Sperrfrist: 11.06.2013, 17:00 Uhr!
Es gilt das gesprochene Wort!
Begrüßung
Das Bundesvertriebenengesetz ist 60 Jahre alt geworden. Um zu verstehen was dieses Gesetzeswerk für Deutschland bedeutet, muss man einen Blick auf die damalige Situation in der Bundesrepublik Deutschland werfen:
Bis zum Jahre 1950 fanden acht Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge in den westlichen Besatzungszonen Aufnahme. Vier Millionen lebten in Mitteldeutschland. Das Land lag in Trümmern und war weitestgehend zerbombt. Zu den obdachlosen, verarmten und hungernden Einheimischen strömten schon ab 1944 Millionen und Abermillionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus ganz Mittel-, Ost- und Südosteuropa.
Ohne jede Habe, heimatlos, verzweifelt und mit der festen Hoffnung im Herzen auf Rückkehr. Die Eingliederung so vieler seelisch und teils auch körperlich verwundeter und erschöpfter Menschen schien nach 1945 schier unmöglich.
Konrad Adenauer, der erste deutsche Bundeskanzler, war sich dessen bewusst. Zu Beginn seiner Kanzlerschaft 1949 stellte er fest: „Ehe es nicht gelingt, den Treibsand der Millionen von Flüchtlingen durch ausreichenden Wohnungsbau und Schaffung entsprechender Arbeitsmöglichkeiten in festen Grund zu verwandeln, ist eine stabile innere Ordnung in Deutschland nicht gewährleistet“.
In der Aufnahme und Eingliederung dieser riesigen Menschenmasse sah er eines der drängendsten Probleme der jungen westdeutschen Demokratie. Er schuf ein eigenes Ministerium für Flüchtlinge und Vertriebene mit dem Schlesier Hans Lukaschek an der Spitze.
Und in einer ganzen Reihe von Gesetzen wurde zunächst die größte Not gelindert. In dieser ersten Legislaturperiode unserer jungen Demokratie wurde der Grundstein für eine friedliche Zukunft gelegt.
Dr. Lukaschek, Bundesminister für Vertriebene, sah das Ziel der Arbeiten darin: „bei allen in Frage kommenden Stellen die Bereitschaft zu einer umfassenden Regelung der Rechte zu schaffen, die die Gemeinschaft des deutschen Volkes in der Bundesrepublik bereit ist den Vertriebenen zuzugestehen. Ihre echte Aufnahme in die Gemeinschaft des deutschen Volkes ist ja das eigentliche Ziel“.
Das Bundesvertriebenengesetz hatte und hat den Sinn, den Vertriebenen einen angemessenen Platz in der hier heimischen Gesellschaft zu gewährleisten und das Kulturerbe dauerhaft zu sichern. Bis zu seiner Verabschiedung hat es harte Debatten und heftige Kontroversen gegeben.
Gefochten wurde vor allem im Bereich der Landwirtschaft um fast jede Regelung von den Zusammensetzungen der Siedlungsbehörden, über Steuervorteile bei der Einheirat bis zur Neusiedlung. Die Fronten verliefen quer durch die Parteien (bei FDP und CDU), die „Grüne Front“ stand gegen die Vertriebenen und die Kommunisten gegen alle anderen.
Am entschiedensten stellten sich die Sozialdemokraten hinter die Anliegen der Vertriebenen und rügten den Tonfall der Debatte. Ihr Abgeordneter Reitzner hielt fest: „Das Vertriebenenschicksal ist doch das Schicksal einer Gruppe, die wegen ihrer Volkszugehörigkeit und wegen des verlorenen Hitler-Krieges haftbar gemacht wurde. Blinde Zufälligkeit hat gewütet und blinde Zufälligkeit hat entwurzelt. Ein sozialer Sturz wie selten in der Geschichte ist unleugbar die Folge dieser Vertreibung. Keine Legendenbildung kann die bittere Tatsache dieses sozialen Sturzes übertönen.“
Darin will ich heute die SPD gerne erinnern. Von diesem Engagement ist leider zu wenig übrig geblieben.
Was man ohne jede Übertreibung über dieses Gesetz sagen kann: Es war eine schwere Geburt. Paragraf um Paragraf musste abgestimmt werden. Wechselnde Mehrheiten kennzeichneten die Abstimmungsergebnisse. Unruhe und heftige Auseinandersetzungen bestimmt das Klima.
Als das Gesetz nach quälenden Debatten endlich verabschiedet wurde, ahnte wohl kaum jemand, dass es wesentliche Grundlage für eines der stabilsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Staates der Nachkriegszeit in Europa werden würde.
Die Heimatvertriebenen waren von Anfang an eine konstruktive Kraft beim Aufbau des neuen Staatswesens wie sie es in ihrer Charta von 1950 versprochen hatten: „Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas“.
Das zeigte sich nicht nur in Ihrer Bereitschaft, mit Tatkraft und Energie am materiellen Aufbruch mitzuarbeiten sondern auch daran, wie schnell sie sich politisch in die großen Volksparteien integrierten und mitgestalten wollten. Eine eigene Partei „der Bund der Heimatlosen und Entrechteten“, blieb eine parlamentarische Episode.
Eines der wichtigsten Regelungsgebiete war und ist in diesem Gesetz der Bereich von Kultur und Forschung. Er berührt in ganz entscheidendem Maße die Identität der Heimatvertriebenen. Ist darüber hinaus aber Teil gesamtdeutschen kulturellen Erbes.
Darin haben Bund und Länder 1953 die Verpflichtung übernommen, das kulturelle und historische Erbe der ehemaligen deutschen Ostprovinzen sowie der historischen Siedlungsgebiete in Ost-, Mittelost- und Südosteuropa zu sichern und zu bewahren. In diesen Gebieten befinden sich Zeugnisse deutscher Kultur von unschätzbarem Wert. Sie müssen für kommende Generationen im In- und Ausland erhalten werden. Das wird durch § 96 sichergestellt.
Darin heißt es: „Bund und Länder haben das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten, Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten, sowie Einrichtungen des Kunstschaffens und der Ausbildung sicherzustellen und zu fördern. Sie haben Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben, sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu fördern“.
Dieser gesetzliche Auftrag beruht auf der Erkenntnis, dass es ein einheitliches, gemeinsames kulturelles Fundament gibt und verdeutlicht, dass das Kulturgut der Vertriebenen eine gesamtdeutsche Aufgabe ist - ein unverzichtbarer Teil der Identität des ganzen deutschen Volkes.
Bund und Länder der jungen Bundesrepublik Deutschland haben bewusst schon1953 mit diesem Gesetz die Verantwortung für das gesamte kulturelle Erbe unabhängig von Grenzen und von staatlicher Zugehörigkeit übernommen.
Nach der föderalen Tradition der Bundesrepublik, liegt die Kulturhoheit zwar bei den Ländern. Das Bundesvertriebenengesetz räumt jedoch dem Bund ein kulturelles Gestaltungsrecht ein.
Natürlich dürfen auch die Bundesländer nicht aus ihrer bis heute geltenden Verantwortung entlassen werden.
Für eine bedauerliche Entwicklung halte ich die Tatsache, dass im Verlaufe der Jahrzehnte mit Ausnahme von CDU und CSU die anderen Parteien sich dieser Aufgabe nur halbherzig oder gar nicht verpflichtet fühlen. Ich appelliere an alle politischen Kräfte, sich der Bedeutung des Gesetzes für unser ganzes Land bewusst zu werden und diese dauerhaft gestellte Aufgabe wieder engagierter anzunehmen.
Ich erinnere an die Worte Willy Brandts, der das BVFG seinerzeit gewürdigt hat: „Unser Staat und unsere Wirtschaft stünden nicht dort, wo sie heute stehen, wenn ihnen nicht so starke Kraftströme durch die vertriebenen Landsleute zugeflossen wären. Unsere Demokratie wäre nicht krisenfest, wenn sie nicht von den Vertriebenen und Flüchtlingen mitgestaltet und mitgetragen würde.“
Die politische Integration der Vertriebenen war die Voraussetzung für die Stabilität des Landes und das spätere Wirtschaftswunder. Die gesetzliche Grundlage war das Bundesvertriebenengesetz.
Das Trauma von Flucht und Vertreibung ist noch nicht überwunden. Es wirkt nach. Auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen.
Auf der einen Seite stehen die Opfer, die Erlebnisgeneration – auf der anderen Seite die Nachgeborenen und jene, die als Zeitgenossen das bittere Schicksal von Flucht und Vertreibung nicht teilen mussten.
Das Wissen um die historischen Fakten und die Opferzahlen reicht dabei alleine nicht. Es geht auch darum, Verständnis für das menschliche Schicksal des Einzelnen zu wecken und das gesamte kulturelle Vermächtnis zu bewahren.
Unser historisches Erbe umfasst alles, was den Menschen ausmacht. Das BVFG ist der Schutzschirm, dass diese Erinnerung und dieses Erbe nicht erlöschen.
Das Elend von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung, das Millionen von Menschenleben kostete und das Leben Unzähliger mit Schmerz, Verlust und Trauer überschattete, hat uns und viele Gesellschaften in Europa grundlegend verändert. Bis heute werden die Beziehungen zwischen den europäischen Völkern davon beeinflusst. Unsere Geschichte mahnt uns, immer wieder aufs Neue unsere Stimme aufrichtig und mutig zu erheben, wenn Menschen gewaltsam vertrieben werden und ihre Menschenwürde mit Füßen getreten wird. Der Verlust von Heimat, die Suche nach neuer Heimat, die bleibende Sehnsucht nach der alten oder auch die Zerrissenheit zwischen alter und neuer Heimat, sind prägend für uns und Europa.
Heute wurde in einem Festakt durch Bundeskanzlerin Angela Merkel der Baubeginn der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ im Deutschlandhaus eingeleitet. Die Initialzündung für diese Bundesstiftung haben wir durch unsere eigene Stiftung ZgV im Jahre 2000 gegeben.
Insbesondere unserer Stiftung wegen, nur durch den Druck, den wir durch gute Argumente erzeugt haben, gibt es heute die Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung.“ Peter Glotz war ein kämpferischer Begleiter bis zu seinem frühen Tode.
Der Weg dahin war außerordentlich schwierig – es war eine Art Extrembergsteigen – und der Weg war nicht ohne Verwerfungen und Steinschlag. Ohne Bernd Neumann wäre es 2005 nicht gelungen, das Vorhaben politisch umzusetzen und Wolfgang Thierse als Mitstreiter zu gewinnen. Die Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist jetzt auf einem guten Weg.
Ich begrüße, dass Bernd Neumann mehrfach deutlich gemacht hat und in der Stiftungskonzeption hat festschreiben lassen, dass der Schwerpunkt der Arbeit und der Ausstellung das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen ist.
Das BVFG hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Erinnerung an Schicksal und Kultur der Heimatvertriebenen nicht erloschen sind. Dieses Gesetz hat das kulturelle Erbe aus dem Osten auch behütet. Gesetze allein vermögen aber nicht, Bewusstsein zu schaffen. Dazu bedarf es der Menschen.
Damit wir in Deutschland zu uns selbst finden und damit Europa immer mehr zu einer Gemeinschaft werden kann, dürfen wir die Vergangenheit nicht vergessen und verdrängen.
Zukunft braucht Herkunft, auch eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Wir brauchen für eine fruchtbare lebensvolle und gute Zukunft die Wurzeln, aus denen sich unsere Identität speist. Dazu trägt das BVFF seit 60 Jahren bei.