Sehr geehrte Frau Kultusministerin Dr. Eisenmann,
sehr geehrte, liebe Landesvorsitzende Ripsam,
liebe Landsleute,
meine Damen und Herren,
die Kranzniederlegung des Bundes der Vertriebenen hat Tradition: Jedes Jahr legen das Präsidium, die Mitgliederverbände und Repräsentanten staatlicher Institutionen im Anschluss an die zentrale Auftaktveranstaltung zum Tag der Heimat in Berlin am Mahnmal der deutschen Heimatvertriebenen, der „Ewigen Flamme“ am Theodor-Heuss-Platz, Kränze nieder.
In diesem Jahr ist vieles anders. Teils geplant, teils der Corona-Pandemie geschuldet.
Stuttgart, nicht Berlin, sollte 2020 zum geographischen Mittelpunkt der Vertriebenenarbeit werden: mit der Feier zum 70. Charta-Jubiläum und dem zentralen Auftakt zu unserem jährlichen Tag der Heimat.
So wie damals 1950, als der erste Tag der Heimat ebenfalls in Stuttgart stattfand.
Die Einschränkung des gesellschaftlichen Lebens gerade in diesem Jahr trifft uns deutsche Heimatvertriebene deswegen besonders hart. Unter diesen Umständen bin ich sehr dankbar und freue mich wirklich, dass wir zu einer stillen, andächtigen Gedenkstunde an diesem historischen Ort im Kurpark Bad Cannstatt zusammengekommen sind.
Wir wollen sowohl an „70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ erinnern, als auch durch Niederlegung der Kränze Anteilnahme und Andenken zeigen für die Millionen Menschen aus den historischen deutschen Ostgebieten sowie aus allen deutsch besiedelten Regionen in Ost-, Mittel- und Südosteuropa, die von Flucht und Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit betroffen waren.
Es ist uns, die wir im Bund der Vertriebenen vereint sind, wichtig, immer wieder daran zu erinnern, dass gegen Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg 15 Mio. Deutsche auf der Flucht waren oder vertrieben wurden. Über 2 Mio. von ihnen kamen ums Leben oder blieben bis heute vermisst. Sie wurden, auch in Folge der vorausgegangenen Verbrechen des Nazi-Regimes Opfer ihres Deutschseins in der eigenen Heimat. Opfer in einer Zeit, die von Racheakten, undifferenzierter Gewalt und dem Dogma der Kollektivschuld geprägt war.
Angesichts des 70. Charta-Jubiläums will ich daran erinnern, dass Flucht, Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit zwar Massenschicksale waren – dass dahinter aber millionenfaches, individuelles und tief empfundenes Leid und Unrecht stehen.
Über Jahrzehnte haben wir uns daher dafür eingesetzt, so viele dieser Einzelschicksale wie nur möglich in das öffentliche Bewusstsein zu holen.
Heute nun, da die Zeitzeugen von Flucht und Vertreibung immer weniger werden, droht die Gefahr, dass diese Schicksale in der Anonymität des generellen Opfergedenkens versinken. Es liegt, meine Damen und Herren, in unserer Verantwortung, ja, es ist uns ein Herzensanliegen, uns gegen diese Entwicklung zu stemmen: In stillem, aber öffentlichem Gedenken. Uns persönlich oder aus Erzählungen bekannte Einzelschicksale im Geist herauslösend, müssen wir mahnen und die Zukunft vor einer Wiederholung der grausamen Ereignisse der Vergangenheit mit klugem und weitsichtigen Handeln beschützen.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Landsleute, wir verknüpfen heute das Gedenken an die Opfer aus unseren Reihen mit einem Jubiläum, das zum Feiern einlädt: Es ist heute auf den Tag genau 70 Jahre her, dass diejenigen unter unseren Vorfahren, die Flucht und Vertreibung überlebt hatten, mit einem wahren Paukenschlag an die Öffentlichkeit traten und eine Charta vorlegten, die man 1950 zuallerletzt den Vertriebenen zugetraut hätte.
Es wäre alles denkbar gewesen – aber sicher nicht ein „Grundgesetz“ der zukünftigen Vertriebenenarbeit, ein Dokument der Versöhnungsbereitschaft und des Racheverzichts aus der Feder der Opfer, die erst kurz zuvor alles, die Heimat, verloren hatten. Hier gleich nebenan, im Kurhaus, wurde die Charta feierlich verlesen. Welche Stimmung, welche Erwartungen würden wir verspüren, hier an diesem Ort, wenn wir uns 70 Jahre in der Zeit zurückbewegen könnten?
Können wir heute die immense Tragweite der Charta und ihrer Proklamation vor 70 Jahren überhaupt noch nachvollziehen? Heute, wo es uns allen gut geht, wo wir genug zu essen haben, in festen Häusern wohnen, jederzeit gut informiert sind oder sein könnten, unsere Liebsten versorgt und in Sicherheit wissen?
Was bedeutete die Charta über 1950 und die Zeit danach für die Millionen Vertriebenen, die in Not und Elend lebten, deren Familien vermisst, dezimiert oder über ganz Deutschland verstreut waren, deren Sehnen und Streben vielfach der verlorenen Heimat galt?
Wie groß war damals die Gefahr, dass alles auch ganz anders hätte kommen können? Bedenken wir: Die Rahmenbedingungen für ein gutes Miteinander der Menschen in Deutschland waren denkbar ungünstig.
Liebe Landesvorsitzende Ripsam, Sie haben mit dem Beispiel Ihrer Mutter eines der sprechendsten Beispiele genannt. Nahrungsmangel, materielle Not, Arbeitslosigkeit, traumatische Erlebnisse und psychische Ausweglosigkeit bildeten ein bedrohliches Spannungspotenzial. Die Stimmung brodelte, die Lage war explosiv.
Die internationale Presse, meine Damen und Herren, bewertete die damalige Situation so, dass „Ruhe und Ordnung in den Reihen der Vertriebenen“ nur unter einer ganz dünnen Decke gewahrt blieben, die jederzeit brechen könne – mit verheerenden Auswirkungen für ganz Deutschland und für Europa.
Die Berichte der Besatzungsbehörden an ihre Regierungen warnten, die junge Bundesrepublik in dieser Sache nicht im Stich zu lassen, da sie sonst „ideologischer Hilfe“ durch die östlichen kommunistischen Regime anheimfallen würde. Welch euphemistische Umschreibung für Manipulation in ihrer gefährlichsten Erscheinungsform.
Und über allem wie ein sozialpolitisches Damoklesschwert die Millionen vertriebenen Menschen, deren weit überwiegende Mehrheit liebend gern sofort in die verlorene Heimat zurückgegangen wäre. Die Heimat im Osten verloren, im Westen nur geduldet, aber noch lange nicht „angekommen“, das Verbot der Selbstorganisation und Vernetzung untereinander noch frisch in Erinnerung – das, meine Damen und Herren, war die Lage 1950!
Zur Veranschaulichung möchte ich Sie bitten, sich kurz an die Eskalation an der griechisch-türkischen Grenze zu erinnern, wie wir sie im Frühjahr 2020 mit Entsetzen und einem ganz flauen Gefühl im Bauch verfolgen mussten: Es war ein Paradebeispiel dafür, wie leicht Flüchtlingsmassen politisch manipuliert und wie sie als Rammbock für mögliche politische Interessen eingesetzt werden können.
Und genau das – darauf lassen die historischen Dokumente schließen – war damals, 1950, insbesondere Stalins Ziel für die deutschen Heimatvertriebenen.
Arbeiten wir gemeinsam, meine Damen und Herren, dass derartige Ansätze auch heute und in Zukunft niemals fruchtbar werden.
Sehr geehrte Frau Ministerin, sehr geehrte Frau Landesvorsitzende, ich danke Ihnen im Namen des Bundes der Vertriebenen und des anwesenden Präsidiums für die Wertschätzung unserer Charta, die ich Ihren Ansprachen heute entnehmen durfte.
Sie haben zutreffend den visionären Weitblick gewürdigt, den die Väter und Mütter der Charta vor 70 Jahren bewiesen haben.
Ihre Ausführungen zu dem friedenstiftenden und versöhnlichen Ansatz, der diesem wahrlich europäischen Dokument innewohnt, fügen sich nahtlos in den Reigen prominenter Stimmen, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte hierzu geäußert haben – angefangen bei Konrad Adenauer über Franz Josef Strauß bis zur amtierenden Bundeskanzlerin und unserem Bundespräsidenten – ein.
Sie alle haben, und das möchte ich zum Schluss nun auch tun, nicht nur die Vergangenheit referiert, sondern immer auch auf die Verantwortung hingewiesen, die uns und den Nachkommen der Vertriebenen als Schicksalsgemeinschaft auf alle Zeit erwächst: Wir sind es, die heute und morgen aufzeigen und vorleben, wie man aus furchtbarem Leid und großer Not dennoch immer wieder Wege der Verständigung findet.
Wenn den Vertriebenen der ersten Stunde mit der Charta ein solch großer Wurf gelingen konnte, so ist das für uns Auftrag und Verpflichtung – und heute erst recht ein Leichtes – zu unseren östlichen Nachbarn Brücke und Verbindung zu sein.
Die Menschen von hüben und drüben sind diesen Schritt der Verständigung und Versöhnung schon längst gegangen! Damit sind sie auch Wegbereiter einer wahrhaftigen Erinnerungskultur, die auf manch nationalen Ebenen viel zu lange auf sich warten ließ und auch heute noch warten lässt.
Wir bleiben zuversichtlich, dass unsere ausgestreckte Hand immer wieder auch von den politisch Verantwortlichen und von den forschenden Historikern ergriffen wird. Auch dafür hat unsere Charta den Boden bereitet.
Ich danke im Namen des Bundes der Vertriebenen für die niedergelegten Kränze und für Ihre Teilnahme an der Gedenkstunde hier in Bad Cannstatt.
Ich danke der Regierung der Bundesrepublik Deutschland dafür, dass sie in Anerkennung für die Leistungen der deutschen Heimatvertriebenen durch ihre Charta, deren Proklamation sich heute zum 70. Mal jährt, aus Anlass dieses Jubiläums eine Beflaggung aller Bundesgebäude angeordnet hat.
Vielen Dank!