Die „Magna Charta der Vertriebenen“, wie der erste Bundesvertriebenenminister Dr. Hans Lukaschek das Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz (BVFG) einst genannt hatte, stand im Fokus einer wissenschaftlichen Fachtagung, zu der die Deutsche Gesellschaft am 26. November in die Vertretung des Landes Sachsen-Anhalt beim Bund in Berlin eingeladen hatte. Der Bund der Vertriebenen unterstützte die Veranstaltungsorganisation. Mittels vier Themenblöcken mit ebenso vielen Podiumsdiskussionen, die jeweils von Impulsvorträgen eingeleitet wurden, griffen die Veranstalter verschiedene Aspekte des BVFG heraus und ließen ganz unterschiedliche Akteure darüber debattieren. Vonseiten des BdV waren etwa Präsident Dr. Bernd Fabritius, der ein Grußwort sprach und mitdiskutierte, sowie Vizepräsident Stephan Mayer MdB anwesend, der einen Impuls zur „Vertriebenenpolitik im Wandel: Auf dem Weg zur europäischen Verständigung“ hielt.
Hartmut Koschyk, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft und ehemaliger Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, begrüßte das zahlreich aus der Bundesrepublik angereiste Fachpublikum. Er wies auf die historische Dimension des 1953 verabschiedeten Gesetzes hin. Das BVFG habe einen der maßgeblichen formalen Rahmen für die Eingliederung der Vertriebenen geliefert. Die im § 96 deutlich werdende kulturelle Dimension wirke ins Heute und in Morgen fort. Daher sei es lobenswert und wichtig, dass die Bundesregierung in dem Bereich fördernd tätig sei und bleibe.
Daran knüpfte BdV-Präsident Fabritius in seinem Grußwort an und spannte einen Bogen von der unmittelbaren Nachkriegszeit und den Interessen der Vertriebenen damals bis hin zu den heutigen Anliegen der Aussiedler und Spätaussiedler sowie der Heimatverbliebenen im östlichen Europa und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. 65 Jahre BVFG, das bedeute auch „65 Jahre Solidarität mit den Menschen deutscher Volkszugehörigkeit, die ganz besonders unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges zu leiden hatten“, so Fabritius, der auch als Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten amtiert. Mit Blick auf die vom BdV vertretenen Gruppen sei erkennbar, dass diese Folgen bis heute nachwirkten.
Mit einem vielschichtigen Vortrag des Gründungsdirektors der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ (SFVV), Prof. Dr. Manfred Kittel, startete die Veranstaltung in den ersten Themenschwerpunkt „Der Umgang mit den Vertriebenen in der frühen Bundesrepublik“. Kittels vielleicht spannendste These dabei war, dass die „Atomisierung der Vertriebenen“ im Nachkriegsdeutschland – womit er sich auf die zerstreute Ansiedlung bezog – entscheidend dazu beigetragen habe, dass sich sowohl eine angemessene politische Vertretung als auch ein gemeinschaftlicher Kulturerhalt über die Jahrzehnte immer schwerer gestalten ließ. Diese These erörterte das Podium im Anschluss sehr intensiv. Unter Leitung des Journalisten Moritz Gathmann, der die gesamte Veranstaltung moderierte, diskutierten Professor Kittel, BdV-Präsident Fabritius sowie der stellvertretende Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Dr. Dr. Gerald Volkmer. Fabritius etwa bestätigte, dass die Beibehaltung der kulturellen Identität sich schwierig gestalte, wenn man nicht mehr gemeinschaftlich in der Kulturregion lebe, sondern verteilt in ganz Deutschland. Gleichzeitig gebe es jedoch einen „Wunsch nach Assimilierung“, der davon herrühre, nicht auffallen zu wollen. Volkmer begründete die „Zersiedelung“ auch mit der möglicherweise nicht unbegründeten Befürchtung, dass der Wunsch nach Wiedergutmachung oder Rückkehr in die Heimat bei gemeinsamer Ansiedlung vielleicht noch größer gewesen wäre – und zu Unfrieden geführt hätte. Kittel selbst konterte diese Überlegung mit dem Beispiel der finnischen Karelier, die nach der Teilung Kareliens gemeinsam in Finnland angesiedelt worden waren und heute mit ihrer Kultur zur Vielfalt der finnischen Gesamtkultur beitrügen und stabilisierend wirkten.
Mit dem Impuls vom Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Innern (BMI), Stephan Mayer, ging es in den zweiten Themenblock. Mayer charakterisierte die Verständigungsbereitschaft der Vertriebenen zunächst anhand von Zeugnissen der vertriebenen Ostpreußin Marion Gräfin Dönhoff. Deren Heimatliebe habe bis zu ihrem Tode nicht nachgelassen und dazu geführt, den Kontakt mit den neuen Bewohnern zu suchen und Verbindungen über Grenzen hinweg aufzubauen. Dann wies Mayer ebenfalls auf die Dualität der grenzüberschreitenden Beziehungen hin: Die oftmals noch in den Heimatgebieten als Minderheiten lebenden Deutschen als ein Pfeiler und die deutschen Heimatvertriebenen bzw. heute auch die Aussiedler und Spätaussiedler als anderer Pfeiler bildeten wichtige Brücken der Verständigung in Europa und darüber hinaus. In der Diskussion mit Hartmut Koschyk, dem Vorsitzenden des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen, Bernard Gaida, und einem der Initiatoren des Brünner Versöhnungsmarsches, Jaroslav Ostrčilík, wurde diese These vertieft besprochen und bestätigt.
In weiteren Podien ging es um „Die kulturelle Dimension des Bundesvertriebenengesetzes“ und um „Das Bundesvertriebenengesetz als Modell für die Regelung von Vertreibungsfolgen“. Es diskutierten zur Kultur der Geschäftsführer der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Dr. Ernst Gierlich, die zuständige Gruppenleiterin im Kulturstaatsministerium, Maria Bering, die SFVV-Direktorin Dr. Gundula Bavendamm sowie der Direktor des Deutschen Kulturforums östliches Europa, Dr. Harald Roth. Zur Modellhaftigkeit der deutschen Gesetzgebung sprachen der Vorsitzende der Europäischen Stabilitätsinitiative, Gerald Knaus, der Bundesvorsitzende der Gesellschaft für bedrohte Völker, Jan Diedrichsen, sowie der ehemalige BMI-Unterabteilungsleiter, Dr. Thomas Herzog.
M-PH
(Der Text ist redaktionell auf die Veröffentlichung im DOD 6/2018 zugeschnitten.)