Interview zu polnischen Reparationsforderungen

Fabritius: „Es ist unsinnig, sie heute aufzustellen.“

Bernd Fabritius, Präsident des Bundes der Vertriebenen, hält die Reparationsforderungen der polnischen Regierung für gefährlich, und warnt vor Gegenrechnungen. Hierzu hat er mit der Deutschen Welle Polen ein Interview geführt, das wir im Folgenden mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Welle zusammenfassen.

Verglichen mit früheren Jahren, als Ihre Vorgängerin Erika Steinbach zeitweilig in Polen der Staatsfeindin Nummer eins war, ist es ruhig geworden um Ihren Verband. Ist das eine gutes oder ein schlechtes Zeichen? 

Das ist ein gutes Zeichen. Es ist nämlich nur insoweit ruhig geworden, als es keine provokanten, negativen oder missverständlichen Positionierungen unseres Verbandes gibt. Wir sind darüber hinaus allerdings sehr präsent und kritisieren gerade auch die aktuelle Lage in Polen ganz deutlich. Weil wir das aber sachlich tun und mit Argumenten, ist es nicht so leicht zu skandalisieren. Ich meine damit etwa die Verordnung des polnischen Bildungsministers Przemysław Czarnek aus dem Februar 2022, mit der einseitig die deutsche Minderheit diskriminiert wird. Wenn der muttersprachliche Unterricht der nationalen Minderheit auf eine Wochenstunde oder genauer gesagt auf 45 Minuten pro Woche reduziert wird, dann ist das ein Schleifen der kulturellen Identität, das absolut inakzeptabel und sowohl aus polnischer als auch aus europäischer Perspektive Unrecht ist. Und das äußern wir ganz deutlich. Es wird also nicht still um unseren Verband.

Sie haben gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland Anfang September die polnischen Reparationsforderung als „irrelevant“ abgelehnt. Haben Sie nicht doch auf der menschlichen Ebene Verständnis, dass sich Polen vielfach ungerecht behandelt fühlt, nicht ausreichend entschädigt worden zu sein für das große Leid unter deutscher Besatzung?

Ich habe viel Verständnis für das menschliche Leid der Polen im Zweiten Weltkrieg und auch, wenn das Land sich an dem einen oder anderen Punkt ungerecht behandelt fühlt. Nicht allerdings in der Reparationsfrage, weil hier keine ungerechte Behandlung stattgefunden hat. Zum einen gibt es Verträge, die diese Frage geklärt haben. Und zum anderen hat Polen mehr als 100.000 Quadratkilometer aus der Substanz Deutschlands bekommen, und zwar sehr werthaltige Regionen und Industriegüter. Wenn man das in irgendwelche Schadensbilanzen, die Polen jetzt ohne Not anstellt, einpreist, dann sähe die Rechnung wahrscheinlich ganz anders aus. Polen müsste dann auch berücksichtigen, dass über neun Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, die vielfach ihren gesamten, über Generationen aufgebauten Besitz zurücklassen mussten, von Grund und Boden über Privatvermögen bis hin zu Fabriken. Das ist alles in der Heimat verblieben, und das müsste Polen in eine solche Berechnung einbeziehen. Was keinesfalls geht, ist diese Gebietszugewinne von deutschen Territorien mit den Gebietsverlusten im Osten Polens gegenzurechnen. Die polnischen Ostgebiete gingen an die damalige Sowjetunion und liegen heute in Belarus, in der Ukraine und in Litauen. Damit hat Deutschland nichts zu tun. Hier höre ich nichts von polnischen Entschädigungsforderungen. Und dieses Schweigen spricht Bände für eine politische Instrumentalisierung des deutsch-polnischen Verhältnisses im Wahlkampf. Nach meiner tiefen Überzeugung passen solche Forderungen und Aufrechnungen nicht in das Bild und das Ziel unseres insgesamtfriedlichen und in Freiheit lebenden, modernen Europas. 

Von polnischer Seite wird das vielleicht so interpretiert, dass die Deutschen als Täter sich zu Opfern stilisieren wollen. Was sagen Sie dazu?

Das ist so absolut nicht richtig! So kann nur argumentieren, wer an eine Kollektivschuld glaubt. Als Jurist weiß ich aber, und das kann auch jeder vernünftige Mensch verstehen: Die Frage „Täter oder Opfer“ oder „Schuld oder Unschuld“ richtet sich nach dem jeweiligen Geschehen und ist immer individuell zu klären. Das nationalsozialistische Deutsche Reich hat gegenüber Polen immense Schuld auf sich geladen. Dazu und zu der aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Verantwortung bekennt sich Deutschland bis heute. Das ist richtig und wichtig für die Gestaltung unserer Zukunft in Europa. Aber selbstverständlich sind auch Deutsche zu Opfern geworden: Die Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung, aber auch deren Internierung, Zwangsarbeit und Gewaltverbrechen waren Unrecht. Betroffen waren überwiegend Frauen, Kinder und alte Männer, die sicherlich nicht im Krieg zu Tätern geworden sind. Und da hat auch Polen Schuld auf sich geladen. Es ist schade, dass die sogenannte Täter-Opfer-Rolle historisch immer dann instrumentalisiert wird, wenn es darum geht, dunkle Schatten der eigenen Geschichte nicht thematisieren zu wollen. Aber nochmal: In den mehr als sieben Jahrzehnten seit dem furchtbaren Krieg und den mehr als drei Jahrzehnten seit dem Fall des Eisernen Vorhangs haben wir gemeinsam ein insgesamt stabiles und partnerschaftliches Nachbarschaftsverhältnis in Europa aufgebaut. Das ist ein großes Glück. Reparationsforderungen sind verantwortungslos, weil sie Extremisten in die Hände spielen. Und wo Extremisten an die Macht kommen, kann letztlich die europäische Friedensordnung auf dem Spiel stehen. Russlands unseliger Angriffskrieg auf die Ukraine ist eine Folge extremistischen Nationalismus‘.  

Aber zu einem weiteren Aspekt des Themas Reparationen: Mich hat sehr gewundert, dass Staatssekretär Szymon Szynkowski vel Sęk als Vertreter der polnischen Regierung die verbindlichen Positionierungen Polens durch die Bierut-Regierung in Frage stellt.Die Bierut-Regierung war die erste nach dem Krieg. Sie hat sich acht Jahre nach Kriegsende für abgefunden erklärt, weil die Sowjetunion garantiert hatte, Polen aus ihrem Reparationsanteil zu entschädigen. Aus der sowjetischen Besatzungszone wurden rund 30 Prozent der industriellen und infrastrukturellen Kapazitäten abgebaut und in die Sowjetunion gebracht. Ganze Industriebereiche wurden abtransportiert. Dazu wurden allein bis 1953 jährlich mehr als 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der SBZ in die Sowjetunion transferiert. Aber hier geht es um das Grundsätzliche: Wenn die polnische Regierung heute sagt, dass die Bierut-Regierung nicht legitimiert war und ihre Entscheidungen in dem einen Bereich nicht gelten, so gelten sie doch auch in anderen Bereichen nicht. Und dann muss ich diese Frage auch zu den Bierut-Dekreten und zur Enteignung der Deutschen in Polen aufwerfen. Ist auch dies dann nicht mehr gültig? Polen müsste sich dann überlegen, ob es diese Enteignungen wieder rückgängig macht oder zumindest tut, was andere Staaten in Europa getan haben, zum Beispiel Rumänien.

Was konkret hat Rumänien hier bewirkt?

Rumänien hat die Enteignungen für Unrecht erklärt und ein Individualrecht geschaffen. Dort wo rumänische Familien im Eigentum enteigneter deutscher Familien gelebt haben, haben sie das natürlich behalten. Man hat sie nicht jetzt nachträglich nach Jahrzehnten wieder herausgeschmissen. Aber der rumänische Staat hat sich auf ein über mehrere Jahre gestaffeltes, symbolisches Entschädigungsrecht verständigt, das den Menschen erlaubt, sich mit der eigenen Biografie und mit diesem Unrechtsbruch zu versöhnen und die Vergangenheit in eine positive, freundschaftliche Bahn zu bringen. Rumänien hat vor zwei Jahren ein Gesetzespaket unter dem Arbeitstitel „Entschädigung für Kinder ohne Kindheit” ein Gesetzespaket auf den Weg gebracht. Bei der Verschleppung der Deutschen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion als „menschliche Kriegsreparationen“ wurden Kinder in den Dörfern zurückgelassen. Diese Kinder haben vier, fünf Jahre, so lange, wie ihre Eltern verschleppt worden waren, bei rumänischen Nachbarn, bei ungarischen Nachbarn, bei Sinti- und Roma-Familien gelebt, bis ihre Eltern wieder nach Hause kommen konnten. Rumänien sagt hier nicht: Die Schuld daran tragen die stalinistische Sowjetunion oder die Nazis. Das Land steht zu seiner Verantwortung und sagt: Diesen Kindern in Rumänien wurde die Kindheit zerstört. Dafür zahlt das Land jetzt jedem Kind eines Verschleppten eine Entschädigung, wodurch man die eigene Unrechtsposition anerkennt. Ich bin sicher, dass es auch im Bereich der Vertreibung der Deutschen aus Polen Millionen Kinder und Frauen gibt, deren Leben zerstört worden ist. Aber allein wenn Polen das Vertreibungsunrecht endlich anerkennen und nicht mehr von Täter-Opfer-Umkehr sprechen würde, wären wir ein gutes Stück weiter.

Wie hoch sind die Entschädigungen?

Jedes rumänische Kind, dessen Eltern verschleppt wurden, bekommt pro Jahr der Verschleppung monatlich Entschädigungsleistungen in Höhe von 700 rumänischen Lei. Das sind umgerechnet etwa 135 €. Wenn also ein Elternteil fünf Jahre in Russland verschleppt war, bekommt dieses Kind fünf mal 130 € monatlich, so lange es lebt. Auch nachgeborene Kinder, also solche, die nach Entlassung aus einer Verschleppung geboren worden sind, bekommen noch die Hälfte dieser Leistung als Entschädigung, also etwa 70 € monatlich oder bei fünf Jahren Verschleppung etwa 350 € jeden Monat. Das ist eine Anerkennungsleistung, die wirklich absolut ehrenwert, aber auch angemessen ist.

Manche Kreise in Polen lehnen die Einordnung der polnischen Gebietsgewinne im Westen als quasi Reparationsleistungen ab, weil es sich nicht um eine direkte Leistung Deutschlands handelte, sondern um eine Folge der Entscheidungen der Siegermächte. Was halten Sie davon?

Davon halte ich gar nichts, weil ja Polen eine Bilanz aufmacht und einen Schaden berechnen will. Polen kann nicht auf der einen Seite allgemein und pauschal im Krieg entstandene Schäden aufzählen und andererseits das, was Polen allerdings anschließend in einer Bereinigung erhalten hat, ausblenden.

Deuten Sie die polnischen Reparationsforderungen anders als noch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine?

Sie sind noch gefährlicher. Wir wissen nämlich alle, dass Zusammenhalt das Wichtigste in Krisenzeiten ist, daher wirken diese Reparationsforderungen auf mich heute noch viel befremdlicher.