"Vertreibungen sind immer Verbrechen"

Gedenkstunde am nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2023 in Berlin

Zu ihrer neunten Auflage kehrte die Gedenkstunde der Bundesregierung anlässlich des nationalen Gedenktages für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2023 ins „historische Berlin“ zurück. In den Kleinen Saal des Konzerthauses Berlin hatte das Bundesministerium des Innern und für Heimat Zeitzeugen von Flucht und Vertreibung am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg, Amtsträger des Bundes der Vertriebenen und seiner Mitgliedsverbände, Flüchtlinge heutiger Tage, interessierte Schüler und Jugendliche sowie einen Querschnitt aus gesellschaftlichen Institutionen von Kirchen über Hilfsorganisationen bis hin zu Museen und Ausstellungen eingeladen. 

Innenministerin Nancy Faeser: Brücken zwischen gestern, heute und morgen

Die Bundesinnenministerin, Nancy Faeser, begrüßte die Gäste und stellte in ihrer Ansprache die Universalität des Heimatverlustes in den Mittelpunkt. Der Gedenktag für die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung werde nicht zufällig am Weltflüchtlingstag begangen. Beides sei zusammenzudenken, betonte Faeser und erinnerte eindrücklich an die schwierige Zeit der Ankunft der Vertriebenen in Westdeutschland 1945 und in den Jahren danach – an das harte Aufeinandertreffen unterschiedlicher deutscher Kulturen, an Sozialneid und an Vorurteile gegenüber den Ostdeutschen. 

Zugleich wies sie darauf hin, dass derzeit nach Angaben der Weltflüchtlingshilfe UNHCR rund 108 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht seien. In Europa habe der Ukrainekrieg zur größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Die Schicksale damals und heute seien zwar unterschiedlich, aber die Erfahrung des Heimatverlustes, die erlittenen Traumatisierungen und die damit verbundenen Unsicherheiten und teilweise lebenslangen Folgen seien miteinander vergleichbar. Diesen Gedanken griff BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius später, in seinem Schlusswort, auf und führte ihn noch weiter: „Und wir haben – vielleicht sogar mehr als andere – den aufmerksamen und empathischen Blick für und auf die Opfer von Flucht und Vertreibung der Gegenwart, des Jetzt.“ Die Vertriebenen wüssten nur zu genau, dass Flucht und Vertreibung für jeden Betroffenen auch ein Davor und ein Danach hätten. 

Innenministerin Faeser berichtete außerdem über ein „Oral-History-Projekt“ mit Schülern der Berliner Robert-Jungk-Oberschule und Zeitzeugen – ein Veranstaltungsformat, das auch früher schon in Verbindung mit dem Gedenktag stattfand und das nach der Corona-Pandemie nunmehr wieder aufgenommen wurde. Der Austausch mit den Zeitzeugen, so hätten es die Schüler später erklärt, sei nicht nur interessant, sondern auch notwendig. Manche hätten in der Vorbereitung auf die Veranstaltung zum Gedenktag erstmalig von Flucht und Vertreibung der Deutschen gehört. Für die Schüler standen eine Heimatvertriebene aus Pommern und ein Flüchtling aus Afghanistan als Gesprächspartner zur Verfügung, eine Kombination, die, der Ministerin zufolge, „Brücken zwischen gestern, heute und morgen“ baue und lebendige Erinnerungskultur wachsen lasse. 

Christiane Hoffmann: Heimat, Verlust, Erinnerung

Im Anschluss an die Rede der Bundesinnenministerin sorgte die Journalisten und Autorin Christiane Hoffmann, die derzeit als stellvertretende Regierungssprecherin tätig ist, für einen emotionalen Höhepunkt der Gedenkstunde. Hoffmann, deren Vater aus Schlesien und deren Mutter aus Ostpreußen stammt, trug prägnante Passagen aus ihrem Buch „Alles, was wir erinnern“ vor, in dem sie ihre Entdeckungsreise auf der Fluchtoute ihres Vaters und sehr persönliche Erinnerungen niedergeschrieben hat. 

Dabei ging sie auch darauf ein, was Flucht und Vertreibung und das Zurücklassen des gesamten Lebens bedeutet: „Andere erbten Höfe, Häuser, Betriebe, die ihre Großväter gegründet, Grundstücke mit Bäumen, die ihre Urgroßväter gepflanzt hatten, erbten Tischwäsche und Silberbesteck mit Familieninitialen (…). In unserer Familie gab es nichts. Es gab keinerlei Besitz, der aus der Tiefe der Jahrhunderte kam, noch nicht einmal ein Fotoalbum, nur ein paar mühsam zusammengesuchte Fotos aus dem Besitz der Schwester Deiner Mutter, die vor dem Krieg nach Franken geheiratet hatte. (…) Der einzige Gegenstand, der in unserer Familiengeschichte je eine Rolle spielte, war das Oberteil Deines Matrosenanzugs, und das existierte nur in der Erinnerung. Er symbolisierte nichts als den Verlust. Wir erbten nur diese Geschichte.“

Auch das Schicksal vieler Kinder, deren spätere innere Konflikte mit der Fluchterfahrung und das darauf fußende Nicht-Erinnern-Wollen nimmt Hoffmann eindrücklich in den Blick: „Wenn Dein Vater von Rosenthal erzählt, blüht er auf, dann ist er fast glücklich, er kehrt zurück nach Rosenthal in seinen munteren Erzählungen, er ist wieder zu Hause. (…) Du erinnerst Dich nicht. Die ersten neun Jahre Deiner Kindheit sind ausgelöscht, Deine Herkunft ist im Dunkeln versunken, verschwunden hinter Deinem eigenen Eisernen Vorhang. So bleibt Rosenthal verloren, aber Du hast nichts verloren. Wer sich nicht erinnert, hat nichts verloren. Wer nichts verloren hat, braucht auch nicht zu trauern. Was man nicht erinnert, kann man auch nicht vermissen. Dabei ging es gar nicht um den Besitz, der Besitz war ja nicht der eigentliche Verlust, sondern das, was sie Heimat nennen, die unzähligen kleinen Vertrautheiten, die Gerüche, Farben, Bilder…“

Das auf Christiane Hoffmanns Beitrag folgende, vom aus der Ukraine geflüchteten Tenor Davyd Kadymian a cappella vorgetragene Volkslied „Hej Sokoli“ nahm diese Emotionalität auf – auch dadurch, dass Kadymian sich danach auf Ukrainisch für die Aufnahme und den Schutz sowie für den Beistand Deutschlands für die Ukraine im Krieg gegen Russland bedankte. Die weitere musikalische Gestaltung übernahmen junge Stipendiaten der Kurt-Sanderling-Akademie des Konzerthausorchesters Berlin.

Abdulaziz Ramadan: Das Schicksal in die Hand nehmen

Auch beim aus Syrien geflüchteten Kurden Abdulaziz Ramadan spürte man die Traumatisierungen, die er nach eigener Erzählung durch den Umgang des syrischen Staates mit seiner Volksgruppe erfahren hatte. Bereits die Unruhen 2004, als syrische Sicherheitskräfte in mehreren Städten brutal gegen kurdische Demonstranten vorgingen, brachten Ramadan als Studenten in Damaskus gegen das Assad-Regime auf. Unter dem Pseudonym „Xoşewîst“ verfasste er Flugblätter und organisierte ein internationales Studenten-Netzwerk, um den Kurden in Syrien und darüber hinaus zu helfen. Sein Fluchtweg führte ihn über Istanbul nach Leipzig, wo er Deutsch lernte, weiter studierte und eine Familie gründete. Nach wie vor halte er die Verbindung in seine Heimat und habe mit anderen im syrischen Quamishlo und in Deutschland den DOZ e.V., einen Verband Deutsch-Syrischer Hilfsvereine, gegründet und aufgebaut. Ramadan betonte, dass man zum einen das Schicksal in die Hand nehmen müsse, dass aber auf der anderen Seite die Heimat und das Zuhause immens wichtig seien. Sehr bewegend schilderte er, dass er wieder unter seinem kurdischen Pseudonym „Xoşewîst“, seinem heutigen Künstlernamen, schreibe und Lyrik auf Deutsch und Arabisch veröffentlicht habe.

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius: Vertreibungen sind immer Verbrechen

Zentrale Themen im Schlusswort von BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius waren die Erinnerungskultur und die Verankerung des Wissens über Flucht und Vertreibung im Gedächtnis der Nation. Die Vertriebenenverbände und die Menschen, die sie vereinten, seien dankbar für die Gesten des Gedenkens aller Bundesregierungen, denn nur so erlange auch die Vertreibung der Deutschen aus ihren Heimatgebieten ihren angemessenen Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein. 

Fabritius zitierte den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, der auch als früher Unterstützer der Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN in Erscheinung trat. Gauck hatte mehrfach betont, dass die notwendige Beschäftigung Deutschlands mit der eigenen Schuld ebenso notwendig die Beschäftigung mit dem selbst erfahrenen Leid ermöglichen müsste. Es gelte den „Schatten der Erinnerung“ abzustreifen. Daher sei es gut, so Fabritius, dass am 20. Juni der eigenen Opfer gedacht werde. „Es ist gut, dass wir in einer Zeit leben, die auf historische Wahrhaftigkeit Wert legt“, betonte der BdV-Präsident.

Szenenapplaus gab es, als Fabritius seine Überlegungen zu Flucht und Ankunft der Vertriebenen damals und heute und zum Unrecht von Vertreibungen zusammenfasste: „Wir wollen niemals vergessen, dass jede Vertreibung, jede ethnische Säuberung – gleichgültig wo, wann und warum – immer Verbrechen sind. Sie zerstören Existenzen und schädigen ganze Gesellschaften.“ 

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius spricht bei der Gedenkstunde für die Opfer von Flucht und Vertreibung 2023 (Foto: Bundesregierung/Henning Schacht).