„Flucht und Vertreibung sind Menschheitsthemen“

Gedenkstunde für die Opfer von Flucht und Vertreibung in Berlin

Vor zehn Jahren hat die Bundesregierung die Einführung eines nationalen Gedenktages für die Opfer von Flucht und Vertreibung beschlossen, der seit 2015 jeweils am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag des UNHCR, begangen wird. Hatten die deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge bereits in ihrer Charta von 1950 darauf hingewiesen, dass Flucht und Vertreibung „ein Weltproblem“ sind, dem nur in internationaler Anstrengung begegnet werden könne, ist dies in der vergangenen Dekade noch deutlicher hervorgetreten: Von 51,9 Millionen haben sich die weltweiten Flüchtlingszahlen in dieser Zeit laut aktueller Statistiken des UNHCR auf 117,3 Millionen mehr als verdoppelt. 

Das Gedenken am 20. Juni in Deutschland richtet sich zunächst an die eigenen rund 15 Millionen Opfer von Flucht und Vertreibung, die im von Nazideutschland verbrochenen Zweiten Weltkrieg und nach dessen Ende ihr Zuhause, ihre Heimat und vielfach ihr Leben verloren haben. Schicksal, Ankunft und Aufnahme der rund zwölf Millionen Angekommenen – „Binnenflüchtlinge“ in heutiger Nomenklatur – haben beide deutsche Nachkriegsgesellschaften maßgeblich geprägt. Davon ausgehend erinnert die Bundesregierung an diesem Tag aber auch daran, dass die Bundesrepublik heute Zielort für Flüchtlinge aus vielen fremden Ländern ist und macht deren Schicksal öffentlich sichtbarer.

Paus: "Hinter jeder Flucht steht eine persönliche Geschichte"

Die von der Bundesregierung jährlich zentral in Berlin gestaltete Gedenkstunde, die zum zweiten Mal in Folge im Konzerthaus am Gendarmenmarkt stattfand, wurde in diesem Jahr von der Bundesministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, Lisa Paus MdB, eröffnet. Die Ministerin verwies darauf, dass Flucht und Vertreibung Menschheitsthemen seien. Dabei rief sie zunächst die Geschichte der deutschen Vertriebenen in Erinnerung, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, und gedachte dabei auch der „rund zwei Millionen Opfer“, die dies nicht überlebten. Im Folgenden zog sie vorsichtige Parallelen zur heutigen Zeit und erklärte: „Hinter jeder Flucht steht eine persönliche Geschichte und mitunter viel Leid. Nicht immer werden Geflüchtete jedoch mit offenen Armen empfangen.“ Die Integrationsarbeit, die gerade auch der Bund der Vertriebenen ehrenamtlich leiste, sei daher umso verdienstvoller.

Vojáčková-Sollorano: Mit dem Blick auf die Vergangenheit den Blick auf die Gegenwart schärfen

Die stellvertretende Generaldirektorin der Internationalen Organisation für Migration der Vereinten Nationen, Irena Vojáčková-Sollorano, knüpfte an die Begrüßungsworte von Lisa Paus an, indem sie betonte, dass das Gedenken an Flucht und Vertreibung in der Vergangenheit den Blick auf die Gegenwart schärfe. Dabei stellte sie persönliche Bezüge her, zumal sie selbst als tschechisches Flüchtlingskind nach Deutschland gekommen sei und ihr bei der Ankunft und in der Eingliederung gerade deutsche Vertriebene zur Seite gestanden hätten.

Podium: Flucht und Vertreibung damals und heute

In einem Podiumsgespräch mit Betroffenen unter der Leitung des zuständigen Abteilungsleiters im Bundesministerium des Innern und für Heimat, Jörn Thießen, wurden die Erfahrungen aus Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Verbindung gebracht. Dabei machte der 1941 im nordböhmischen Neustadt an der Tafelfichte (tschechisch Nové Město pod Smrkem) geborene Oswald Wöhl anhand seiner Familiengeschichte erfahrbar, wie schlimm die Entwurzelung aus der Heimat seine Familie getroffen hatte. Bis ins 16. Jahrhundert, kurz nach der Stadtgründung, hätten sich seine Vorfahren in Neustadt zurückverfolgen lassen. Diese Geschichte sei mit der Vertreibung vorbei gewesen. Anschaulich schilderte Wöhl weiter, welchen Diskriminierungen die Deutschen vonseiten der Tschechoslowakei, aber auch nach der Ankunft in der Sowjetischen Besatzungszone, im heutigen Mecklenburg-Vorpommern, ausgesetzt gewesen waren. Trotzdem habe er bald schon Brücken der Verständigung zu den neuen Bewohnern Neustadts gebaut, deren Resultat bis heute andauernde Familienfreundschaften seien.

Mohammed Rabbie, ein syrischer Flüchtling, wiederum berichtete davon, wie er 2015 aus Furcht vor dem sogenannten Islamischen Staat nach Deutschland gekommen sei, hier die Freiheit und die Vorzüge der Demokratie schätzen und lieben gelernt habe und unterdessen freiberuflich als Journalist arbeite. Als er erklärte, seit Kurzem die deutsche Staatsbürgerschaft zu besitzen, ergriff Oswald Wöhl spontan seine Hand und bescherte der Veranstaltung damit einen besonders bewegenden Moment.

Fabritius: Krieg, Vertreibungen und ethnische Säuberungen sind immer Verbrechen

In guter Tradition sprach der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Dr. Bernd Fabritius, das Schlusswort der Gedenkstunde und wies zunächst darauf hin, dass vor 80 Jahren der Krieg zwar noch nicht vorbei war, die Flucht der Deutschen insbesondere aus dem Donauraum aber bereits begonnen hatte. Ebenfalls vor fast 80 Jahren habe sich das Massaker von Nemmersdorf in Ostpreußen ereignet, das in der Folge sowohl von der nationalsozialistischen als auch der sowjetischen Propaganda instrumentalisiert und missbraucht worden sei. Parallelen zur heutigen Zeit mit den „Lügengeschichten aus Putins Propagandamaschine“ seien unverkennbar. Nach wie vor würden die Legenden um das an sich schon furchtbare Massaker ein würdiges Gedenken an die Opfer behindern, die noch in der Heimat von „der Rache der Sieger“ erreicht worden seien. Auch sie seien selbstverständlich Opfer von Flucht und Vertreibung, derer man daher an diesem Tag gedenken wolle.

Im Weiteren stellte Fabritius die Verbindung des nationalen Gedenktages mit dem Weltflüchtlingstag heraus, indem er daran erinnerte, dass bei der Gründung des UNHCR und der Verabschiedung der Genfer Konvention auch das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen eine wichtige Rolle gespielt hatte. Zum Abschluss mahnte er: „Gerade wir, meine Damen und Herren, wissen und wollen niemals vergessen, dass jeder Krieg, jede Vertreibung, jede ethnische Säuberung – gleichgültig wo, wann und mit welcher Begründung – immer Verbrechen sind.“

Geschmackvoll musikalisch begleitet wurde die Gedenkstunde von Stipendiaten der Stiftung Kurt-Sanderling-Akademie des Konzerthausorchesters Berlin, die Werke des ukrainischen Komponisten Jefim Golyscheff und des in Preßburg geborenen Ernst von Dohnányi darboten. Eingespielte Interviews aus dem Zeitzeugenportal des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland rundeten die Veranstaltung ab.

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius bei seinem Schlusswort (Foto: BdV).
Bundesfamilienministerin Lisa Paus MdB bei ihrer Begrüßungsrede (Foto: BdV).
Stellvertretende IOM-Generaldirektorin Irena Vojáčková-Sollorano (Foto: BdV).