Ansprache zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 22. August 2009 im ICC Berlin

Es gilt das gesprochene Wort.

Anrede und Begrüßung,

wir befinden uns in einem historischen Gedenkjahr: Es sind 20 Jahre seit dem Mauerfall vergangen, unser Staatswesen ist 60 Jahre alt geworden, 70 Jahre ist der Beginn des 2. Weltkrieges her und vor 90 Jahren wurde der Versailler Vertrag nach Ende des 1. Weltkrieges unterzeichnet.

60 erfolgreiche Jahre der Bundesrepublik Deutschland sind untrennbar verknüpft mit dem Gewaltverzicht und dem Aufbauwillen der deutschen Heimatvertriebenen. Trotz der Entwurzelung, trotz der Traumata, trotz der Verzweiflung und trotz der Ablehnung, die ihnen von Seiten der Nichtvertriebenen landauf landab entgegenschlug, haben sich die Vertriebenen nicht als Sprengstoff unserer Gesellschaft und unseres Staates verstanden oder missbrauchen lassen, sondern sie waren die Hefe des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders und unserer Gesellschaft. Sie gestalteten dieses Land von Anbeginn auch politisch mit. Männer wie Paul Löbe, Erich Mende oder Hans-Christoph Seebohm gehörten zusammen mit anderen Vertriebenen bereits dem ersten Deutschen Bundestag an.

Die demokratischen Parteien der Bundesrepublik unterstützten über viele Jahre einmütig die Vertriebenen und taten vieles, um das angespannte Miteinander von Einheimischen und Hinzugekommenen zu entkrampfen und die ärgste wirtschaftliche Not zu lindern.

Es war auf allen politischen Ebenen der Wille vorhanden, das Schicksal der Vertriebenen als gesamtdeutsches Schicksal zu sehen.

Noch 1963 erhielten die Schlesier zu einem ihrer großen Deutschlandtreffen ein Grußtelegramm, in dem es hieß:

„Verzicht ist Verrat, wer wollte das bestreiten. Das Recht auf Heimat kann man nicht verhökern – niemals darf hinter dem Rücken der aus ihrer Heimat vertriebenen oder geflüchteten Landsleute Schindluder getrieben werden. Das Kreuz der Vertreibung muss das ganze Volk mittragen helfen.“

Diese Worte an die Schlesier trugen die Unterschriften der Sozialdemokraten Erich Ollenhauer, Willy Brandt und Herbert Wehner. Solche Aussagen muss man kennen, um manches an Reaktionen Vertriebener in späteren Jahren nachvollziehen zu können.

Zum Ende der 60er Jahre wandelte sich das Klima. Die Vokabel „Revanchismus“, ein Schlagwort kommunistischer Desinformation bezogen auf die Bundesrepublik und die Vertriebenen, fand ihren festen Platz auch in der innerdeutschen Diskussion.

Die neue Ostpolitik nach dem Regierungsantritt Willy Brandts löste Turbulenzen aus, die sich mit der Unterzeichnung der Ostverträge noch verschärften. Die Enttäuschung der Vertriebenen war elementar.

Vor dem Hintergrund vieler Solidaritätserklärungen in Oppositionszeiten der SPD wurde seine Regierungspolitik als Verrat empfunden.  Das damalige Verhältnis des BdV zu den beiden regierenden Parteien SPD und FDP ab 1970 ist mit „frostig“ untertrieben charakterisiert.

Umso enger war der Schulterschluss mit den Unionsparteien, die sich sehr bemühten, auf die Vertriebenen und den BdV einzugehen. Völlig spannungsfrei war das Verhältnis allerdings auch nicht. Die politischen Interessen liefen aber über weite Strecken synchron. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum  Moskauer, Prager und Warschauer Vertrag unterstützten zudem sowohl die Haltung des BdV als auch der Unionsparteien. Und sie legte denjenigen aus den Reihen der Union Zügel an, die mit der Ostpolitik Willy Brandts liebäugelten.

Das mediale und intellektuelle Klima in Deutschland aber stand schon lange gegen die Vertriebenen. Häme und Bösartigkeit gegenüber landsmannschaftlichen Treffen, Mitleidlosigkeit gegenüber den Opfern waren nicht Ausnahme sondern Regel.

Es entschwand in den postsiebziger Jahren nicht wenigen Intellektuellen, dass die Vertreibung von 15 Millionen Menschen aus der Heimat oder in den Tod eine gesamtdeutsche Tragödie, ja ein Bruch von ungeheurer kultureller und historischer Dimension für das ganze deutsche Volk war. Das wunderbare Buch von Rüdiger Safranski über die „Deutsche Romantik“ zeigt deutlich auf, wie unauslöschbar verwurzelt unser Geistesleben mit dem früheren deutschen Osten ist.

Unsere Schicksalsgefährten in der sowjetischen Besatzungszone, in der DDR hatten es wesentlich schwerer als die im Westen Deutschlands. Ihr Schicksal war über Jahrzehnte tabuisiert. Sie durften sich weder organisieren noch über ihr Schicksal sprechen. Über mehr als 40 Jahre waren sie in doppelter Hinsicht Opfer – erst Vertriebene, dann zum Schweigen Verdammte.

Ich weiß aus unserer Familie, wovon ich rede. Meine Tanten Martha und Maria und auch mein Onkel Ernst mit Familie wurden 1946 in Viehwaggons aus Schlesien vertrieben, wo die Familien über Jahrhunderte ihre Heimat hatten. Die einen aus Neurode, die anderen aus Glatz. Sie landeten in Leipzig. Was ihnen vor und bei der Vertreibung widerfuhr, darüber durften sie öffentlich nicht sprechen und auch nicht in Briefen an uns im Westen schreiben.

So war das Jahr 1990 eine zweifache Befreiung: Politische Freiheit und die Erlösung, endlich  traumatische Erinnerungen artikulieren zu dürfen, sich zusammenschließen zu können. Einen schönen emotionalen Ausdruck der 1989 neu gefundenen Freiheit hören sie heute durch die vereinten Chöre des BdV in Thüringen. Den BdV gibt es seit der Wiedervereinigung sehr lebendig in allen neuen Bundesländern.

Gemeinsam haben wir im Jahr 2000 die Stiftung ZgV gegründet. Die Skepsis, ob unsere Stiftung auch nur ansatzweise ihre Ziele erreichen könnte, war nicht nur außerhalb des BdV, sondern zu Beginn auch innerhalb deutlich zu spüren. Heute  kann ich mit Genugtuung feststellen, dass wir viel erreicht haben.

Unsere Stiftung hat eine sehr lebhafte, auch kontroverse Debatte entfacht. Sie war fruchtbar. Hunderte von Medienberichten machen das deutlich. Im Internet gibt es aktuell rund 50.000 Beiträge dazu. Es lässt sich bei der Auswertung der Medienberichterstattung deutlich verfolgen, dass seit diesem Zeitpunkt ein lebhaftes Interesse für unser Schicksal erwacht ist, nicht erst mit Günter Grass’s Novelle „Im Krebsgang“. Die erschien erst, als das Thema Vertreibung vom falschen Ruch des Revanchismus längst befreit war.

Nahezu 500 Gemeinden in Deutschland sind mit 5 Cent/ Einwohner Pate unserer Stiftung geworden. Auch die Bundesländer Hessen, Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen sind inzwischen Paten.

Renommierte Persönlichkeiten haben sich ostentativ an unsere Seite gestellt,  von Joachim Gauck, Helga Hirsch, Freya Klier, György Konrad, Imre Kertesz, Peter Scholl-Latour bis zu Christian Thielemann, Gabriele Wohmann, Rüdiger Safranski, Hellmut Karasek, Harald Schmidt oder Udo Lattek.

Ich danke allen Unterstützern der letzten Jahre. Insbesondere aber meinem langjährigen Mitvorsitzenden Peter Glotz, der leider viel zu früh verstorben ist. Unser gemeinsames Anliegen, eine Dokumentationsstätte für das Schicksal und Kulturerbe der deutschen Vertriebenen in Berlin zu errichten, haben wir erreicht.

  Und eines ist gewiss: Ohne unsere Stiftung hätte die Bundesregierung mit Sicherheit keine Koalitionsvereinbarung geschlossen, in der sie sich verpflichtet hat, ein „sichtbares Zeichen zu Flucht und Vertreibung in Berlin“ zu errichten. Es ist eine längst überfällige Aufgabe Deutschlands, endlich eine Dokumentationsstätte in Berlin zu schaffen, in der das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen und Aussiedler mit ihrer Siedlungs- und Kulturgeschichte den nachfolgenden Generationen vermittelt wird. Von diesem Schicksal ist nahezu jede vierte Familie in Deutschland betroffen.

Sie, Frau Bundeskanzlerin haben sich früh an unsere Seite gestellt und deutlich gemacht, dass dieser Teil unserer Geschichte einen festen Platz in Berlin braucht. Bereits vor vier Jahren haben Sie sich am Tag der Heimat dafür ausgesprochen. Mit der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ haben Sie Ihr Versprechen gehalten. Der Weg dahin war spannend, niemals langweilig und streckenweise auch extrem stürmisch. Aber, erst ein kräftiger Wind lässt einen schönen Drachen aufsteigen.

Trotz noch bestehender Defizite im öffentlichen Bewusstsein stelle ich fest: Das gesellschaftspolitische Klima hat sich in den letzten Jahren geöffnet. Es gibt heute deutlich mehr Verständnis für dieses deutsche Schicksalsthema als noch wenige Jahre zuvor.

Wer aber glaubt, die Vertreibung der Deutschen in der Mitte des 20. Jahrhunderts sei allein eine Sache der davon persönlich Betroffenen, der irrt fundamental und der ignoriert zweierlei:

1.       Er übersieht, dass eben nicht die Kategorien persönlicher Schuld oder Unschuld, sondern allein die geographische Lage des Wohnortes entschied, wer vertrieben wurde.

2.       Er übersieht zudem, dass mit der Vertreibung ein kultureller Umbruch bislang ungeahnter Dimension eintrat, der den Kern unserer deutschen Kultur dauerhaft tief berührt.

Darum geht es alle in Deutschland an, denn es ist ein Teil unserer gesamtdeutschen Identität und unseres kulturellen Erbes, das uns prägt. Ein Volk ohne Erinnerung ist wie eine Pflanze ohne Wurzeln.

Es ist gut und bedeutungsvoll, dass die Stiftung im 60. Jahr unseres Staates ihre Arbeit begonnen hat. Und es ist tröstlich für die Erlebnisgeneration. Wir unterstützen diese Stiftung voll und ganz. Denn sie ist ja unser Kind. Wir werden sie wachsam und sorgsam begleiten.

Ich begrüße nachdrücklich, dass CDU/CSU in ihrem gemeinsamen Wahlprogramm nochmals deutlich gemacht haben, dass die Verbände der deutschen Heimatvertriebenen über ihre Vertretung im Rat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ selbst entscheiden  können.  Das entspricht Ihren Aussagen, Frau Bundeskanzlerin, anlässlich des Jahresempfangs des BdV und den Aussagen von  Ministerpräsident Horst Seehofer, dem Vorsitzenden der CSU.

Eines sage ich in aller Deutlichkeit: Es geht dabei nicht um mich. Es geht um die Freiheitsrechte dieses Staates. Es geht um das Freiheitsrecht unseres Opferverbandes in dieser Demokratie, seine Rechte uneingeschränkt wahrzunehmen. Das lassen wir uns nicht nehmen.

Ich möchte das öffentliche Aufheulen aller Parteien hören, wenn eine solche Einschränkung einer Kirche, einer Gewerkschaft oder Amnesty International zugemutet werden würde. Die Aussagen aller anderen Parteien zu diesem Freiheitsrecht bei den ihnen vorgelegten Wahlprüfsteinen sind sybillinisch bis unverfroren.

Im übrigen stelle ich fest, dass CDU und CSU als einzige Parteien in der Frage der Bezeichnung von Geburtsorten und Geburtsland für Personenstandsurkunden in ihrem Wahlprogramm deutlich gemacht haben, dass sie das Völkerrecht und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes künftig zugrunde legen wollen.

Ein 1946 geborener Königsberger ist weder nach dem Völkerrecht noch nach dem Potsdamer Protokoll in Kaliningrad, Sowjetunion, geboren, sondern in Deutschland unter sowjetischer Verwaltung.

Mancher glaubt jetzt, dass mit dem für unsere Stiftung insgesamt erfolgreich vorangetriebenen Projekt eines Dokumentationszentrums in Berlin unsere Aufgabe abgeschlossen sei. Allen, die das hoffen, oder fürchten, kann ich vermelden: Wir werden weiter eigene Projekte wie Ausstellungen und Denkanstöße der Öffentlichkeit vorstellen. Wir werden weiter treibende Kraft bleiben!

  Unserem Schicksal ging Grauenhaftes voraus. Die schrecklichen Bilder aus den befreiten KZs beschämten die meisten Deutschen zutiefst – natürlich auch die Vertriebenen. Hitler hatte die Büchse der Pandora geöffnet. Das wissen die deutschen Vertriebenen elementarer als andere, da sie in Kollektivhaftung dafür genommen wurden. Vom Säugling bis zur Großmutter.

Die Tatsache der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft über Europa wird aber immer wieder als Stopschild missbraucht, um diese Massenvertreibung zu rechtfertigen. Kaltherzig wird ausgeblendet, dass Münchner, Hamburger oder Leipziger nicht vertrieben wurden, selbst wenn sie fanatische Nationalsozialisten waren.

Der historische Kontext ist wichtig und er ist nicht eindimensional. Er beginnt weder 1933 noch 1938 oder 1939. Peter Glotz setzt den Beginn seines Buches über das Schicksal der Sudetendeutschen in die Mitte des 19. Jahrhunderts und begründete: „Ich beginne 1848. Man darf die frühnationalistischen Oberlehrer und Journalisten nicht aus der Verantwortung entlassen... Wer wirklich gegen Vertreibungen (und zwar zukünftige) kämpfen will, muss die ganze Kette der Ursachen beleuchten.“

Peter Glotz hat Recht. Beim Slawenkongress 1848 in Prag war das Wetterleuchten des Nationalismus und Rassismus unheilvoll sichtbar.

Das setzte sich fort mit der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem 1. Weltkrieg. Die Folgen der Verträge von Versailles, St. Germain und Trianon mit den willkürlich neu gezogenen Grenzen in Europa waren für Millionen Menschen unterschiedlicher Volkszugehörigkeit gravierend. Sie gerieten in eine Minderheitensituation ohne ausreichenden Schutz vor Repressionen.

Die postulierten Minderheitenrechte wurden weitgehend unterlaufen. Davon zeugen die Archive des Völkerbundes in Genf. Der US-Publizist Herold Callender berichtete am 11. Januar 1931 in der New York Times, dass seit dem Friedensvertrag „eine Million Deutsche aus Polen vertrieben wurden.“

Der historische Verlauf ist weiträumig und sehr komplex. Er taugt allemal nicht dazu, die Vertreibungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu entschuldigen. Wer ihn unterschlägt, begeht nicht mehr oder weniger als Geschichtsverfälschung durch Verschweigen.

Die deutschen Vertriebenen haben aus eigener Kraft den breiten Strom traumatischer Erinnerungen früh kanalisiert. Mit der Charta von Stuttgart haben sie im  August 1950 deutlich gemacht, dass Rache und Gewalt für sie keine Wege in die Zukunft sind. Sie haben früh erkannt, dass dauerhafter Frieden nur in einem geeinten Europa, in dem die Völker miteinander und nicht gegeneinander wirken, zu finden sein wird.

Unser Land und auch Europa sähe anders aus, wenn es diese Selbstüberwindung, denn eine solche war die Charta der deutschen Heimatvertriebenen, nicht gegeben hätte.

Die Völker Europas leben gemeinsam auf dem Fundament des christlichen Abendlandes. In Baukunst, Musik, Dichtung, Wissenschaft und Forschung gab es über die Jahrhunderte hinweg ein beständiges zumeist friedliches Geben und Nehmen. Dieser Austausch war und ist bereichernd und fruchtbar.

In diesem positiven Bewusstsein dürfen wir aber auch nicht ausblenden, was es an Menschenunwürdigem, an Unchristlichem in unserer gemeinsamen Vergangenheit gegeben hat.

Wir müssen uns unserer europäischen Vergangenheit in all ihren Facetten gemeinsam stellen und in voller Kenntnis und Versöhnungsbereitschaft unsere europäische Zukunft daraus gestalten. Das fällt niemandem leicht. Aber daran führt kein Weg vorbei.

Ich glaube an ein versöhntes Europa, in dem die Völker ohne Zwang und Furcht voreinander leben können. Millionen Heimatvertriebene tragen dazu bei. Tagtäglich.

Die Brücken zwischen unseren europäischen Völkern werden umso tragfähiger sein, je offener wir den Dialog führen. Wir brauchen das Miteinander und wollen das Gegeneinander der Völker überwinden. Dazu muss es gemeinsames Anliegen sein, den Schutt der Geschichte beiseite zu räumen und aus ihren Trümmern Neues zu bauen. Aber kennen muss man die Geschichte und jeder hat auch zu den je eigenen Schattenseiten zu stehen.

Ich bin bei allen Defiziten, die es immer noch gibt, von einem zutiefst überzeugt: Die Menschen unseres Kontinents verbindet unendlich mehr als sie voneinander trennt. Als Geigerin im Sinfonieorchester meines Mannes habe ich jahrelang erlebt, dass Deutsche und Ungarn, Polen, Tschechen und Engländer, Spanier und Franzosen gemeinsam die großen musikalischen Werke von Beethoven über Brahms, Dvořak, Smetana, Chopin oder Bruckner zum Erklingen gebracht haben.

So wünsche ich mir Europa!

Daran aber müssen wir gemeinsam arbeiten.