Unter dem Leitwort „Identität schützen – Menschenrechte achten“ hatte der Bund der Vertriebenen am 3. September 2016 zum zentralen Festakt zum Tag der Heimat in den Humboldt-Saal der Urania Berlin eingeladen. Die Festrede hielt in diesem Jahr Bundespräsident Joachim Gauck. Der prominente Redner und das nach innen wie außen gleichermaßen wirkende Leitwort mögen der Grund dafür gewesen sein, dass erneut viele Gäste aus ganz Deutschland die teils weite und beschwerliche Anreise auf sich genommen hatten. Darüber hinaus durfte BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius MdB etliche Vertreter aus Bundes- und Landespolitik sowie aus dem Diplomatischen Corps begrüßen. So waren u.a. der Präsident des Hessischen Landtages, Norbert Kartmann, die bayerische Staatsministerin für Arbeit und Soziales, Familie und Integration, Emilia Müller MdL, der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Stephan Mayer, der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Vertriebene, Aussiedler und deutsche Minderheiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Klaus Brähmig, BdV-Ehrenpräsidentin Erika Steinbach MdB, der Apostolische Nuntius in Deutschland, Erzbischof Dr. Nikola Eterović, sowie etwa die Botschafter Ägyptens, Armeniens, Litauens oder Serbiens zur Veranstaltung gekommen. Die rege Teilnahme sei ein Zeichen dafür „welch hohen Stellenwert der Tag der Heimat für uns, für unseren Verband, aber auch in der gesamten deutschen Gesellschaft genießt“, erklärte der BdV-Präsident zu Beginn.
Im Geistlichen Wort deutete der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für die Flüchtlings-, Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge, Weihbischof Dr. Reinhard Hauke, das Leitwort aus geistlicher Perspektive. Menschenrechte seien übergeordnete Rechte, die Menschen nicht selbst einander zusprechen könnten. Gott habe sie dem Menschen verliehen, und auch vor ihm müsse „sich jeder Mensch für seinen Umgang mit der Welt und dem Menschen verantworten“, so Hauke. Einfühlsam sprach der Weihbischof Worte zum Gedenken an die während Flucht und Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit umgekommenen Deutschen und erinnerte an „Männer, Frauen und Kinder anderer Völker, die aus Menschlichkeit und Nächstenliebe“ damals geholfen hätten. Davon ausgehend ermunterte er zur Anteilnahme am Schicksal heutiger Vertreibungsopfer. Der Blick zurück mahne dazu, „für Wahrheit und Versöhnung einzutreten, damit dem Bösen zu rechter Zeit gewehrt werde, Recht und Gerechtigkeit gewahrt werden und Frieden das Zusammenleben der Völker bestimme.“
Bundespräsident Joachim Gauck begann seine Rede mit einer persönlichen Bemerkung: Wegen seiner ohnehin vorhandenen Verbundenheit mit der Geschichte der deutschen Heimatvertriebenen habe schon seit Beginn seiner Amtszeit für ihn festgestanden, dass er einmal als Bundespräsident beim Tag der Heimat sprechen wolle. Differenziert und zugewandt betrachtete Gauck im Folgenden das Schicksal der Vertriebenen, Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler in den vergangenen sieben Jahrzehnten. Dabei bedauerte er, dass die Vertreibung von vielen lange als „Kollektivbestrafung für die Verbrechen“ der Deutschen im Zweiten Weltkrieg akzeptiert worden und erst spät aus dem „Erinnerungsschatten“ herausgetreten sei. Die im letzten Jahr beschlossene Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter zeige, dass „noch immer nicht alle Wunden geheilt“ seien. Ebenso sprach er aber Gründe an, die seiner Ansicht nach das Heimischwerden der Vertriebenen im Nachkriegsdeutschland erschwert hätten.
Die ideologische Marginalisierung oder gar die Unterdrückung der Themen „Flucht und Vertreibung“ sowie „Geschichte und Kultur der ehemaligen deutschen Ostgebiete“ seien heute „glücklicherweise überwunden“, so der Bundespräsident. Diese Themen gehörten „in das kollektive Gedächtnis der ganzen Nation.“ Deshalb seien Erinnern, Gedenken und Traditionsbewahrung über die Verbandsarbeit hinausgehende Aufgaben. „Die Vertriebenen dürfen, ja sie sollen sich erinnern, damit ihre Seelen Frieden finden. Die Gesellschaft darf, ja sie soll sich erinnern, um – gerade in der heutigen Zeit – Sensibilität gegenüber den Themen Flucht und Vertreibung auf der ganzen Welt zu schaffen und zu erhalten“, erklärte Bundespräsident Gauck den aus der Vergangenheit erwachsenden Auftrag für Gegenwart und Zukunft.
Über das Leitwort zum Tag der Heimat schlug das Staatsoberhaupt die Brücke zu aktuellen Fragen. So sei Identität „keinesfalls als starres, unveränderbares, gar bestimmendes Schicksal“ zu verstehen, „sondern als Prägung, die auch von Wunsch und Willen des Einzelnen abhängig ist.“ Stets gelte es, sich veränderten Bedingungen anpassen und diese als Chance begreifen zu können. Der Fall des Eisernen Vorhangs habe Vertriebenen und Aussiedlern Begegnungen mit den Bewohnern ihrer Heimatgebiete, Reisen und Kulturaustausch ermöglicht – und damit „eine Wiederaneignung in neuem historischen Kontext.“ Man könne beobachten, dass „Erinnerungen, die über Jahrzehnte konkurrierend nebeneinander oft auch gegeneinander standen, heute öfter miteinander verflochten und geteilt“ würden, betonte Gauck und skizzierte damit den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur.
Wie schon in seiner Rede zum ersten bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2015 ging der Bundespräsident auf die Schicksalsverwandtschaft von Vertriebenen und Flüchtlingen damals und heute ein – „die Zerrissenheit zwischen dem Nicht-Mehr-Dort- und Noch-Nicht-Hier-Sein.“ Gleichzeitig machte er deutlich, dass die Aufnahmesituation eine andere sei, zumal damals Deutsche ohne eine Rückkehroption zu Deutschen kamen, während heute Schutzsuchende aus fremden Ländern kämen, denen die Rückkehr in die Heimat frei stehe, sobald die Lage vor Ort dies zulasse. Es gelte, völkerrechtliche Vereinbarungen zu achten, Bedürftigen mit Empathie zu begegnen und Opferkonkurrenz auszuschließen, erklärte Gauck und ergänzte: „Deshalb ist mir auch jene Haltung im aktuellen Diskurs fragwürdig, die die Flüchtlinge von heute willkommen heißt, das Schicksal der Landsleute von damals aber ignoriert oder marginalisiert.“ Dass es bereits gelinge, das Leid unterschiedlicher Zeiten zu verknüpfen, zeigten Untersuchungsergebnisse, nach denen ein Drittel unter den ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern selbst einer Vertriebenenfamilie entstamme.
Abschließend erklärte Bundespräsident Gauck: „Wir werden festhalten an unseren Grundlagen der Demokratie und des Rechtes. Und wir werden geprägt bleiben vom humanen Geist und einer Haltung der Offenheit, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit gegenüber Verfolgten, Vertriebenen und Entrechteten.“
BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius dankte dem Bundespräsidenten dafür, dass er gemeinsam mit dem Bund der Vertriebenen Licht in den Erinnerungsschatten bringe, der über dem Schicksal der Heimatvertriebenen liege. „Identität schützen – Menschenrechte achten“ beziehe sich als Leitwort auch auf jene Themen, die erst langsam in den Fokus geraten. So hätten Deportation und Zwangsarbeit deutscher Zivilisten allein aufgrund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit und ohne individuelle Schuld, „rein nach dem willkürlichen Prinzip einer Kollektivhaftung“, bei vielen Betroffenen einen Identitätsbruch bewirkt. Der vor 75 Jahren ergangene Stalin-Erlass zur Deportation der Wolgadeutschen sei ein „Unheilsspruch über eine ganze Volksgruppe“. Das Leitwort könne aber auch „für die Zukunft als Wegweiser dienen“, denn wann immer die Identität durch dramatische Lebensereignisse in Gefahr sei, brauche man Anknüpfungspunkte wie etwa Traditionen und Bräuche, die es als identitätsstiftende Merkmale zu erhalten gelte.
Das Kulturerbe der Vertriebenen, Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler, erklärte der BdV-Präsident, sei „ein wesentlicher Teil der gesamtdeutschen, ja gesamteuropäischen Kultur“. Dr. Fabritius lobte die Entwicklungen auf Bundesebene, forderte aber mehr Einsatz von vielen Bundesländern. Der gesetzliche Auftrag zum Erhalt und zur Weiterentwicklung des Kulturerbes müsse ernst genommen werden. Der Verband mache hier „keine Kompromisse“.
Überwiegend positiv bewertete Dr. Fabritius die Entwicklungen im Verhältnis zu den meisten östlichen Nachbarländern. Heimatvertriebene und Spätaussiedler wollten „gute Gesprächspartner und Vermittler zwischen Deutschland und unseren östlichen Nachbarländern“ bleiben. Ein Rückfall in rein nationale Denkmuster der Vergangenheit schade letztlich Europa und allen seinen Bürgern.
Fabritius erneuerte seine bereits im letzten Jahr geäußerte Forderung, den heute nach Deutschland kommenden Schutzbedürftigen Empathie zu zeigen. Von anderen Zuwanderern forderte er Solidarität mit den wirklich Verfolgten und ein Freihalten der für diese geschaffenen Aufnahmewege. Mit dem Verweis auf die 1950 verabschiedete Charta der deutschen Heimatvertriebenen äußerte er die Vermutung, „dass es um den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland besser bestellt wäre, gäbe es ein ähnliches eigenes Bekenntnis der Zuwanderer und Flüchtlinge heutiger Tage … – eine ‚Charta der Flüchtlinge und Zuwanderer‘ mit eindeutigen Bekenntnissen zum deutschen Rechtsstaat, seiner demokratischen Grundordnung und unserer Wertegemeinschaft. Vielleicht auch dem Wunsch nach Rückkehr und zum Aufbau der eigenen Heimat.“
Beim würdigen Totengedenken am Mahnmal der deutschen Heimatvertriebenen, der „Ewigen Flamme“ auf dem Berliner Theodor-Heuss-Platz, sprachen in diesem Jahr der Berliner Innensenator Frank Henkel, der Berliner Landesvorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Staatssekretär a.D. Rüdiger Jakesch, sowie BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius. Die höchsten Staatsämter, die Bundesländer, die Landsmannschaften und viele weitere gesellschaftliche Gruppen ließen zu Ehren der Toten Kränze niederlegen.
Marc-P. Halatsch