Rede zum Festakt "60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen" am 5. August 2010 in Stuttgart

BdV-Präsidentin Erika Steinbach MdB

Sperrfrist 5. August 2010, 15:00 UhrEs gilt das gesprochene Wort!

Die Charta – Ein Akt der Selbstüberwindung

60 Jahre Charta der Heimatvertriebenen. Ein runder Geburtstag für ein singuläres Dokument. Wie sah Deutschland 1950, im Jahr der Verkündung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen aus? Die meisten Menschen im Lande können sich heute nur eine sehr unzureichende Vorstellung davon machen. Das Land lag noch immer weitgehend in Trümmern.

Zu den obdachlosen, verarmten und hungernden Einheimischen strömten schon ab 1944 Millionen und Abermillionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus ganz Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Sie kamen aus den baltischen Ländern, aus Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, Polen, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei, aus den Ländern, in denen sie seit Jahrhunderten siedelten. Einige aus den Gebieten, in die sie von Hitler umgesiedelt worden waren. Und sie kamen aus dem Osten Deutschlands, der heute zu Polen und Russland gehört. Ohne jede Habe, heimatlos, verzweifelt und viele mit der festen Hoffnung im Herzen auf Rückkehr. Wie sollte, wie konnte dieses kumulierte menschliche Elend zu einer stabilen Demokratie führen? Das war völlig unvorstellbar. Stalin hatte gehofft, dass die Millionen Vertriebenen das ohnehin darniederliegende Deutschland destabilisieren würden und auch Westdeutschland unweigerlich in die Arme des Kommunismus treiben würden.

Konrad Adenauer, der erste deutsche Nachkriegs-Kanzler, war sich dessen bewusst. Zu Beginn seiner Kanzlerschaft 1949 stellte er fest: „Ehe es nicht gelingt, den Treibsand der Millionen von Flüchtlingen durch ausreichenden Wohnungsbau und Schaffung entsprechender Arbeitsmöglichkeiten in festen Grund zu verwandeln, ist eine stabile innere Ordnung in Deutschland nicht gewährleistet“. In der Eingliederung dieser riesigen Menschenmasse sah er eines der drängendsten Probleme der jungen westdeutschen Demokratie.  Warum aber konnte diese Herkulesaufgabe gelingen? Die Versorgung einer solch großen Zahl von Menschen in so kurzer Zeit hätte schon ein intaktes Staatswesen vor kaum lösbare Probleme gestellt.

Nur wenige begriffen bereits in den 50er Jahren, was die Vertreibung und die Aufnahme Millionen ost-,  sudeten- und südostdeutscher Heimatvertriebener in West- und dem damaligen Mitteldeutschland bedeuteten. Der bedeutende Soziologe Eugen Lemberg beschrieb schon 1950 den von Not und Mangel bestimmten konfliktreichen Prozess wissenschaftlich kühl-distanziert als die „Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen“. Niemals seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 oder seit dem Dreißigjährigen Krieg waren die demographischen und konfessionellen Verhältnisse in Deutschland dermaßen umgestürzt worden.

Am 5. August 1950 fand in Stuttgart die erste gemeinsame politische Willenskundgebung der Vertriebenen in Westdeutschland statt. Es war der 5. Jahrestag des Potsdamer Protokolls der Siegermächte, in dem toleriert wurde, dass Millionen geflüchtete Deutsche nicht in ihre Heimat zurückkehren durften und weitere Millionen aus Ostdeutschland und  dem ostmitteleuropäischen Raum vertrieben werden sollten. Wobei die Vertreibungen dort bereits Monate vor August 1945 tägliche Realität waren.

Den Bund der Vertriebenen gab es 1950 noch nicht.

Vorbereitet wurde dieses erste Großtreffen der Vertriebenen von dem Sprechergremium der „Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften“ (VOL) und vom „Zentralverband der Vertriebenen Deutschen“ (ZvD).

Zwei Organisationen, die sich 1957 zum Bund der Vertriebenen zusammenschlossen.

Politik und Medien in Westdeutschland sahen dieser Veranstaltung mit Spannung, aber auch mit Sorge entgegen. Die Brisanz des Vertriebenenproblems war landauf, landab offenkundig. Selbst das Ausland, das in den ersten Nachkriegsjahren das Elend dieser Millionen Deutschen ignoriert oder bagatellisiert hatte, war aufmerksam geworden.

Der enorme Erfolg der Vertriebenenpartei BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) bei der Landtagswahl im Frühjahr 1950 in Schleswig-Holstein, wo er 5 Monate nach seiner Gründung aus dem Stand über 23 Prozent der Stimmen erhielt, hatte aufgerüttelt. Es gab Befürchtungen, dass sich die Vertriebenen radikalisieren könnten.

„Die Verzweiflung der Vertriebenen ist nicht zu beschreiben“ so berichtete die „Neue Züricher Zeitung“. Sie habe sich nur deshalb noch nie in Verzweiflungsakten geäußert, weil sie gepaart sei mit einer aus Hoffnungslosigkeit geborenen Apathie. Ruhe und Ordnung seien jedoch nur unter einer dünnen Decke bewahrt, die jederzeit brechen könne.

Die überwiegende Zahl der Vertriebenen fristete zu dieser Zeit ihr Leben in Lagern und Notunterkünften. Über ein Drittel der Arbeitsfähigen war ohne Arbeit, ein weiteres Drittel berufsfremd oder als Hilfsarbeiter weit unter eigener Qualifikation tätig, so wie mein eigener Vater. Ein dreiviertel Jahr zuvor erst war er aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, körperlich aber auch seelisch am Ende.

Wir lebten in Hanau zu viert in einem kleinen Zimmer. Es gab zwei schmale Betten. In dem einen schliefen meine Eltern, das andere teilten sich meine Schwester und ich. Toilette, Herd und fließendes Wasser waren nicht vorhanden. Mein Vater atmete deshalb auf als er eine erste Anstellung erhielt. Er sah Licht am Horizont. Der Lohn dafür trieb meiner Mutter aber prompt die Tränen in die Augen. Es waren ganze 98 Pfennige pro Stunde, weniger als der damalige Fürsorgesatz. Unsere Situation, mit dem verzweifelten Versuch wieder Grund unter die Füße zu bekommen, war eine von Millionen Varianten im Jahre 1950 – und noch nicht einmal die schlimmste.

Die Menschen begannen, die Geduld zu verlieren. In dieser Stimmung fand die Stuttgarter Veranstaltung statt.

Bereits im Jahr zuvor hatten sich verantwortungsbewusste Vertriebene zusammengesetzt und darüber beraten, wie man diesem Elend entrinnen könnte.

Der Gehalt der Charta war keine alleinige Erfindung der Verfasser. Er war vielmehr in Diskussionen führender intellektueller Kreise der Vertriebenen herangereift.

Bereits zuvor, am 12. Juni 1948, hatte ein sudetendeutscher Führungskreis, dem u.a. Wenzel Jaksch, Walter Becher und Hans Schütz angehörten, in Heppenheim einen Forderungskatalog aufgestellt.

In der „Eichstätter Deklaration“ vom 27. November 1949 wurden Grundsätze einer  sudetendeutschen Europapolitik festgelegt. Darin wurden „Anerkennung und Wiederherstellung des Heimatrechts“ für alle Vertriebenen gefordert. Gleichzeitig wurde bereits darin ein „Verzicht auf Rache und Vergeltung“ und eine „friedliche Verwirklichung des Rechtes auf die Heimat“ im Rahmen einer föderativen Gesamtordnung Europas, frei von Hegemonialansprüchen „irgendeiner Großmacht“ erklärt.

Sinn und Aufgabe der Charta sollte es sein, gegenüber den Besatzungsmächten Protest gegen das Unrecht der Vertreibung zu erheben, Wiedergutmachung zu fordern, aber auch den Willen zur Versöhnung und zum Wiederaufbau Deutschlands und Europas zu bekunden. Wobei eine rechtliche Gleichstellung der Vertriebenen mit den Einheimischen auf allen Gebieten als Grundbedingung gefordert werden sollte.

Die Präsidenten der beiden Vertriebenenorganisationen vereinbarten, dass die Verkündung der Charta in Erinnerung an und als Protest gegen die Potsdamer Vereinbarungen fünf Jahre zuvor in einer gemeinsamen Feierstunde am 5. August 1950 erfolgen soll. Und es wurde vereinbart, dass in einer Großkundgebung diese Charta öffentlich proklamiert wird.

Als Ort wurde Stuttgart ausgewählt. Die Vertriebenen in Baden-Württemberg waren bereits recht gut organisiert und somit am ehesten in der Lage, einen geordneten Ablauf einer solchen eher unkalkulierbaren Großveranstaltung zu bewältigen.

Am 5. August 1950, heute vor 60 Jahren, wurde die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ feierlich im Kursaal von Stuttgart –Bad Cannstatt verlesen. Vorgetragen wurde das Manifest durch einen unbekannten jungen Vertriebenen, den Oberschlesier Manuel Jordan.

Im Anschluss daran wurde das Dokument in der Villa Reitzenstein, dem Sitz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, von den Verfassern und den Repräsentanten der Vertriebenen unterschrieben.

Der breiten Öffentlichkeit wurde die Charta einen Tag später auf der Hauptkundgebung vor der Ruine des Neuen Schlosses im Herzen Stuttgarts verkündet. Die Zahl der Vertriebenen, die aus allen Teilen Deutschlands unter Mühen anreisten, war so groß, dass es für einen reibungslosen Ablauf der Großkundgebung erforderlich wurde, die Teilnehmer zuerst auf vier verschiedenen Plätzen zu sammeln und in Kolonnen zum Schlossplatz zu lenken.

Die öffentliche Proklamation fand vor 100.000 - 150.000 Vertriebenen statt. Es war eine zutiefst beeindruckende Kulisse vor dem zerstörten Schloss.

Das Echo war breit und vielfältig. Inhalt und Stil der Erklärung sorgten für Überraschung bei Politik und Medien. Man war auf harte Töne und aggressive Forderungen gefasst. Auf eine postulierte Selbstverpflichtung, auf eine so eindeutige Absage an Revanche und Gewalt, auf den Willen, als Vertriebene zu einem versöhnten Europa beizutragen, darauf war man nicht gefasst.

Die Charta der Heimatvertriebenen ist geprägt aus der evangelischen Tradition sittlicher Verantwortung für Deutschland und aus katholischem Naturrechtsdenken.

Von der christlichen Prägung zeugt schon die Einleitung „Im Bewusstsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen, im Bewusstsein ihrer Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis“, aber auch der Hinweis „dass das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht“ werden solle.

Aus keinem einzigen Satz, aus keiner Silbe dieser ersten gemeinsamen Deklaration der Heimatvertriebenen sprach Hass gegenüber den Nachbarvölkern. Im Gegenteil: „Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas“ war als Selbstverpflichtung postuliert.

Im Ganzen gesehen war die Charta ein beträchtlicher Gewinn. Auch für die Vertriebenen. Das Vertrauen in die eigene Kraft, der Wille zur Selbstbehauptung und auch der Durchsetzungswille für rechtliche und soziale Gleichstellung mit den Einheimischen, all das wurde durch diese Proklamation gestärkt. Durch sie haben wir ein moralisches Fundament über den Tag hinaus.

Ich sage das sehr nachdrücklich und voller Bewunderung.

Das alles geschah 1950, fünf  Jahre nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, nur kurz nach dem die allgemeinen Vertreibungen zum Stillstand gekommen waren. Ein neues, demokratisches, politisches System war im Entstehen. Die Menschen aber waren die alten. In allen gesellschaftlichen Bereichen der jungen Bundesrepublik gab es Personen, die durch das NS-Regime geprägt oder sogar Teil des Machtapparates gewesen waren und sich nun in den neuen Institutionen betätigten. Natürlich auch in den Organisationen der Vertriebenen. Alles andere wäre geradezu ein Wunder.

Der BdV will Transparenz und Offenheit. Und deshalb begrüße ich, dass das Institut für Zeitgeschichte in München bald einen Forschungsbericht zu dieser Frage vorlegen und, so steht zu erwarten, eine sachliche Beurteilung ermöglichen wird. Eines steht aber auch so fest: Vom Nationalsozialismus geprägtes oder extremistisches Gedankengut hat niemals Eingang in unsere Verbandspolitik gefunden. Das wäre auch unvereinbar mit Wortlaut und Sinn der Charta, sowie mit der Einstellung der Millionen von Mitgliedern der Vertriebenenverbände gewesen.

Davon abgesehen ist mir durchaus bewusst, dass es in den letzten Jahren die eine oder andere kritische Stimme zur Charta gibt.  Deren Argumente habe ich sorgfältig und gründlich bedacht und gewogen, soweit sie sich nicht im Polemischen verlieren.

Sie sind mir nicht tragfähig genug, weil sie ganz überwiegend allein aus heutiger Sicht  gespeist sind. Ralph Giordano, dem ich mich freundschaftlich verbunden fühle, nehme ich davon aus. Sein Blickwinkel ist aus den persönlichen schlimmen Erfahrungen durch den Nationalsozialismus geprägt, den er nur knapp überlebt hat.  Seine Argumente respektiere ich, aber ich teile sie nicht. Der Wert der Charta lässt sich nur ermessen, wenn man sich in ihre Zeit hineinbegibt und sich vor Augen führt, welchen Weg die Vertriebenen damals leicht hätten nehmen können. Ein solches Dokumente schreibt man nicht einfach um und übergibt es einem neuen Geist der Zeit.

Der Bundesrat hat in einer würdigenden Entschließung vom 11. Juli 2003 die Forderung des BdV aufgenommen und die damalige noch rot/grüne Bundesregierung aufgefordert, den 5. August eines jeden Jahres zum „Nationalen Gedenktag für die Opfer von Vertreibung“ zu bestimmen.

Im Beschlusstext ist dazu angeführt:

“Die Tragödie von Deportation, Flucht und Vertreibung von rd. 15 Millionen Deutschen aus ihrer Heimat in der Folge des Zweiten Weltkriegs zählt zu den folgenschwersten Einschnitten in der Geschichte unseres Volkes überhaupt. Das Vertreibungsgeschehen hat die historisch gewachsene Einheit des ostmitteleuropäischen Raumes beendet, unsägliches Leid über die Menschen gebracht und kulturelle Entwicklungslinien zerstört. Unrecht und Tragödie dieses Ausmaßes werden auch dadurch nicht geringer, dass vorher schweres Unrecht von deutscher Seite geschehen ist. Jedes Unrecht ist für sich allein zu bewerten.

Die deutschen Vertriebenen zeichneten sich durch Überlebenswillen, durch die Bewältigung schwerster Lebenslagen und durch ihren umfassenden Beitrag zum wirtschaftlichen und politischen Neubeginn unseres ganzen Landes aus. Am 5. August 1950, noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Vertreibungen, wurde die Charta der deutschen Heimatvertriebenen unterzeichnet, die zu den großen Manifestationen Europas zählt. Mit der Absage an jegliche Gewalt, mit der kraftvollen Vision eines geeinten Europas, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können, mit dem Bekenntnis zum Wiederaufbau und zum Recht auf die Heimat ist die Charta ein Dokument sämtlicher deutscher Vertriebener. Noch leben die unmittelbar Betroffenen unter uns. Auch sie warten auf ein besonderes Zeichen der Verbundenheit durch alle Deutschen.

  Vertreibungen gehören nicht der Vergangenheit an. Sie geschehen auch heute in nahen und fernen Regionen dieser Welt. Das Leid, das den Menschen in der Mitte des letzten Jahrhunderts widerfuhr, trifft jetzt andere Menschen. „Die Völker müssen erkennen“, heißt es in der Charta aus dem Jahr 1950, „dass das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist,...“.

Auch in diesem Sinne fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf, den 5. August, den Tag der Unterzeichnung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen, zum „Nationalen Gedenktag für die Opfer von Vertreibung“ zu bestimmen.“

Dieser Bundesratsbeschluss ist bis zum heutigen Tage nicht umgesetzt.

Der 5. August 1950 ist für Deutschland und Europa von unschätzbarer Bedeutung. Hätten sich die Heimatvertriebenen an diesem Tag für einen anderen Weg entschieden, für einen Weg der Gewalt, so sähe Deutschland heute anders aus.

Die Heimatvertriebenen haben sich in einem beeindruckenden Akt der Selbstüberwindung für den Weg des Friedens und des Miteinanders entschieden.

Wir alle, die wir als Nachgeborene daran nicht mitwirken konnten, sind den Schöpfern der Charta zu Dank verpflichtet.

Schon damals haben sie ein ganzes Europa nicht nur als Vision gesehen, die sich irgendwann durch irgendjemand erfüllt, sondern sie haben deutlich gemacht, dass sie selbst daran aktiv „durch harte unermüdliche Arbeit“ wirken wollen. Die Botschaft von damals hat getragen bis heute.