Während in großen Städten Westdeutschlands, wie jüngst etwa durch einen Festakt in Aachen, der Befreiung durch amerikanische Truppen im Oktober 1944 gedacht wird, erinnern sich die deutschen Vertriebenen, so etwa die Ostpreußen, dieser Tage an den Beginn ihrer Leidenszeit und den großen Exodus aus ihrer Heimat im damaligen deutschen Osten. Dazu erklärt BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius:
Am 16. Oktober 1944 begann die sowjetische Offensive auf Ostpreußen. Die Rote Armee überschritt in den folgenden Tagen an mehreren Stellen die deutsche Reichsgrenze und drang weit in Ostpreußen ein. Bei Nemmersdorf, einem kleinen Dorf südwestlich von Gumbinnen, rückten die Verbände am 21. Oktober 1944 am weitesten nach Westen vor. Einer der Kommandeure schrieb in einem Gefechtsbericht, „Nemmersdorf ist von der Infanterie des Gegners und der friedlichen Bevölkerung gesäubert worden.“ Wie diese „Säuberung“ aussah, stellten deutsche Truppen bei der Rückeroberung des Dorfes in den folgenden Tagen fest.
In der Erinnerung der Vertriebenen ist Nemmersdorf zu einem Sinnbild für die Gräueltaten geworden, mit denen die Rote Armee, propagandistisch vom Stalin-Regime angestachelt, auf ihrem Rachefeldzug für die Verbrechen Nazideutschlands gezielt Angst und Schrecken verbreitete. Es gibt heute keine Zweifel an den Kriegsverbrechen, die damals auch von sowjetischen Soldaten begangen wurden – an den zahllosen deutschen Zivilisten, die getötet oder deportiert wurden, sowie an den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen.
Umso verachtenswerter ist es, dass in nationalistischen Kreisen in Deutschland und Russland gerade in den Berichten zu Nemmersdorf bis heute entweder die maßlosen Propaganda-Übertreibungen der Nazis oder die von sowjetischer Seite gesteuerte, absichtliche Verkehrung der Ereignisse in ein Verbrechen von Deutschen an ihrem eigenen Volk bedient werden.
Gleichzeitig mit Nemmersdorf, auch am 21. Oktober 1944, kapitulierten in Aachen, weit im Westen des Reiches, die eingeschlossenen Truppen der Wehrmacht. Damit endete in der ersten deutschen Großstadt die NS-Herrschaft und die Verwaltung ging auf die Amerikanische Militärregierung über. Schon kurz darauf bildeten sich neue demokratische Strukturen.
Das „Massaker von Nemmersdorf“ und die Befreiung von Aachen offenbaren im Vergleich, wie unterschiedlich die sich abzeichnende Niederlage des nationalsozialistischen Regimes sich in West und Ost auf die deutsche Bevölkerung auswirkte – und wie wenig dies in der Öffentlichkeit heute präsent ist.
Nemmersdorf ist für die Vertriebenen ein Symbol all dessen, was die ostdeutsche, hier besonders die ostpreußische, Zivilbevölkerung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erleiden musste. Das Massaker markiert zugleich den Beginn einer Massenflucht biblischen Ausmaßes, an die sich die Vertreibungen mit den bekannten Begleitverbrechen anschlossen.
Während in Aachen schon im Januar 1945 als erste freie Zeitung die „Aachener Nachrichten“ erschienen, erlitt die ostdeutsche Zivilbevölkerung am 30. Januar 1945 mit der Versenkung des Flüchtlingsschiffs „Wilhelm Gustloff“ durch sowjetische U-Boote, der größten Schiffskatastrophe der Menschheit mit insgesamt fast 9.500 Toten, einen weiteren, furchtbaren Schicksalsschlag.
Während die West-Alliierten begannen, in befreiten Städten den Grundstein für eine demokratische Nachkriegsordnung zu legen, übten Stalins Soldaten Rache an der deutschen Zivilbevölkerung. Angesichts der von der Roten Armee provozierten Fluchtbewegungen erklärte der sowjetische Diktator zynisch: „Wo unsere Truppen hinkommen, laufen die Deutschen weg.“
Umso wichtiger ist es, dass Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten – die Gewalterfahrung und der Heimatverlust – im Gedenken an das nahende Kriegsende einen gleichberechtigten Platz neben anderen, freudigeren Erinnerungen finden. Unserer Erinnerungskultur und auch diesem 80. Jahrestag angemessen wäre eine Würdigung dieses Schicksals durch die obersten Repräsentanten unseres Staates.
Illustration: Bundesarchiv, Bild 146-1990-001-30 / Autor/-in unbekannt / CC-BY-SA 3.0