Zwei große Neuerungen brachte der dritte bundesweite Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibungen am 20. Juni 2017: Zum einen fand im Vorfeld der Gedenkstunde, zu der das Bundesministerium des Innern (BMI) erneut in den Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums eingeladen hatte, im BMI ein Zeitzeugengespräch statt. Einige deutsche und polnische Schüler nutzten dabei die Gelegenheit, drei deutsche Zeitzeugen direkt zu ihren Erfahrungen von Flucht und Vertreibung im und nach dem Zweiten Weltkrieg zu befragen. Zum anderen hielt im Schlüterhof zum ersten Mal ein ausländischer Würdenträger die Gedenkansprache. Der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis war gekommen und berichtete von der Geschichte Rumäniens im Hinblick auf Vertreibung, Deportation und Unterdrückung der dortigen deutschen Volksgruppen wie den Siebenbürger Sachsen oder den Banater Schwaben. Er ging aber auch auf die Herausforderungen der heutigen Zeit ein, denen sich nicht allein Rumänien oder Deutschland, sondern Europa als Ganzes zu stellen hätte. Für die musikalische Gestaltung konnte in diesem Jahr das Orchesterprojekt „Bridges – Musik verbindet“ gewonnen werden, eine interkulturelle Musikinitiative aus Frankfurt am Main.
Eröffnet wurde die Gedenkstunde vom Gastgeber, Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière MdB. Ausgehend vom bewegenden Beispiel des rund 180 Jahre alten Gedichtes „Mondnacht“ des oberschlesischen Dichters Joseph Freiherr von Eichendorff wies der Minister auf Werke hin, die zum deutschen „identitätsstiftenden Kulturerbe“ gehören – deren Entstehungsorte heute jedoch nicht mehr in Deutschland liegen. Dieses Kulturerbe verlange daher geradezu eine aktive Auseinandersetzung mit der Geschichte und vergegenwärtige auch immer wieder Krieg und Vertreibung. Daneben sei „der persönliche und lebendige Austausch junger Menschen mit noch lebenden Zeitzeugen der beste Weg“, ein fortdauerndes und mahnendes Gedenken zu erreichen. Millionen Deutsche seien „in der Folge des Zweiten Weltkrieges“ geflohen oder vertrieben und von den Bewohnern ihrer Zufluchtsorte oft als Fremde behandelt worden. Zu unterschiedlich seien etwa „Mentalitäten, landsmannschaftliche Eigenheiten und christliche Konfessionsunterschiede“ gewesen. Heutige Flüchtlinge hätten häufig ähnliche Probleme: Die Ablehnung allein aufgrund ihrer Fremdheit treffe auch die wirklich Schutzbedürftigen unter ihnen. Dabei sei die Lehre aus der Vergangenheit doch, den Frieden weiterzugeben, in dem man lebe, so de Maizière.
Für ein geistliches Grußwort war Erzbischof Dietrich Brauer, Oberhaupt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, nach Berlin gekommen. Der Erzbischof bekannte, dass das Thema Vertreibung ihn spätestens seit Beginn seines Pastoraldienstes begleite. Die Salzburger Kirche in Gumbinnen (Gussew), wo er seine erste Pfarrstelle hatte, sei 1732 von Protestanten errichtet worden, die aus dem Fürsterzbistum Salzburg vertrieben worden waren. Das Altarbild zeige die Flüchtlinge von damals. Die auch gegen Kirche und Glauben gerichtete Oktoberrevolution vor 100 Jahren und die Verbannung und Zerstreuung der Russlanddeutschen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges sei prägend für viele Familienbiografien. Daher gelte es, das Vertrauen auf Gott zu richten und aus der Vergangenheit die richtigen Lehren zu ziehen.
Auch der Staatspräsident von Rumänien, Klaus Werner Johannis, beklagte in seiner eindrucksvollen Rede, dass die Stimme der Erinnerung „die Waffen in unserer Welt nicht immer zum Schweigen“ bringe. Trotz der Erfahrungen der Vergangenheit seien Flucht, Vertreibung und Leid bis heute weltweit zu beobachten. Der Blick auf den Zweiten Weltkrieg und seine Nachwirkungen zeige die 60 Millionen Todesopfer, darunter 40 Millionen Zivilisten. Er zeige aber auch die größten Vertreibungen der Geschichte: 30 Millionen Menschen seien damals deportiert oder vertrieben worden – darunter unzählige Deutsche. Allein aus Rumänien seien 70.000 Deutsche nach Russland deportiert worden. 10.000 Menschen hätten dies nicht überlebt. Viele Deutsche seien nach ihrer Rückkehr fremd in der eigenen Heimat und Gefangene totalitärer Regime geworden. Johannis erinnerte auch an die 200.000 Deutschen aus Rumänien, die von der Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren „freigekauft“ wurden. Rumänien stehe zu diesen unauslöschlichen Teilen seiner Geschichte. „Uns damit auseinanderzusetzen, wird dazu beitragen, eine bessere Wahrnehmung zu entwickeln, über wer wir sind und was wir in Zukunft zu tun haben“, so der Staatspräsident. Heute stehe sein Land für eine vorbildliche Minderheitenpolitik, in der auch die über 800-jährige deutsche Siedlungsgeschichte einen wichtigen Platz finde. Jede nationale Minderheit werde ermutigt, „ihre Identität zu bewahren und zu pflegen und eine aktive Rolle in der rumänischen Gesellschaft zu spielen“. Die Aufarbeitung des kommunistischen Unrechts habe nicht nur zu regelmäßigem Gedenken, sondern auch zu Restitutions- und Entschädigungsgesetzen geführt, mit der vergangenes Unrecht gelindert werden solle. Dieser Weg müsse konsequent weiter beschritten werden.
Aktuell sehe sich die internationale Gemeinschaft mit großen migrationsbedingten Herausforderungen konfrontiert. Für Europa gelte es, die Migrationsursachen vor Ort zu bekämpfen und als gemeinsame Wertegemeinschaft aufzutreten. Das Schicksal von Menschen, die aus Angst und Not ihre Heimat verlassen, dürfe Europa nicht egal sein. Gleichermaßen müsse wachsenden innereuropäischen Ängsten, etwa vor Terror oder Kulturfremdheit, ernsthaft begegnet werden. „Als Europäer dürfen wir nicht vergessen, dass das, was uns in Europa zusammengebracht hat, die Werte sind, die einige heute in Frage stellen“, mahnte Johannis und verwies auf Demokratie, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. „Dass wir alle heute hier sind, um der Opfer zu gedenken, zeigt, dass die Welt aus den Fehlern der Vergangenheit doch lernt“, schloss er am Ende seiner Rede die eingangs geöffnete Klammer.
Der syrische Arzt Dr. Ghifar Taher Agha berichtete von seiner Heimat und den Gründen seiner Flucht. Aus einem lebenswerten und kulturell reichen Land sei ein Ort geworden, in dem die Gewalt eskalierte und das Leben seiner Familie bedrohte. Zunächst sei er mit seiner schwangeren Frau und seiner eineinhalb Jahre alten Tochter in die Türkei geflüchtet. Not und Perspektivlosigkeit hätten ihn dazu bewogen, sich allein auf den Weg nach Deutschland zu machen, wo er im März 2015 angekommen sei. Aufnahme habe er im saarländischen Nohfelden gefunden, wohin ihm im April 2016 auch seine Familie habe folgen dürfen. Bestimmten Spracherwerb und eigenes soziales Engagement anfangs den Alltag, bemühte sich Agha bald schon erfolgreich um die Anerkennung seines Studiums und seines Berufes: Ab dem 1. Juli 2017 werde er als Arzt in der St.-Hedwig-Fachklinik in Illingen arbeiten. „Vielleicht ist Heimat gar nicht der Ort, an dem wir geboren wurden, sondern wo sich unser Herz zu Hause fühlt“, gab er am Schluss zu bedenken und dankte „für die Hilfe, für das Ankommen in Deutschland, für die Heimat“.
Das Schlusswort zur Gedenkstunde kam, fast schon in guter Tradition, dem Präsidenten des Bundes der Vertriebenen, Dr. Bernd Fabritius MdB, zu. Er erinnerte zunächst daran, dass jeder Mensch, der vertrieben oder gezwungen werde, seine Heimat zu verlassen, ein Opfer sei und „einen dramatischen Bruch in der eigenen Biografie“ erlebe. „Das war 1945 so und es gilt in Gegenwart und Zukunft“, betonte er.
Die immerwährende Verantwortung wegen der von Deutschen im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen schmälere nicht das Unrecht der Vertreibungen, so der BdV-Präsident. Umso wichtiger sei es, dass die deutschen Heimatvertriebenen mit ihrer zukunftsweisenden Charta schon 1950 „dem Teufelskreis aus Rache und Vergeltung“ eine Absage erteilt hätten. Eindringlich mahnte Fabritius, es gehöre „eben nicht zu den durch Kriegs- oder Völkerrecht gedeckten Privilegien siegreicher Mächte, das im Krieg besiegte Volk aus seiner jahrhundertealten Heimat zu vertreiben“, Flüchtlingstrecks zu bombardieren, Frauen zu vergewaltigen oder der Zivilbevölkerung eine Kollektivschuld an Krieg oder Kriegsverbrechen zuzuweisen. Gerade deswegen würde am Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung unter anderem daran erinnert, „dass es immer und überall, im und nach dem Krieg, auch gute Menschen gegeben hat, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um den Bedrängten zu helfen“.
Ähnliche Erkenntnisse hatten die deutschen und polnischen Schüler aus dem Zeitzeugengespräch am Vormittag im BMI mitgenommen. Gemeinsam mit Minister de Maizière und dem Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Hartmut Koschyk MdB, sprachen sie mit Dr. Edith Kiesewetter-Giese aus dem Sudetenland, Carola Maschke aus Ostpreußen und Gottlieb Krune aus der Autonomen Wolgarepublik, die auch in Abstimmung mit dem BdV-Zeitzeugenprogramm vermittelt worden waren. In dem offenen, von gegenseitigem Respekt und Interesse getragenen Gespräch nahmen die Schüler Anteil an den jeweils ganz individuellen Vertreibungsschicksalen und wurden auf die Traumata aufmerksam, die solche Erfahrungen erzeugen können. Deutlich wurde ebenfalls, dass alle drei – wie viele Betroffene – über ein wahrhaftiges Gedenken und den Kulturerhalt hinaus auch für Verständigung mit den heutigen Bewohnern ihrer Heimatgebiete eintreten und über ihre Schicksal sogar mit den Flüchtlingen unserer Tage sprechen. Befragt nach der Vergleichbarkeit von damals und heute erklärte der Bundesinnenminister, es gebe einige Parallelen. Doch es sei „natürlich ein Unterschied, ob ich aus Ostpreußen nach Köln komme oder ob ich aus Kabul nach Hannover komme“.
Marc-P. Halatsch