„Flucht ist ein Kernthema der Menschheit“

Gedenkstunde für die Opfer von Flucht und Vertreibung in Berlin

„Flucht ist leider ein Kernthema der Menschheit. (…) Vertreibung, ethnische Säuberung, Deportation: Sie waren immer eine Waffe, die durch Staaten eingesetzt oder billigend von ihnen in Kauf genommen wurden.“ In schmerzhafter Deutlichkeit leitete die Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, Klara Geywitz, ihre Ansprache bei der Gedenkstunde am nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2022 ein. Geywitz vertrat die seitens der Bundesregierung eigentlich zuständige Bundesministerin des Innern und für Heimat, Nancy Faeser, die wegen des G7-Gipfels auf Schloss Elmau unabkömmlich war.

In ihrer Rede schlug Geywitz einen Bogen von der Vertreibung der Deutschen gegen Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu Russlands Krieg gegen die Ukraine, wodurch heute rund acht Millionen Ukrainer auf der Flucht sind. „Das Gedenken ist eine wichtige staatliche Aufgabe“, erklärte die Bundesbauministerin, doch funktioniere dies nur Hand in Hand mit zivilgesellschaftlichem Engagement, weshalb gerade an diesem Gedenktag die Arbeit des Bundes der Vertriebenen ausdrücklich zu würdigen sei. 

Immerhin seien „bis zu 14 Millionen Deutsche auch Opfer von Flucht und Vertreibung geworden“. Auch ihre eigene Familiengeschichte sei von diesem Schicksal geprägt. Ihre Mutter, laut Geburtsurkunde nur „Anni, Findelkind“, habe in den Wirren der letzten Kriegstage ihre Eltern verloren – und sei dann wiederum von deutschen Flüchtlingen aufgenommen und adoptiert worden, die ihrerseits gerade alles verloren hatten.

Flüchtlinge seien heute in Europa wieder so sichtbar wie am Ende des Zweiten Weltkrieges. Weltweit seien gar mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht. Daher erinnere gerade in diesem Jahr „dieser Tag daran, wie wichtig es ist, sich stets für Frieden und Versöhnung einsetzen“, bekräftigte Geywitz.

„Leben außerhalb der Heimat ist Existenz“ – Bewegende Zeitzeugenberichte

„Flüchten zu müssen, vertrieben worden zu sein – das sind Erfahrungen, die sehr persönlich sind“, so die Bundesbauministerin. Daher dankte sie den beiden Zeitzeuginnen, Helgard Rohrmoser und Diana Liebert, dafür, stellvertretend für ihre Generationen über ihre Erlebnisse zu sprechen. Die Zeitzeugenberichte selbst stellten auf unterschiedliche Art das Thema Heimat in den Fokus. 

Helgard Rohrmoser, 1938 in Königsberg geboren, schilderte lange verdrängte Erinnerungen von der Flucht ihrer Familie aus Ostpreußen. Sie ging auf ihre Heimatsuche nach der Ankunft im Nachkriegsdeutschland ein, die viele Stationen hatte, auch weil sie wegen der materiellen Not oft allein bei Verwandten untergebracht wurde. Ihre Heimatsehnsucht fand mit einem Besuch in Königsberg vor etwa zehn Jahren ihr Ende. Eine Zufallsbegegnung führte sie mit einer Mutter und einem Kind zusammen, das etwa so alt war wie sie bei der Vertreibung. Selbst zu sehen, dass dort heute wieder Menschen aufwachsen, habe sie damals versöhnt, sagte Rohrmoser.

Diana Liebert wiederum – eine junge ethnische Deutsche aus Lemberg und Vorsitzende der deutschen Jugendorganisation in der Ukraine – berichtete emotional von der Flucht mit ihrer Tochter nach Deutschland. Der Verlust geliebter Menschen und der Heimat sei ein „unerträglicher Schmerz“ und nicht in Worte zu fassen. Sie fühle sich wie ein entwurzelter Baum. „Leben außerhalb der Heimat ist Existenz“, so Liebert. Sie zeigte sich überzeugt, dass die Ukraine den Krieg gewinnen werde, befürchtete jedoch einen hohen Preis für den Sieg. Gewalt und Kriegsverbrechen des russischen Militärs säumten den Kampf um die Unabhängigkeit, der auch ein „Kampf für die europäische Zivilisation“ sei. „Ich wünsche Ihnen allen Frieden und dass Sie nie die Möglichkeit verlieren, in Ihrer Heimat zu leben“, betonte Liebert abschließend.

„Heimat ist eine Einladung an alle, die Heimat suchen“

Der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Dr. Bernd Fabritius, zeigte sich in seinem Schlusswort erschüttert darüber, dass mehr als sieben Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa gezielt wieder Heimat zerstört werde. Gerade die aktuellen Zeitzeugenberichte seien ein Weckruf dafür, dass erneut Menschen vor einem Krieg flüchten, dass sie die Heimat aufgeben und mit dem Kind an der Hand ihr Heil nur außerhalb ihres Landes suchen können. Bemerkenswert sei die Heimatsehnsucht und der starke Wunsch nach Rückkehr, mit der die hier angekommenen Flüchtlinge auf die Ukraine blicken. Auch hierin zeige sich eine Parallele zu den deutschen Heimatvertriebenen. Eine überzeugendere Bestätigung für die existenzielle Rolle von Heimat sei nicht vorstellbar – „und für uns Heimatvertriebene auch nicht nötig. Heimat ist für jede Gemeinschaft die Luft zum Atmen. Heimat ist nie ausgrenzend, sondern eine Einladung an alle, die Heimat suchen“, so der BdV-Präsident eindringlich. 

Daher gelte es ganz besonders, der Heimatsehnsucht der ukrainischen Flüchtlinge Zukunftsaussichten zu bieten. Für sie dürfe sich „nicht wiederholen, was die Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg erleben mussten“. Die langjährige Forderung des Bundes der Vertriebenen nach einem international verankerten und strafbewehrten Vertreibungsverbot sowie nach einem menschenrechtlich bindenden Recht auf die Heimat müsse endlich aufgegriffen und umgesetzt werden.

(PM)