Am 18. November 2024 veranstaltete der Bund der Vertriebenen als anerkannter Träger der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) ein Zeitzeugengespräch mit Podiumsdiskussion, bei dem unter dem Titel „Zwischen Assimilation und Selbstbehauptung – Auswirkungen von Flucht und Vertreibung in den sozialistischen Staaten Europas und der Fall des Eisernen Vorhangs“ intensiv und facettenreich diskutiert wurde.
Im Kirchsaal des Tagungszentrums „Hotel Dietrich Bonhoeffer Haus“ begrüßte zunächst BdV-Generalsekretär Marc-Pawel Halatsch die anwesenden Gäste und stellte die späteren Teilnehmer der Podiumsdiskussion vor. Mit Zeitzeuge Heinrich Melzer, dem Beauftragten des Freistaates Sachsen für Vertriebene und Aussiedler, Dr. Jens Baumann, und dem Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten (AGDM) in der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN), Bernard Gaida, konnten hochkarätige Diskutanten für die Veranstaltung gewonnen werden.
Zunächst aber begrüßte auch der für Öffentlichkeitsarbeit im Bonhoeffer-Haus zuständige Peter Oppermann die Gäste im Namen des Hauses und gab einen spannenden Einblick in die Historie des Gebäudes und des Veranstaltungsraumes. Nicht nur, dass sich Namensgeber Dietrich Bonhoeffer für ähnliche Ziele wie der BdV eingesetzt habe, wie für Menschenrechte, für Humanität und ein friedliches Miteinander; auch der Kirchsaal des Hauses, wo drei der bekannten „Runden Tische“ im Dezember 1989 stattgefunden haben, passe genau zur Veranstaltung und den zu diskutierenden Inhalten.
Im folgenden Zeitzeugengespräch zwischen Moderator Tilman A. Fischer und Heinrich Melzer, erzählte der Zeitzeuge zunächst von der Vertreibung zusammen mit seinen Eltern von ihrem Hof im Sudetenland. Die Familie kam nach Thüringen und der Vater konnte dort bei einem Landwirt auf dem Hof als Angestellter arbeiten. Heinrich Melzer berichtete, dass sich die Eltern aber erst richtig angekommen fühlten, als sie im Ergebnis der Bodenreform in der DDR in die Lage kamen, einen eigenen Hof zu pachten. Die Vertreibung jedoch sei öffentlich tabu gewesen; auch Treffen mit Schicksalsgenossen waren in der DDR nicht möglich. Dennoch erinnerte sich Melzer, dass ihn sein Vater das eine oder andere Mal zu einem informellen Treffen von Vertriebenen – in der DDR euphemistisch „Umsiedler“ genannt – mitgenommen habe. Das Elternhaus im Sudetenland habe er später besucht und sich mit den neuen Bewohnern versöhnlich verständigt.
Ein Beitrag aus dem Publikum ergänzte Heinrich Melzers Bericht und gab den Gästen eine dramatischere Perspektive der Vertreibung wieder. Zeitzeuge Oswald Wöhl wurde mit seinen Eltern zunächst einige Zeit in einem ehemaligen Konzentrationslager unter widrigsten Bedingungen interniert, bevor es weiter in die DDR ging. Auch andere Gäste aus dem Publikum ergänzten Melzers Darstellung mit persönlichen Erfahrungen.
Im weiteren Verlauf der Veranstaltung eröffnete der Moderator nun die Podiumsdiskussion zwischen Heinrich Melzer, Dr. Jens Baumann und Bernard Gaida und ließ die Gäste zunächst berichten, wie sie persönlich den 9. November 1989 erlebt hatten. So unterschiedlich die Podiumsteilnehmer, so unterschiedlich waren hier die Erzählungen. Sie reichten von einem Blick aus dem Solidarność-geprägten Polen (Bernard Gaida), über die Erfahrungen eines Studenten in Dresden (Jens Baumann) bis hin zum ersten Besuch in West-Berlin (Heinrich Melzer).
Zum Veranstaltungsthema berichtete Dr. Baumann, seit 1992 im Sächsischen Staatsministerium des Innern unter anderem im Bereich „Förderung und Bewahrung des gemeinsamen kulturellen Erbes“ tätig, von den Anfängen der Verständigung mit den östlichen Nachbarstaaten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Es überwögen in der Gesamtschau sicherlich die vielen positiven Beispiele, wenngleich auch immer noch Ressentiments auf beiden Seiten herrschten.
Bernard Gaida konnte dies als AGDM-Sprecher bestätigen, da die nationalistische Karte auch heutzutage in vielen Ländern gespielt werde, so zum Beispiel in Polen. Gaida berichtete von der Zeit der Sozialistischen Republik Polen, wo die deutsche Minderheit unter allen ethnischen Minderheiten als einzige keinerlei eigene Rechte hatte und im Bereich Oberschlesien der Gebrauch der deutschen Sprache bis 1989 sogar im Bereich der eigenen Familie verboten war. Schon in den 1980er Jahre seien sich die Deutschen in Polen sicher gewesen, dass Schlesien nicht mehr Teil eines wiedervereinigten Deutschlands sein würde, aber sie blickten hoffnungsvoll auf Europa und die europäische Integration. Als der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl nach Polen kam, war die Euphorie unter den Deutschen groß und trotz der Verhinderungsversuche der polnischen Regierung habe es eine Massenzusammenkunft mit dem deutschen Regierungsoberhaupt gegeben. Das in diesem Zusammenhang stets erwähnte Plakat „Helmut, Du bist auch unserer Kanzler!“ sei vor allem ein lauter Ruf gewesen, die deutsche Minderheit und ihr Schicksal im sozialistischen Polen im Zuge der Deutschen Einheit mitzubedenken. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs habe sich für die Minderheiten endlich die Möglichkeit ergeben, sich offiziell zu organisieren und neue Kontakte nach Deutschland und zu den anderen deutschen Minderheiten zu knüpfen.
Aus dem Publikum wurde die insgesamt sehr positive Verständigung mit den östlichen Nachbarstaaten hervorgehoben, wenngleich es auch heute noch Nachholbedarf gebe. Gerade viele Sudetendeutsche schmerze sehr, dass in der Tschechischen Republik immer noch „die unsäglichen Beneš-Dekrete“ gelten würden. In einem modernen Europa des 21. Jahrhunderts, in dem Friedenssicherung das höchste Gut ist, sei dies ein Aspekt aus dunkelster Vergangenheit, der dringend aufgearbeitet werden müsse.
Dr. Baumann nahm den Aspekt der Unrechtsdekrete auf, betonte aber, dass dieses leider noch vorhandene Negativbeispiel die vielen positiven Beispiele der grenzüberschreitenden Verständigung nicht überlagern dürfe. Manche „Vertreiberstaaten“, wie etwa Ungarn, hätten ihre Rolle in der Geschichte schon umfassend aufgearbeitet, Fehler eingeräumt, Restitutionsregelungen erlassen oder etwa einen eigenen Gedenktag für die Vertreibung der Deutschen eingerichtet. Der Beauftragte appellierte, nicht bei der Vertreibung stehen zu bleiben, sondern das gemeinsame, auch kulturelle Erbe in die Zukunft zu tragen und weiterhin an einem friedlichen Miteinander in Europa zu bauen –auf Basis der Fehler und Lehren der Vergangenheit. In der DDR hatte man zunächst keine Hoffnung, weil man schweigen musste und dieses Thema keine politische Relevanz hatte im Vergleich zu Westdeutschland. Dennoch hätten in Deutschland heute die allermeisten ihren Frieden gefunden und wollten nicht zurück in die alte Heimat. Durch die europäische Einigung jedoch könnten sie jetzt jedoch jederzeit dorthin fahren. Dies sei wiederum ein großes Glück für die Enkelgeneration und erleichtere es, sich mit der eigenen Familiengeschichte und dem Thema insgesamt auseinanderzusetzen. So ordne sich alles in die Geschichte ein und eine wesentliche Aufgabe sei nun, dies entsprechend zu begleiten, z.B. im Schulunterricht.
Bernard Gaida ergänzte, dass der große Eiserne Vorhang zwar gefallen sei, viele einzelne Vorhänge jedoch geblieben seien. Er verwies dabei nochmals auf antideutsche Ressentiments in Politik und Gesellschaft in manchen Staaten, aber auch aus Deutschland beim Blick nach Osten. Er monierte zudem, dass in den Museen oft der Eindruck entstehe, die Vertreibung habe die Geschichte der Deutschen im Osten beendet. Über das Schicksal und die heutige Lage Heimatverbliebenen werde nur sehr wenig berichtet, obwohl sehr viele Deutsche in ihrer Heimat geblieben und dort nach jahrzehntelanger Unterdrückung sich heute in Freiheit zum Teil wieder florierende Gemeinschaften herausgebildet hätten.
Nach einer kurzen Zusammenfassung durch Moderator Tilman A. Fischer wünschte sich Heinrich Melzer in einem eigenen kurzen Schlusswort, dass die ausgestreckten Hände der Heimatvertriebenen und ihrer Nachkommen die heutigen Staaten ihrer Heimatgebiete weiter ausgestreckt bleiben – und auch angenommen würden. Letztlich gelte es, jedes begangene Unrecht anzuerkennen – von Deutschland, aber auch von den Vertreiberstaaten.