Schlusswort zur Gedenkstunde zum nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2024 im Konzerthaus Berlin

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius

Sperrfrist: 20. Juni 2024, 13:00 Uhr

Es gilt das gesprochene Wort!

 

Sehr geehrte Bundesministerin Frau Paus,
sehr geehrte stellvertretende Generaldirektorin Frau Vojáčková-Sollorano,
hohe Geistlichkeit, 
sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages und der Landtage, 
liebe Zeitzeugen, verehrte Gäste!

Bereits Mitte 1944 – lange vor dem Ende des von Nazideutschland verbrochenen Zweiten Weltkrieges – begannen Flucht und Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung aus den damaligen deutschen Ostgebieten und aus den Heimatgebieten Deutscher in Südosteuropa. 

Die Deutschen aus dem Donauraum zählten zu den ersten Opfern: 80 Jahre ist es diesen Sommer her, dass viele Menschen dort keine andere Alternative sahen, als ihr Hab und Gut auf Leiterwagen oder Pferdefuhrwerke zu laden und sich auf den Weg nach Westen zu machen. 

Die Niederlage des Deutschen Reiches zeichnete sich ab. Der Vernichtungsfeldzug des Nazi-Regimes hatte große Teile von Europa in Schutt und Asche gelegt. Die Furcht vor der Rache wurde zu einer existenziellen Angst, sodass immer mehr Deutsche das Risiko einer Entwurzelung – eines Heimatverlusts – in Kauf nahmen.

Die Angst war berechtigt – und sie wurde von innen wie außen geschürt und instrumentalisiert.

Am 21. Oktober 1944 – also ebenfalls vor bald 80 Jahren – überschritt die Rote Armee in Ostpreußen, etwa 10 Kilometer südostlich von Gumbinnen, die Angerapp und fiel auch in die kleine Ortschaft Nemmersdorf ein. 

Mit äußerster Brutalität gingen die sowjetischen Soldaten gegen die dortige deutsche Zivilbevölkerung vor. Wahllos wurden Menschen aus ihren Häusern gezogen und erschossen. Frauen wurden vergewaltigt. Geschäfte wurden geplündert, Anwohner wertvoller Habseligkeiten beraubt.

Als die Rote Armee zwei Tage später militärisch wieder zurück über die Angerapp gedrängt wurde, fanden die überlebenden Dorfbewohner die Leichen ihrer ermordeten Nachbarn, Freunde oder Familienangehörigen. Sie waren achtlos in eine offene Grube geworfen worden, lagen am Straßenrand, noch am Ort ihrer Hinrichtung; eine Frau saß tot mit gefalteten Händen in der Stube auf ihrem Stuhl.

Wie kaum ein anderes Ereignis wurde dieses Massaker von Nemmersdorf im weiteren Kriegsverlauf instrumentalisiert. 

Goebbels‘ Propagandaministerium ließ Meldungen herausgeben, die in Opferzahlen und Detailreichtum die ohnehin furchtbare Realität noch bei weitem übertrafen. Erkennbar war das Ziel, die Zivilbevölkerung in noch größere Angst zu versetzen und die eigenen Soldaten zu einem noch rücksichtsloseren Vorgehen anzustacheln.

Umgekehrt übernahm die Sowjetunion diese Übertreibungen schnell, behauptete aber in ihrer eigenen Propaganda, die Nazis selbst hätten das Dorf überfallen – verkleidet als Soldaten der Roten Armee. 

Beide „Propaganda-Erzählungen“ haben sich festgesetzt und behindern das würdige Gedenken an die Opfer von Nemmersdorf bis heute. Nach wie vor gibt es Menschen, die ungeprüft glauben, was die damals zentral gesteuerte deutsche Tagespresse Ende Oktober 1944 über das Massaker berichtete. 

Umgekehrt kann man auch jetzt noch von manchen russischen Reiseführern im „Kaliningrader Oblast“ hören, dass die Deutschen selbst in Verkleidungen der Roten Armee ihre eigenen Mitbürger „lebendig an Stalltüren genagelt“ haben sollen.

Derartige Destruktion und Manipulation ist leider auch ein Geschehen der Gegenwart, wenn man so manche Lügengeschichte aus Putins Propagandamaschine heute aufgetischt bekommt.

Das Massaker von Nemmersdorf war jedenfalls dort, im Nordosten des damaligen Deutschlands, das entscheidende Ereignis für unzählige Menschen, die in der Flucht ihre einzige Chance auf Rettung sahen. Daran schlossen sich die Vertreibungen an, und es kam zu ethnischen Säuberungen, Deportation und weiteren Rachephänomenen. 

Heute wissen wir, dass mehr als zwei Millionen Deutsche dies alles – und die Folgen – nicht überlebten.

Die Opfer von Nemmersdorf selbst konnten nicht mehr flüchten, die Rache der Sieger erreichte sie noch zu Hause. Doch sie gehören für uns selbstverständlich ebenfalls zu den Opfern von Flucht und Vertreibung. Daher wollen wir heute auch ihrer gedenken.

Meine Damen und Herren,

fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, am 5. August 1950, erklärten die deutschen Heimatvertriebenen in ihrer Charta, dass das Schicksal der Flüchtlinge ein „Weltproblem“ ist, dessen Lösung den „höchsten sittlichen“ Einsatz sämtlicher Völker erfordere.

Sicher drang dieser eindringliche Appell zu den Vereinten Nationen durch, als sie knapp ein Jahr später – noch unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges, aber auch neuerer Konflikte – die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedeten. Damit wurde auch der Arbeit des parallel gegründeten UN-Flüchtlingskommissariats eine rechtliche Grundlage gegeben. 

Für mich ist es ein versöhnlicher Gedanken, dass auch das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge so früh zum UNHCR und zur umfassenden Betrachtung des Weltproblems Flucht und Vertreibung beigetragen hat.

Als 2001 das 50-jährige Jubiläum des UNHCR begangen und der Weltflüchtlingstag, der ja heute ebenfalls stattfindet, ausgerufen wurde, war dieser Gedanke vielleicht nicht mehr so im Fokus. 

Als aber die Bundesregierung vor nunmehr 10 Jahren die Einführung des Nationalen Gedenktages für die Opfer von Flucht und Vertreibung – mit einem Schwerpunkt auch auf das Gedenken an eigene Opfer – beschloss und diesen auf den Weltflüchtlingstag legte, wurde dieser Sachzusammenhang wieder offenbar.

Noch selbstverständlicher als vorher wird seither deutlich, dass jedem unserer rund 15 Millionen vertriebenen Landsleute aus: 

  • Schlesien, Pommern, Ostbrandenburg,
  • Danzig, Ost- und Westpreußen, dem Baltikum,
  • dem Sudetenland,
  • dem Karpaten- und dem mittleren Donauraum,
  • den deutsch besiedelten Gebieten der damaligen Sowjetunion

mit der Vertreibung und dem Heimatverlust genauso ein Unrecht widerfahren ist wie jedem heutigen Vertriebenen, der von Unrechtsregimen verjagt wird, wie jedem Flüchtling, der aus Angst vor Verfolgung und Tod seine Heimat verlassen muss.

Die Anerkennung all dieser Schicksale in einem Gedenktag zeigt die staatliche und gesellschaftliche Empathie. Sie zeigt aber auch, dass unser Land sich seiner fortwährenden Verantwortung für eigene Opfer bewusst ist.

Heute sehen wir in direkter europäischer Nachbarschaft, wie notwendig und wie wichtig solches Gedenken ist. 

Die eigenen Erfahrungen lehren uns, 

  • dass es gilt, Völker im Kampf um ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung zu unterstützen, 
  • dass es gilt, Vertreibungen weltweit strafbewehrt zu ächten,
  • dass es gilt, Flüchtlingen zu helfen, aber gleichzeitig die Fluchtursachen international zu bekämpfen,
  • dass es gilt, Flüchtlingen auch die Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen und Lebensperspektiven dort zu eröffnen, weil das Heimatrecht für alle Menschen gilt.

Gerade wir, meine Damen und Herren, wissen und wollen niemals vergessen, dass jeder Krieg, jede Vertreibung, jede ethnische Säuberung – gleichgültig wo, wann und mit welcher Begründung – immer Verbrechen sind. 

Sie zerstören Existenzen und schädigen ganze Gesellschaften.

Ich danke Ihnen, dass wir gemeinsam diese Gedenkstunde begehen konnten.