Rede anlässlich des Festaktes 50 Jahre BdV am 22. Oktober 2007 im Kronprinzenpalais, Berlin

BdV-Präsidentin Erika Steinbach MdB

Der Bund der Vertriebenen (BdV) begeht heute seinen 50. Geburtstag. Ich freue mich, dass so viele Ehrengäste mit uns daran denken.

Es ist gut für Deutschland und es ehrt den Bund der Vertriebenen, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, heute die Festrede halten. Sie setzen damit ein weiteres Zeichen der Zuwendung zu einem gewichtigen Teil deutscher und europäischer Geschichte, Gegenwart und menschlicher Schicksale.

Geburtstagsfeiern sind in der Regel fröhliche Feste. Und fünfzigste Geburtstage allemal. Für einen Opferverband wie den BdV trifft das naturgemäß nicht zu. Der heutige Tag ist für uns eine Symbiose vieler Gefühle. Gleichzeitig ist er Anlass für eine realistische Bestandsaufnahme, ohne sich im eigenen Schicksal zu verlieren. Es ist erforderlich, jede noch so beklemmende Vergangenheit fruchtbar zu machen für Gegenwart und Zukunft.

Wobei nicht übersehen werden darf – das gebietet die Menschlichkeit –, dass nach wie vor für zahllose deutsche Heimatvertriebene der Erlebnisgeneration die dazu notwendige Vogelperspektive unerreichbar ist. Zu sehr haben traumatische Erlebnisse die seelischen Flügel beschnitten. Viele tragen bis heute an dieser Last, obwohl sie in wirtschaftlich stabilen Verhältnissen leben. Ihnen muss unser Mitgefühl gelten.

Bis zum Jahr 1950 fanden fast acht Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge in Westdeutschland Aufnahme. Vier Millionen kamen zunächst nach Mitteldeutschland. Ein erheblicher Teil von diesen wechselte bis zum Mauerbau 1961 und manche noch später in die Bundesrepublik Deutschland. Die Eingliederung so vieler seelisch und körperlich erschöpfter Menschen, die zudem völlig mittellos waren, schien in den ersten Jahren schier unmöglich.

Es schien kaum möglich, dass sich aus diesem Massenelend ein halbwegs funktionstüchtiges Miteinander zwischen Einheimischen und Heimatvertriebenen entwickeln konnte. Aber es gelang zum Erstaunen vieler sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR.

Die Eingliederung der aus dem historischen Ostdeutschland sowie aus ganz Mittel- und Osteuropa hierher verschlagenen Menschen ist gelungen und Teil der Nachkriegserfolgsgeschichte unseres Landes. Die Bedingungen dafür waren höchst unterschiedlich.

Unsere Schicksalsgefährten in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, hatten es wesentlich schwerer als die im Westen Deutschlands Gelandeten. Ihr Schicksal war über Jahrzehnte tabuisiert, als Gruppe durften sie sich weder organisieren noch artikulieren. Sie waren über mehr als 40 Jahre in doppelter Hinsicht Opfer des Zweiten Weltkrieges.

Zwar waren die Anfänge der Vertriebenenverbände im Westen Deutschlands zunächst durchaus auch nicht einfach. Unter dem alliierten Besatzungsregime unterlagen die Vertriebenen bis zum Ende der 40-er Jahre einem „Koalitionsverbot“. Sie durften sich in dieser Zeit offiziell auch nicht zusammenschließen, die Gründung von Vereinen oder gar Parteien mit heimatpolitischen Zielen war in den westlichen Besatzungszonen bis nahezu 1950 verboten. Gleichwohl fand man sich zusammen. Familien, ehemalige Kirchengemeinden, Dorfgemeinschaften suchten und fanden Kontakt zueinander – auch über große Entfernungen.

Die kirchlichen Suchdienste und das Deutsche Rote Kreuz haben vieltausendfach Hilfestellung gegeben und die Menschen zusammengeführt. Ich freue mich, dass der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Sie, lieber Herr Seiters, heute ein Grußwort überbringen.

Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland entwickelten sich zahlreiche Vertriebenenorganisationen mit einem häufig sehr vitalen Eigenleben. Das Miteinander war noch wenig ausgeprägt. Eine wirklich große Gemeinschaftsleistung der Heimatvertriebenen war das Stuttgarter Treffen 1950 mit der Proklamation der Charta der Heimatvertriebenen vor 100.000 Vertriebenen.

In diesem der Zukunft zugewandten Manifest trafen sich die unterschiedlichen Schicksalswege in einem Versprechen für die Zukunft, das da lautete: Wir wollen an einem versöhnten Europa mitwirken und den Teufelskreis von Rache und Vergeltung durchbrechen. Das war ein herausragendes Zeichen der Selbstüberwindung und Versöhnung.

Selbstverständlich war es nicht. Es gab auch andere Stimmen.

Dieses Manifest ist bis zum heutigen Tage die Wertegrundlage des BdV. Dieser Grundlage haben sich nach dem Fall der Mauer und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland die erstaunlich schnell gegründeten BdV-Verbände der neuen Bundesländer angeschlossen.

Es war der 27. Oktober 1957, als sich nach langwierigen und oft schwierigen Verhandlungen zwei bis dahin nebeneinander, oftmals sogar gegeneinander wirkende Verbände zusammenschlossen. Aus dem „Verband der Landsmannschaften“ (VdL) und dem „Bund der Vertriebenen Deutschen“ (BVD), wurde zwölf Jahre nach Kriegsende und schier endlosen, teils heftigen Diskussionen unser Verband.

Bis kurz vor der Einigung rang man noch um den Namen. Es wurden Vorschläge wie „Landsmannschaftlicher Bund der Vertriebenen“ oder sogar „Kampfbund der Heimatvertriebenen“ gemacht. Zu guter Letzt entschloss man sich für den bis heute geltenden, ziemlich langen Namen: „Bund der Vertriebenen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände e.V.“ Darin fanden sich alle wieder.

Für eine Übergangsphase gab es mit den Vorsitzenden der beiden fusionierten Verbände zwei gleichberechtigte Vorsitzende. Dies waren der Ostpreuße Linus Kather und der Deutschbalte Georg von Manteuffel-Szoege. Im Dezember 1958 erfolgte dann die endgültige Konstituierung des Gesamtverbandes in Berlin.

Unser Verband hat sich von Beginn an nicht nur sozial und kulturell, sondern auch politisch engagiert. Wie auch anders. Die Vertreibung der Deutschen war politisches Handeln. Die demokratischen Parteien der Bundesrepublik unterstützten über Jahre einmütig die Vertriebenen und ihre Verbände auf kommunaler, Landes- und Bundesebene.

Das Heimatrecht und das Rückkehrrecht für Vertriebene waren sehr lange völlig unbestritten. Es war auf allen politischen Ebenen der Wille vorhanden, das Schicksal der Vertriebenen als gesamtdeutsches Schicksal zu sehen. Das Lastenausgleichsgesetz (1952) und das Bundesvertriebenengesetz (1953) waren nach jahrelangen, teilweise  heftig geführten Kontroversen im Nachhinein betrachtet Meilensteine auf dem Weg der im Großen und Ganzen geglückten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Eingliederung.

Aus allen demokratischen Parteien kamen die führenden Vertreter des BdV. Axel de Vries, einer der Verfasser unserer Charta, gehörte der FDP im Deutschen Bundestag an.  Als Präsidenten unseres Verbandes amtierten die Christdemokraten Hans Krüger und Herbert Czaja, die Sozialdemokraten Wenzel Jaksch und Reinhold Rehs sowie der Christsoziale Fritz Wittmann. Alle waren jeweils Mitglied des Deutschen Bundestages. Schon daran ist erkennbar, dass unser Verband eine politische Führung wollte.

1961 verabschiedete der Deutsche Bundestag einstimmig den sogenannten „Jaksch-Bericht“, benannt nach dem damaligen BdV-Präsidenten Wenzel Jaksch. In diesem Beschluss wurden neue Wege einer Menschenrechte und Völkerrecht nicht ausklammernden deutschen Ostpolitik aufgezeigt. Noch 1963 erhielten die Schlesier zu einem ihrer großen Deutschlandtreffen ein Grußtelegramm, in dem es hieß:

„Breslau – Oppeln – Gleiwitz – Glogau – Grünberg, das sind nicht nur Namen, das sind lebendige Erinnerungen, die in den Seelen von Generationen verwurzelt sind und unaufhörlich an unser Gewissen klopfen. Verzicht ist Verrat, wer wollte das bestreiten. Das Recht auf Heimat kann man nicht verhökern – niemals darf hinter dem Rücken der aus ihrer Heimat vertriebenen oder geflüchteten Landsleute Schindluder getrieben werden. Das Kreuz der Vertreibung muss das ganze Volk mittragen helfen.“

Diese Grußbotschaft an die Schlesier trug die Unterschriften der Sozialdemokraten Erich Ollenhauer, Willy Brandt und Herbert Wehner. Solche Aussagen muss man kennen, um manches an Reaktionen Vertriebener in späteren Jahren nachvollziehen zu können.

Zum Ende der 60-er Jahre wandelte sich das Klima. Die Vokabel „Revanchismus“, ein Schlagwort kommunistischer Desinformation bezogen auf die Bundesrepublik und die Vertriebenen, fand ihren festen Platz auch in der innerdeutschen Diskussion. Im Zuge der sozial-liberalen Ostpolitik unter dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt eskalierte die Auseinandersetzung nicht nur zwischen der SPD/FDP-Koalitionsregierung und der CDU/CSU-Opposition, sondern auch mit dem BdV.

Die Ankündigung Willy Brandts vom 20. November 1970, das deutsch/polnische Verhältnis auf eine neue Basis stellen zu wollen, löste  Turbulenzen aus, die sich mit seiner Warschaureise und der Unterzeichnung der Ostverträge noch verschärften. Die Enttäuschung insbesondere der ostdeutschen Vertriebenen war elementar. Sätze wie „Brandt an die Wand“ oder Schlagworte wie „Verzichtspolitiker“ waren an der Tagesordnung. Emotionen überlagerten die Ratio am Ende auf beiden Seiten. Liest man die Reden Willy Brandts nach, so lässt sich heute mit der Distanz von 37 Jahren aber deutlich erkennen, dass ihm die Gefühle und das Schicksal der Vertriebenen durchaus nicht nebensächlich waren.

In seiner Warschauer Fernsehansprache am 7. Dezember 1970 sagte Brandt unter anderem: „Großes Leid traf auch unser Volk, vor allem unsere ostdeutschen Landsleute. Wir müssen gerecht sein: Das schwerste Opfer haben jene gebracht, deren Väter, Söhne oder Brüder ihr Leben verloren haben. Aber nach ihnen hat am bittersten für den Krieg bezahlt, wer seine Heimat verlassen musste. Ich lehne Legenden ab, deutsche wie polnische: Die Geschichte des deutschen Ostens lässt sich nicht willkürlich umschreiben. Unsere polnischen Gesprächspartner wissen, was ich Ihnen zu Hause auch noch einmal in aller Klarheit sagen möchte: Dieser Vertrag bedeutet nicht, dass wir Unrecht anerkennen oder Gewalttaten rechtfertigen. Er bedeutet nicht, dass wir Vertreibungen nachträglich legitimieren.“

In einem handschriftlichen Antwortbrief an Gräfin Dönhoff, die sich emotional nicht in der Lage sah, auf seine Einladung hin mit nach Warschau zu fliegen, steht zu lesen: „Was das ‚Heulen’ angeht: Mich überkam es an meinem Schreibtisch, als ich die Texte für Warschau zurechtmachte ... Ich darf jedenfalls hoffen, dass Sie es verstanden haben und wissen: Ich habe es mir nicht leicht gemacht.“

Ja, ich bin davon überzeugt, dass Willy Brandt es sich nicht leicht gemacht hat. Und wenn er heute SPD-Parteichef wäre, so würde er mit Sicherheit in der ersten Reihe hier sitzen. Aber vor dem Hintergrund vieler Solidaritätserklärungen in Oppositionszeiten rief seine Regierungspolitik abgrundtiefe Enttäuschung hervor. Sie wurde als Verrat empfunden. Und das Brandt’sche Mitgefühl seiner Warschauer Rede verhallte unreflektiert.

Scharenweise traten Vertriebene nicht nur aus der SPD sondern auch aus der mitregierenden FDP aus. Etliche wechselten in die Unionsparteien. Prominenteste Namen sind Herbert Hupka, der von der SPD in die CDU wechselte und der ehemalige Vizekanzler Erich Mende, der von der FDP in die CDU übertrat.

Das damalige Verhältnis des BdV zu den beiden regierenden Parteien ab 1970 ist mit „frostig“ untertrieben charakterisiert. Es war feindselig. Völlig schuldfrei an der weiteren Entwicklung war unser Verband nicht. Die Enttäuschung führte zu Verhärtung und Abschottung.

Umso enger suchte man den Schulterschluss mit den Unionsparteien, die sich sehr bemühten, auf die Vertriebenen und den BdV einzugehen. Die politischen Interessen liefen über weite Strecken synchron. Unterstützt sah man sich zudem durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Oder/Neiße-Grenze.

Das mediale und intellektuelle Klima in Deutschland aber stand schon lange gegen die Vertriebenen. Häme und Bösartigkeit gegenüber landsmannschaftlichen Treffen, Mitleidlosigkeit gegenüber den Opfern waren nicht Ausnahme sondern Regel.

Es entschwand in den postsiebziger Jahren nicht wenigen Intellektuellen, dass die Vertreibung von 15 Millionen Menschen aus der Heimat oder in den Tod eine gesamtdeutsche Tragödie, ja ein Bruch von ungeheurer kultureller und historischer Dimension für das ganze deutsche Volk war. Das wunderbare Buch von Rüdiger Safranski über die „Romantik“ zeigt deutlich auf, wie unauslöschbar verwurzelt unser Geistesleben mit dem früheren deutschen Osten ist.

Die Entwicklungen der Jahre 1989/91, die nach der Erosion des kommunistischen Ostblocks, dem Fall der Berliner Mauer und dem Beitritt der DDR zum Bundesgebiet endgültig zum Ende der Nachkriegszeit führten, belebten im Zuge der 2+4-Verhandlungen und der Diskussion um den deutsch-polnischen Grenzbestätigungsvertrag die alten Debatten.

Ein hartes Ringen um Kompromisslösungen begann. Diesmal mit der CDU/CSU. Das Klima war aber längst nicht mehr so aufgeheizt wie 1970. Die Freude über die Vereinigung dieser beiden Teile Deutschlands überwog. Tief im Innern war vielen Vertriebenen längst klar, dass kein Weg an der Oder/Neiße-Grenze vorbeiführen würde.  Am Ende stimmten 20 Abgeordnete, Vertriebene und Nichtvertriebene im Deutschen Bundestag dagegen. Auch ich. Aber für mich und unseren Verband, der ausdrücklich auf dem Boden der demokratischen Werteordnung Deutschlands steht, war damit eine zu respektierende Entscheidung gefallen.

Unserem Schicksal ging Grauenhaftes voraus. Die schrecklichen Bilder aus den befreiten KZ´s beschämten die meisten Deutschen zutiefst – natürlich auch die Vertriebenen.  Hitler hatte die Büchse der Pandora geöffnet. Das wissen die deutschen Vertriebenen elementarer als andere, da sie in Kollektivhaftung dafür genommen wurden. Aber insbesondere ab den 70er Jahren wurde die Tatsache der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft über Europa als Stopschild missbraucht, um die Anliegen der Vertriebenen zu diskreditieren und diese Massenvertreibung zu rechtfertigen. Kaltherzig wurde ausgeblendet, dass Münchner, Hamburger oder Berliner nicht vertrieben wurden, selbst wenn sie fanatische Nationalsozialisten waren. Man scheute auch nicht davor zurück, die DDR-Propaganda zu übernehmen, nach deren Lesart der BdV das Sammelbecken für Revanchisten und Nationalsozialisten war.

Der BdV kann als Organisation aufgrund seines Gründungsdatums nicht im Nationalsozialismus verstrickt gewesen sein. Wenzel Jaksch und Herbert Hupka waren Verfolgte der Nationalsozialisten. Auch Herbert Czaja, der 24 Jahre unseren Verband geführt hat, stand erwiesenermaßen in Opposition zum nationalsozialistischen Regime.

Trotzdem  erhebt sich hin und wieder die Frage: war die Führungsriege des BdV überproportional vorbelastet? Das werden wir  durch einen Forschungsauftrag klären lassen.

Unser Verband steht mit seinen Millionen Mitgliedern in der Mitte der Gesellschaft. Wir lassen uns weder von linksaußen noch von rechtsaußen missbrauchen. Und wir lassen uns von niemandem vereinnahmen. Wir sind ein überparteilicher Verband. Über einen langen Zeitraum war das jedoch kaum noch erkennbar. Deshalb war es der richtige Weg, dass mein Vorgänger im Amt, Fritz Wittmann, den Dialog auch mit der SPD und den Freien Demokraten wieder gesucht und aufgenommen hat. Aus Überzeugung bin ich diesen Weg weitergegangen und habe ihn forciert.

Heute gibt es wieder den Dialog mit allen demokratischen Parteien. Mutiger Partner für ein neues konstruktives Miteinander war ab 1998 seitens der SPD der damalige Bundesinnenminister Otto Schily. Im Berliner Dom erklärte er 1999 vor den Repräsentanten des BdV in unumwundener Selbstkritik: „Die politische Linke hat in der Vergangenheit, das lässt sich leider nicht bestreiten, zeitweise über die Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache Leid, das den Vertriebenen zugefügt wurde, hinweggesehen, sei es aus Desinteresse, sei es aus Ängstlichkeit vor dem Vorwurf, als Revanchist gescholten zu werden. Oder sei es in dem Irrglauben, durch Verschweigen und Verdrängen eher den Weg zu einem Ausgleich mit unseren Nachbarn im Osten zu erreichen. Dieses Verhalten war Ausdruck von Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit. Inzwischen wissen wir, dass wir nur dann, wenn wir den Mut zu einer klaren Sprache aufbringen und der Wahrheit ins Gesicht sehen, die Grundlage für ein gutes und friedliches Zusammenleben finden können.“ Daraus entstand ein lebendiger Dialog.

Eine wichtige gesellschaftspolitische Leistung des BdV war die Gründung unserer Stiftung „ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN“ im Jahr 2000. Wir wollen durch diese Stiftung erreichen, dass ein vollständiges und wahrhaftiges deutsches und europäisches Geschichtsbild gezeichnet wird.

Wir wollen zur Identitätsfindung im eigenen Lande beitragen. Wir wollen, dass in Berlin ein Dokumentationszentrum dafür entsteht. Es ist mehr als 60 Jahre nach Kriegsende längst überfällig. Die deutschen Heimatvertriebenen stellen sich mit dieser Stiftung aber auch aus Überzeugung und Anteilnahme an die Seite aller anderen Vertreibungsopfer, unabhängig von der jeweiligen nationalen Zugehörigkeit. Die Humanitas ist unteilbar.

Weit mehr als 400 Gemeinden aller politischen Richtungen sind Paten unserer Stiftung geworden. Auch die Bundesländer Hessen und Baden-Württemberg sind inzwischen Paten und es sieht so aus, dass weitere folgen werden. Renommierte Persönlichkeiten haben sich an unsere Seite gestellt. U. a. Peter Scholl-Latour, Rüdiger Safranski und jüngst Harald Schmidt.

Der BdV ist mit der Gründung dieser Stiftung aus der Abgeschlossenheit des eigenen Schicksals herausgetreten und nimmt solidarisch Anteil am Leid anderer. Für Opferverbände ist das durchaus nicht selbstverständlich. Wir haben durch diese Stiftung erreicht, dass die Bundesregierung in Berlin eine Erinnerungsstätte schaffen will. Noch ist dieses sogenannte „Sichtbare Zeichen“ auch zwei Jahre nach Regierungsübernahme ziemlich unsichtbar. Aber ich weiß, es wird mit Hochdruck daran gearbeitet.

Bei Ihrem Besuch im März dieses Jahres in Warschau haben Sie, Frau Bundeskanzlerin Merkel, sehr klare Worte gefunden, als Sie in Ihrer dortigen Rede sagten: „Als deutsche Bundeskanzlerin verstehe und unterstütze ich, dass die Deutschen, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges mit Flucht und Vertreibung aus ihrer Heimat selbst Leid ertragen mussten, ihres Schicksals würdevoll gedenken können.“

Wenn dieses Vorhaben der Bundesregierung gut gelingt – und ich bin sehr zuversichtlich, dass es gelingt – dann werden die deutschen Heimatvertriebenen sich hier angekommen und angenommen fühlen können. Und für die Erlebnisgeneration wird es am Ende ihres Lebens ein tröstliches Gefühl sein, dass ihr Schicksal nicht vergessen ist, sondern einen festen Ort  im kollektiven Gedächtnis unseres Vaterlandes hat.

Ein Name darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden. Mit Dankbarkeit denke ich an den viel zu früh verstorbenen Peter Glotz. Die wenigen Jahre unserer Zusammenarbeit für das ZgV waren für mich eine Freude und Bereicherung. Es gab einen ungewöhnlichen Gleichklang im Denken. Unabhängig vom Fortschritt der Planungen für das Dokumentationszentrum in Berlin bereitet das ZgV nach der sehr erfolgreichen Ausstellung über europäische Vertreibungsschicksale eine Ausstellung über Siedlungs- und Kulturgeschichte der deutschen Vertriebenen für das Jahr 2009 vor.

Vieltausendfache Kontakte in die alte Heimat haben Vertrauen, Partnerschaften, sogar Freundschaften bei unseren Nachbarn wachsen lassen. Selbst in den Ländern, wo es auf Regierungsebene stagniert. Seitens vieler europäischer Regierungen erleben wir längst Gesten des Mitgefühls, der Anteilnahme und der Erkenntnis. Es gibt heute Hunderte kleine und große Gedenkorte in unseren Nachbarländern, durch die an deutsche Schicksale erinnert wird. Es ist wunderbar, dass im November das ungarische Parlament einen Kongress und eine Debatte zur Vertreibung ihrer Deutschen durchführen wird.

Nach wie vor aber gibt es leider in der Europäischen Union Vertreibungs- und Entrechtungsgesetze, die mit dem Werteverständnis kollidieren. Das darf nicht ausgeblendet werden und daran muss intensiv gearbeitet werden. Trotzdem glaube ich an ein versöhntes Europa, in dem die Völker ohne Zwang und Furcht voreinander leben können. Und unser Verband mit seinen Millionen Heimatvertriebenen trägt dazu bei.  Tagtäglich.

Die Brücken zwischen unseren europäischen Völkern werden umso tragfähiger sein, je offener wir den Dialog führen. An diesem Brückenbau hat der BdV in seiner 50-jährigen Geschichte engagiert gewirkt und wird es auch weiterhin tun.

Der BdV mit seinen 21 Landsmannschaften und 16 Landesverbänden sowie vier außerordentlichen Verbänden ist ein durch und durch heterogenes Gebilde. Die Deutschen  aus Estland und Lettland haben ein anderes Schicksal als die Ostpreußen und Schlesier oder die Donauschwaben und Sudetendeutschen. Die Stärke unseres Verbandes liegt in praktizierter Solidarität auf der Grundlage von Menschenrechten.

Uns prägt auch das Engagement für die soziale und wirtschaftliche Eingliederung unserer Landsleute. Seien es wie in den Anfangsjahren, Vertriebene, später Aussiedler und jetzt die Spätaussiedler. Unsere in die Zehntausende gehenden ehrenamtlichen Betreuer und Betreuerinnen halfen und helfen, unabhängig von der landsmannschaftlichen Zugehörigkeit. Die haupt- und ehrenamtliche Beratung und Betreuung der Spätaussiedler, heute meist Deutsche aus Russland, ist eine Aufgabe, die der gesamte Verband leistet.

Ein wesentliches Aufgabenfeld für alle unsere Gliederungen ist auch der Einsatz für das historische Erbe der Heimatgebiete. Die zahlreichen wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen, Hunderte von Heimatstuben und Sammlungen sowie die Heimatzeitungen sind Beispiele lebendiger Kulturtraditionen. Der BdV wird von bürgerschaftlichem Engagement getragen. Daraus schöpfen wir unsere Kraft auch für die Zukunft.

Allen meinen Vorgängern und allen Mitgliedern unseres Verbandes danke ich für ihr ehrenamtliches Engagement und die selbstlose Arbeit.

Ich leite nun im 10. Jahr diesen großen Verband. Ich bin zahllosen lieben und auch sperrigen Menschen begegnet, deren Schicksale mir das Herz im Leibe herumdrehten. Viel Freundschaft und Unterstützung sind mir begegnet, aber auch Hass und Irrationalität. Diese Jahre haben aber nicht Kraft gekostet, sondern sie haben mir Kraft geschenkt.

Ich danke allen, die unseren Verband mit Freundschaft, mit Objektivität aber auch mit konstruktiver Kritik begleitet haben und begleiten werden.