verbrechen sind. Sie zerstören Existenzen und schädigen ganze Gesellschaften.
Ich danke Ihnen, dass wir gemeinsam diese Gedenkstunde begehen konnten.