„Vor 70 Jahren, in einer Zeit großer sozialer und wirtschaftlicher Not, haben wir deutsche Vertriebene und Flüchtlinge mit unseren Verbänden die Charta der deutschen Heimatvertriebenen verfasst und verkündet.“ So beginnt die Deklaration, die das Präsidium des Bundes der Vertriebenen anlässlich des 70. Jubiläums der Charta verabschiedet hat.
Diese Deklaration bringt die Weitsicht des am 5. August 1950 in Stuttgart-Bad Cannstatt unterzeichneten Dokumentes ebenso wie noch heute offene Anliegen auf den Punkt. Verzicht auf Rache und Vergeltung, Selbstverpflichtung zur Eingliederung und zum Wiederaufbau, Recht auf die Heimat und Einsatz gegen Vertreibungen weltweit sowie „eine der ersten modernen Visionen eines freien, geeinten und friedlichen Europas“: Das sind die Werte, die einflossen in den ersten Tag der Heimat, der mit der Charta-Verkündung am 6. August 1950 vor den Ruinen des Stuttgarter Neuen Schlosses eingeläutet wurde – in einer Zeit, als Landsmannschaften und Landesverbände der Vertriebenen einander oft noch in Konkurrenz begegneten und der BdV als gemeinsamer Dachverband noch sieben Jahre von seiner Gründung entfernt war.
Geplante „Hommage“ an das „Grundgesetz“ der Vertriebenen
Das diesjährige Jubiläum hätte zu einer besonderen Hommage an dieses „Grundgesetz“ der deutschen Heimatvertriebenen und an eine der größten und erfolgreichsten jährlich stattfindenden Veranstaltungsreihen – den Tag der Heimat – werden sollen. Wie 1950 sollte die Charta gemeinsam mit dem Tag der Heimat gefeiert werden. Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble und Bundesinnenminister Horst Seehofer sowie die baden-württembergische Ministerin für Kultus, Jugend und Sport, Dr. Susanne Eisenmann, hatten neben den BdV-Repräsentanten Dr. Bernd Fabritius – für den Bundesverband – und Iris Ripsam – für den Landesverband – ihr Kommen zugesagt. Das BdV-Präsidium, viele Vorsitzende der Landesverbände und Landsmannschaften sowie deutsche wie internationale Partner aus Politik und Kultur hatten den Termin fest im Kalender.
Doch dann machte die Corona-Pandemie sämtlichen Planungen einen Strich durch die Rechnung. Entsprechend der Einschränkungen des öffentlichen Lebens und mit Rücksicht auf die von einem Ansteckungsrisiko besonders betroffenen Gruppen musste die im Weißen Saal des Neuen Schlosses geplante Veranstaltung abgesagt werden. Alles Trachten war nun darauf ausgerichtet, das Charta-Jubiläum und den Startschuss zum Tag der Heimat dennoch angemessen, risikoarm und zumindest medial weithin sichtbar zu begehen.
Feierliche Kranzniederlegung in Bad Cannstatt
Eine feierliche Kranzniederlegung am Denkmal der Charta der deutschen Heimatvertriebenen im Kurpark von Bad Cannstatt – von großem Medieninteresse begleitet und filmisch dokumentiert – war die Lösung. Unweit des Kursaals, wo die Vertreter der Landsmannschaften und Landesverbände auf den Tag genau sieben Jahrzehnte zuvor getagt hatten, ließen also am 5. August 2020 die höchsten Staatsämter, die Ministerpräsidenten der Länder und einige Bundesparteien sowie der Bund der Vertriebenen und viele Mitgliedsverbände Kränze zum Gedenken an dieses wichtige Ereignis sowie an die Opfer von Flucht und Vertreibung niederlegen. Worte der Würdigung fanden – in dieser Reihenfolge – die BdV-Landesvorsitzende Iris Ripsam, Kultusministerin Dr. Susanne Eisenmann und BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius. Mit Franz Longin, dem Sprecher der Südmährer, und Reinfried Vogler, dem Präsidenten der Sudetendeutschen Bundesversammlung und Vorsitzenden der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, waren mindestens zwei Zeitzeugen der Charta-Verkündung anwesend.
Iris Ripsam erinnerte an die gewaltigen Bevölkerungs- und auch demokratischen Mehrheitsverschiebungen, die es durch Flucht und Vertreibung auch in Baden-Württemberg nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben hatte. Für die Gründung des Bundeslandes 1952 etwa seien die Stimmen der Vertriebenen entscheidend gewesen. Gleichzeitig zeichnete Ripsam ein Bild von der materiellen Not, die damals geherrscht hatte, und verdeutlichte diese an einer Familienerinnerung: So habe ihre aus dem Sudetenland vertriebene Mutter auf der Suche nach Nahrung an einer Haustür geklopft, und eine junge Mutter habe ihr jeweils ein paar Löffel Suppe aus den bereits auf dem Tisch stehenden Tellern der Familie abgeschöpft. „Meine Mutter hat dies in ihrem Leben nie wieder vergessen“, so die BdV-Landesvorsitzende. Diese Not sowie die noch frischen Erinnerungen an Krieg und Vertreibung müssten bei der Bewertung der Charta immer mitgedacht werden.
Kultusministerin Eisenmann knüpfte inhaltlich an diese Aussagen an. Nach dem von deutschem Boden ausgegangenen Zweiten Weltkrieg sei das Leid der Vertriebenen enorm gewesen. „Unrecht kann auch nicht durch Worte oder durch bloße rhetorische Betroffenheit wiedergutgemacht werden. Und vor diesem Hintergrund ist der Schritt zu Versöhnung in Europa ein großer gewesen – ein so großer, dass er bis heute intensiv nachwirkt“, betonte die Ministerin, würdigte gleichzeitig die Wiederaufbauleistung der deutschen Heimatvertriebenen und dankte für den jahrzehntelangen, erfolgreichen Einsatz im Sinne der Charta.
Sie erinnerte überdies daran, dass sich das Dokument auch auf die baden-württembergische Landesverfassung ausgewirkt habe. Dort bekennt sich das Volk Baden-Württembergs „zu dem unveräußerlichen Menschenrecht auf Heimat“. Aufbauend darauf sei das Recht auf Heimat „hierzulande gelebte Wirklichkeit“ geworden, erklärte Dr. Eisenmann und verwies auf die kulturelle Vielfalt, den wirtschaftlichen Erfolg und die demokratische Stabilität des Bundeslandes im Herzen Europas, woran auch die Vertriebenen einen wichtigen Anteil hätten.
In einer thematisch zweigeteilten Ansprache gedachte BdV-Präsident Fabritius zunächst der Opfer von Flucht und Vertreibung. Das Schicksal der rund 15 Millionen vertriebenen Deutschen, von denen mehr als zwei Millionen ums Leben gekommen oder vermisst geblieben seien, bleibe eine fortwährende Mahnung, „die Zukunft vor einer Wiederholung der grausamen Ereignisse der Vergangenheit mit klugem und weitsichtigen Handeln“ zu schützen. Mit dem Ziel einer möglichst empathischen Erinnerungskultur und vor dem Hintergrund weniger werdender Zeitzeugen werde es immer wichtiger, individuelles Leid aus diesem Massenschicksal herauszulösen und sichtbar zu machen, so der BdV-Präsident.
Im Folgenden ging auch er auf die Entstehungsbedingungen der Charta und die Aktualität ihrer Inhalte ein, setzte aber mit der Gefahr der politischen Instrumentalisierung von Flüchtlingsströmen einen anderen Akzent. So sei es insbesondere das Ziel des sowjetischen Diktators Josef Stalin gewesen, dass die deutschen Heimatvertriebenen eine destabilisierende Wirkung entfalten mögen. Derartige Strategien seien auch heute noch zu beobachten, betonte Fabritius mit einem Blick auf die Lage an der griechisch-türkischen Grenze im Frühjahr 2020. Mit der Charta von 1950 sei jedoch ein friedensstiftendes Zeichen der Verständigungsbereitschaft ausgesandt worden, aus dem den Vertriebenen und ihren Nachkommen als Schicksalsgemeinschaft „auf alle Zeit“ Verantwortung erwächst.
Begleitende YouTube-Ausstrahlungen und Grußworte
Im Vorfeld zur Kranzniederlegung fand auf dem YouTube-Kanal des BdV die Premiere des Jubiläumsfilms „70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ statt. Eindringlich werden darin die historischen Bedingungen der Charta-Entstehung charakterisiert und mit aktuellen politischen Stimmen zur Würdigung der Charta und ihrer Werte unterlegt. Unter anderem Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble sowie die Ministerpräsidenten Armin Laschet und Stephan Weil kommen darin zu Wort.
Der Bundestagspräsident hatte eine eigene Videogrußbotschaft übersandt, die ebenfalls kurz vor der Kranzniederlegung über YouTube ausgestrahlt wurde. Auch Schäuble nimmt Bezug auf die Situation der Vertriebenen und erklärt: „Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die historische Bedeutung der Charta ermessen. Sie gilt zu Recht als einer der Grundsteine unserer Demokratie – ein wegweisendes Zeugnis menschlicher Größe, christlicher Humanität und politischer Weitsicht. (…) Ohne den Versöhnungsgedanken der Charta und den immensen Beitrag der Heimatvertriebenen zum wirtschaftlichen und kulturellen Wiederaufbau unseres Landes wären weder die deutsche Einheit noch die europäische Einigung möglich gewesen.“
Weitere Grußbotschaften via YouTube kamen etwa vom Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten (AGDM) in der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN), Bernard Gaida, und dem Vorsitzenden der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS), Markus Ferber MdEP. Gaida erinnerte an das Schicksal der oft als Minderheiten in der Heimat verbliebenen Deutschen und mahnte u.a. „Früher habe ich zwischen Heimatvertriebenen und Heimatverbliebenen unterschieden, um zu zeigen, dass wir Teil jenes Volkes sind, das durch den schrecklichen Krieg und seine Folgen zerrissen wurde. Es ist wichtig zu erkennen, dass sowohl die einen als auch die anderen Heimatverlorene sind.“ Ferber wiederum bezeichnete die Charta als eines „der großen historischen Beispiele dafür, dass Menschen fähig sind, einander zu verzeihen und gemeinsam einen Anlauf für eine bessere Welt zu machen“.
Diese Video-Grüße ergänzen die Fülle an schriftlichen Grußworten, von denen die überwiegende Zahl bereits im DOD – Deutscher Ostdienst 3/2020 dokumentiert wurde. Hinzu kam ein besonders herzlicher Beitrag vom Komitee der Nordprovinzen Koreas und dessen Vorsitzendem Dr. Yeom, Seung Wha. Darin kennzeichnete er die Schicksalsverwandtschaft der aus den heute in Nordkorea liegenden Provinzen vertriebenen Koreaner mit den deutschen Heimatvertriebenen, insbesondere im Hinblick auf den Wiederaufbau nach Krieg und Zerstörung: „Dies ähnelt sehr Ihrer eigenen Geschichte, mit der Sie einen entscheidenden Beitrag zum Wirtschaftswunder, zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur demokratischen und friedlichen europäischen Gemeinschaft geleistet haben. Sie und wir haben gleichermaßen Geschichte geschrieben“, so der Komitee-Vorsitzende.
Austausch über die Vertriebenen- und Aussiedlerpolitik in Baden-Württemberg
Die Veranstaltung in Stuttgart abschließend, fand nach der Kranzniederlegung ein konstruktiver Austausch zwischen dem BdV-Präsidium, Ministerin Eisenmann und der BdV-Landesvorsitzenden Ripsam statt. Darin wurden viele Bereiche der Vertriebenen- und Aussiedlerpolitik in Baden-Württemberg angesprochen. Gelobt wurde seitens des Präsidiums etwa der Einsatz des Landesbeauftragten für Vertriebene und Spätaussiedler, Innenminister Thomas Strobl, die Förderung der im Land ansässigen Institutionen und Organisationen sowie die Einbeziehung des Themas Flucht und Vertreibung in den Schulunterricht. Insbesondere für den letzten Punkt ging ein Dank an die Kultusministerin, die sich ausdrücklich für den Erhalt dieser Kenntnisse und Erinnerungen stark mache. Gerade auch dieses Wissen, so die einhellige Meinung, sei für ein umfassendes Verständnis der deutschen Geschichte und Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt unbedingt notwendig.
Marc-P. Halatsch