Erinnerung nicht einfach „wegstreichen“

CDU-Chef Friedrich Merz kritisiert Regierung und dankt den Vertriebenen

Der Jahresempfang 2024 des Bundes der Vertriebenen (BdV) fand am 9. April in Berlin statt. Im Kalender des Bundes der Vertriebenen nimmt diese Veranstaltung bereits seit vielen Jahren einen festen Platz ein. Nicht nur als „kleine Bühne“ des Verbandes, wie Präsident Dr. Bernd Fabritius in Abgrenzung zur „großen Bühne“ des Tages der Heimat schmunzelnd anmerkte, sondern auch als wichtige Gelegenheit des Austausches von Vertretern der Vertriebenen mit Politik, Kultur, Kirchen und Wissenschaft. 

Dass dem Hauptredner dabei besondere Aufmerksamkeit zukommt, ist seit den Tagen von Angela Merkel eine Selbstverständlichkeit. Sie besuchte die Veranstaltung als Oppositionsführerin und später als Bundeskanzlerin insgesamt 15 Mal. Im vergangenen Jahr folgte Bundeskanzler Olaf Scholz dem Beispiel seiner Vorgängerin, in diesem Jahr war es der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag und Vorsitzende der CDU Deutschlands, Friedrich Merz, der den Vertriebenen seine Aufwartung machte. 

Der CDU-Chef nutzte die Gelegenheit, an Leiden und Verluste der Vertriebenen, aber auch an den Mut der Aussiedler und Spätaussiedler zum Neubeginn zu erinnern. Zugleich dankte er für die Aufbauleistung: „Wir blicken in großer Dankbarkeit zurück auf die Aufbauleistungen, die Sie in Deutschland erbracht haben, geprägt von Ihrem festen Willen zur Versöhnung und zum friedlichen Miteinander.“  

Kein Thema für die Geschichtsbücher

Merz erinnerte an die Charta der deutschen Heimatvertriebenen und betonte in besonderer Weise ihre Aktualität. Deutlich hob er dabei Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine für die deutsche Minderheit sowohl in der Ukraine wie auch in Russland hervor. Hier sei durch die Vertriebenenverbände und die Minderheitenorganisationen in Polen, in Rumänien, in der Slowakei und in Ungarn in beispielhaft schneller Weise Hilfe organsiert worden. Er erinnerte aber auch an die etwa 100.000 Israelis, die aufgrund der Bedrohung durch Hamas und Hisbollah im Norden des Landes evakuiert worden seien und „innerhalb kürzester Zeit ihr Zuhause, ihre Gemeinschaften und ihre Lebensgrundlage“ verloren hätten. Auch im Gazastreifen machten viele Menschen die Erfahrung von Flucht und Vertreibung, wenn auch aus anderen Gründen. Diese Beispiele aus unserer Zeit erinnerten uns schmerzlich daran: „Flucht und Vertreibung sind – auch in Europa und in der europäischen Nachbarschaft – kein Thema für Geschichtsbücher.“

Ein weiteres Themenfeld widmete der CDU-Vorsitzende dem Bund der Vertriebenen. Merz dankte für die Versöhnungsarbeit, denn, „ohne Ihr Bemühen um Verständigung und Ausgleich, und ohne Ihren – ja, ich möchte es wirklich so ausdrücken – Großmut anzuerkennen, dass die alte Heimat mittlerweile auch Heimat für andere Menschen geworden ist, ohne diese Arbeit wäre die Versöhnung mit unseren östlichen Nachbarn nicht möglich gewesen.“  Und er fügte ein bewegendes persönliches Erlebnis an: „Als ich 1974 das erste Mal mit meinen Eltern in der alten Heimat meines Vaters war, in der Nähe von Breslau, war ein Schulfreund meines Vaters dabei, der auf einem kleinen Bauernhof in der Nähe von Breslau großgeworden ist. Er hatte mit der Familie, die dort in der Zwischenzeit wohnte, vorher Kontakt aufgenommen. Wir haben diese Familie besucht, mit einem Dolmetscher, weil sie Polnisch sprach. Und in dem Augenblick, wo der alte Schlüssel, den der Freund meines Vaters dabeihatte, noch in das Schloss des Hauses passte, und die Tür sich öffnen ließ mit diesem alten Schlüssel, war das Eis gebrochen mit der polnischen Familie, und es gab einen ausgesprochen angenehmen, auch getränkereichen Abend in diesem alten Haus der Familie.“ 

Tore nach Deutschland für Spätaussiedler müssen offen bleiben

Unter großem Beifall äußerte Friedrich Merz sich zu besonderen Anliegen der Spätaussiedler und forderte von der Bundesregierung, die Gesetzesänderung zur Aufnahmepraxis von Spätaussiedlern aus dem November 2023 endlich in eine Rechtsverordnung umzusetzen. 

Ausdrücklich betonte er, dass die Tore nach Deutschland für unsere Landsleute offenbleiben müssen. „Wir haben im November des letzten Jahres einen Kongress der Bundestagsfraktion dazu gemacht, das Motto lautete ‚Bleibt das Tor offen‘ – Fragezeichen. Ich habe gesagt ‚das Tor bleibt offen‘ – Ausrufezeichen! Und das möchte hier noch einmal wiederholen. Wir stehen dafür ein, auch weiterhin Spätaussiedler aufzunehmen.“  Auch die Härtefallregelung im Rentenbereich sprach Merz an und gestand ein, dass eine rentenrechtliche Gleichstellung ausstehe und versprach, das als Ansporn für die Zukunft zu verstehen: „Meine Fraktion und ich werden uns weiterhin dafür einsetzen, die Benachteiligungen der Aussiedler und Spätaussiedler bei den Renten zu beseitigen.“

Erinnerung nicht einfach „wegstreichen“

Er kritisierte, dass unter Staatsministerin Claudia Roth aus dem Namen des Oldenburger „Bundesinstituts für Geschichte und Kultur der Deutschen im östlichen Europa“ das Wort „der Deutschen“ gestrichen wurde. Dies sei ein deutliches Zeichen für die Missachtung der deutschen Geschichte und Kultur, das der Erinnerung und der Würdigung von Kultur und Geschichte der Deutschen im Osten Europas deutlich entgegenstehe. Diese Erinnerung dürfe nicht einfach weggestrichen werden. Positiv bewerte Merz die Veränderungen im Verhältnis zu den östlichen Nachbarn. Mit Donald Tusk hätten die Polen einen Ministerpräsidenten gewählt, der die Bedeutung der deutsch-polnischen Beziehungen erkannt habe. Der deutsch-polnische Freundschaftsvertrag müsse auf beiden Seiten der Grenze mit Leben erfüllt werden. Dazu gehöre auch, dass die Kürzungen beim muttersprachlichen Deutschunterricht für Angehörige der deutschen Minderheit zurückgenommen würden. 

Die Jahresempfänge des BdV seien – so hatte Merz seine Ansprache begonnen – „geprägt von Verständigung, Erinnerung, Wertschätzung und der Hoffnung auf eine gemeinsame europäische Zukunft in Freiheit und Frieden“. Er verband dies am Schluss seiner mit großem Beifall aufgenommenen Worte mit einem herzlichen Wort des Dankes für „ein Engagement, das im Zeichen der Völkerverständigung, der Freiheit, des Friedens steht und der Sicherheit, auf dem diesem Teil des Kontinents Europa, in dem wir das unglaubliche Glück haben, heute zu leben.“

Verlässliche Arbeit von Vertriebenen und Spätaussiedlern

In seinen Begrüßungsworten hatte BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius die Gelegenheit genutzt, Friedrich Merz, der im Kreise zahlreicher Abgeordneten des Deutschen Bundestages zum Jahresempfang gekommen war, die Arbeit und das Selbstverständnis des BdV vorzustellen.

Mit dem Statement „Es ist unser Verband!“ leitete Fabritius den Blick auf die verlässliche Arbeit, die Vertriebene und Spätaussiedler seit Jahrzehnten ehrenamtlich erbringen. Er betonte, dass der BdV über diese Arbeit hinaus sinnbildlich für einige Mosaiksteine gesamtdeutscher Geschichte gehöre. „Wir stehen für die deutschen Landsleute, die Flucht und Vertreibung erleiden mussten“, so Fabritius. „Wir tragen ihr Erbe weiter und kämpfen dafür, dass auch Kultur und Geschichte der Heimatvertriebenen den ihr zustehenden Platz im heutigen Deutschland einnehmen dürfen.“ Er mahnte ein „verantwortungsbewusstes Erinnern und Anerkennen von Flucht und Vertreibung als bittere Zeit mit bitteren Folgen“ an. Dies dürfe nicht „stillschweigend dem Zeitgeist selektiver historischer Wahrnehmung geopfert werden“.

Man stehe für die versöhnliche, ausgestreckte Hand in Richtung der damaligen Vertreiberstaaten, mit denen man heute in „bester Nachbarschaft unter dem europäischen Dach als Freunde vereint“ sei und mit deren Menschen man seit Jahrzehnten „haltbare Fäden der Freundschaft und der Verständigung“ geknüpft habe. Fabritius verband den Gedanken der Völkerverständigung mit ein paar Überlegungen zum Thema Heimat. Diese sei etwas ganz Besonderes, sie sei nicht ausgrenzend, sie sei schützenswert. Der Appell schloss den Kreis: „Deswegen rufen wir als BdV dazu auf, Vertreibungen weltweit zu ächten – und möglichst strafbewehrt zu verbieten.“

Verschlechterte kulturpolitische Rahmenbedingungen

Die Beschäftigung mit der Kulturarbeit der Vertriebenenverbände nahm einen breiten Raum ein. Fabritius zeigte sich äußerst besorgt über die derzeitigen kulturpolitischen Rahmenbedingungen, die sowohl die kulturelle Basisarbeit erschwerten und auf ein Minimum reduzierten als auch die bundesweiten, großen Initiativen ausbremsten. „Das kulturelle Erbe der deutschen Vertriebenen und den Heimatverbliebenen, von denen ich spreche, ist Teil des gesamtdeutschen Kulturguts“, stellte er unmissverständlich klar. Es müsse „Schluss sein mit einer Politik der Kulturförderung, die unsensibel, unhistorisch und oft ideologisch agiert“. Er erwarte „eine Zusage nachhaltiger Unterstützung auch der Kulturarbeit auf sämtlichen Ebenen“.

Am Beispiel der Kulturstiftung der Vertriebenen zeigte er auf, wie drastisch sich schlechte Förderpolitik auswirken kann. Eine Einstellung der Förderung zum Ende des laufenden Jahres ordnete Fabritius ein als „Schlag ins Gesicht der kulturellen und wissenschaftlichen Eigeninitiativen, die von uns selbst und im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben geleistet werden“. Es sei eine existenzielle Frage, da die Schließung der Stiftung drohe. Fabritius appellierte an die Unionsfraktion, „sich mit dem ganzen Gewicht Ihrer Fraktion gegen die Einstellung dieser Förderung durch den Bund“ zu stellen.

Ebenfalls deutliche Kritik äußerte er zum Entwurf des neuen „Rahmenkonzeptes Erinnerungskultur“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Man müsse „dafür kämpfen, dass unsere Geschichte, unsere kollektive Biografie, und unser kollektives Vermächtnis seinen Platz in unserer und in der europäischen Erinnerungskultur behält und nicht in eine neuzeitliche und ideologisch bereinigte, ‚von Mobilität und Migration geprägte Einwanderungsgesellschaft‘ assimiliert“ werde. Da gehörten Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg samt aller Begleitaspekte nicht hinein.

Deutschland laufe grundsätzlich Gefahr, „seine Geschichte höchst schlagseitig zu definieren“ und entblättere sich „dabei jeder Glaubwürdigkeit“. Auch in diesem Jahr nahm Fabritius sich die Zeit, aus den Reihen der Gäste zahlreiche Persönlichkeiten namentlich zu begrüßen. „Unser Jahresempfang dient ganz zuerst der Begegnung und dem Austausch“, stellte er gleich zu Beginn fest – sodass die Begrüßung vielen Teilnehmern auch dafür diente, bekannte Namen den zugehörigen Gesichtern zuzuordnen.

Zahlreiche Gäste aus der Politik… 

Bei der starken Delegation der CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten, darunter die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Dorothee Bär (CSU) und Andrea Lindholz (CDU) sowie der Vorsitzende der  Gruppe der Vertriebenen, Aussiedler und deutschen Minderheiten Christoph de Vries, die Fabritius alle namentlich begrüßte, ergänzte er unter Applaus, dass Heimatvertriebene für die Union „schon nach ihrem Grundsatzprogramm ein selbstverständlicher Teil der deutschen Geschichte und Gegenwart und unserer politischen Landschaft“ seien. Ausdrücklich dankte er den Abgeordneten für die beständige Verbundenheit zum BdV und seinen Gliederungen sowie den Heimatverbliebenen in den östlichen Nachbarländern. Fabritius sprach auch von der hohen „Sensibilität in Bezug auf die massiven Probleme unserer russlanddeutschen Landsleute aus allen Staaten der ehemaligen Sowjetunion“, die sich bei der Union immer wieder zeige. „Gleiches gilt für alle unterstützten Maßnahmen zur Bekämpfung der personenkreisspezifischen Altersarmut der Aussiedler und Spätaussiedler, die durch rechtliche Benachteiligungen in der Vergangenheit entstanden sind“, so Fabritius weiter. Der BdV setze sich nach wie vor dafür ein, „diese zutiefst ungerechten Benachteiligungen von Aussiedlern und Spätaussiedlern im Rentenrecht durch lange überfällige Anpassungen des Fremdrentengesetzes zu beseitigen und damit Altersarmut zu verhindern“. 

Die Abgeordneten der SPD und der FDP aus Bundestag und Landesparlamenten begrüßte Fabritius ebenfalls namentlich. Er bedauerte, keine Vertreter der Bündnisgrünen unter den Teilnehmern zu sehen. Man suche als Verband „stets den Dialog mit allen demokratischen Parteien“, da man den überparteilichen Auftrag ernst nehme. Fabritius stellte jedoch klar, dass die Parteien des linken und des rechten Randes „zumindest in ihrer jetzigen Ausprägung für uns nicht dialogfähig“ seien, da man keine inhaltlichen Schnittmengen erkennen könne.

Die Landesbeauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler begrüßte Fabritius mit großer Freude. Der BdV bemüht sich seit vielen Jahren darauf hinzuwirken, dass dieses Amt in allen 16 Bundesländern geschaffen werde. Namentlich erwähnte er die anwesenden Beauftragten Andreas Hofmeister MdL (Hessen), Heiko Hendriks (Nordrhein-Westfalen) sowie Walter Gauks (Berlin).

… des diplomatischen Corps, der Kultur und des Verbandes 

Aus den Reihen des Diplomatischen Corps waren Botschafter und Diplomaten ebenfalls in großer Zahl anwesend, so der Apostolische Nuntius in Deutschland, Erzbischof Dr. Nikola Eterović, sowie die Botschafter unserer östlichen „Nachbarländer“ Rumänien, Ungarn und der Slowakei.

Neben den Vertretern der Kirchen und Glaubensgemeinschaften, der Nichtregierungsorganisationen und Verbände, der Stiftungen und Museen, Gesellschaften und Opferverbänden begrüßte Fabritius die beiden Vorsitzenden der BdV-nahen Stiftungen Zentrum gegen Vertreibungen, Dr. Christean Wagner, sowie der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen für Wissenschaft und Forschung, Dr. Ernst Gierlich.

Umfassend stellte Fabritius vor allem die Vertreter der Mitgliedsverbände – Landsmannschaften und BdV-Landesverbände – in begrüßender Form vor, um anschließend die Vertreter und Vertreterinnen der deutschen Minderheiten und Volksgruppen aus den Heimatgebieten zu würdigen; darunter den Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten in der FUEN, Bernard Gaida, sowie den Vorsitzenden des Rates der Deutschen in der Ukraine, Wolodymyr Leysle, und die Vorsitzende der Deutschen Jugend in der Ukraine, Diana Liebert. Letzteren versicherte er angesichts des weiter tobenden Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine die uneingeschränkte Solidarität des BdV. 

Wie immer bot der Jahresempfang die willkommene Gelegenheit zum zwanglosen Meinungsaustausch zwischen Politik, Diplomatie, Kirchen, Wissenschaft, Kultur und Verbänden. Und wie schon so häufig bot die Katholische Akademie auch in diesem Jahr den angemessenen Rahmen, um Kontakte zu knüpfen oder zu erneuern. 

MP/RZ

Herzliche Begrüßung beim BdV-Jahresempfang 2024: Präsident Dr. Bernd Fabritius und Fraktionsvorsitzender Friedrich Merz (Foto: BdV/bundesfoto).
Viele Ehrengäste beim Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen 2024 (Foto: BdV/bundesfoto).
Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag und Vorsitzender der CDU Deutschlands, spricht beim BdV-Jahresempfang 2024 (Foto: BdV/bundesfoto).
BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius spricht beim BdV-Jahresempfang 2024 (Foto: BdV/bundesfoto).