Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen am 28. März 2023 in Berlin

Bundeskanzler Olaf Scholz hält Festansprache

 

Programm


Katholische Akademie - Hotel Aquino Tagungszentrum, Hannoversche Straße 5 b, 10115 Berlin
Einlass ab 17:00 Uhr, Beginn des Progamms um 18:00 Uhr

Begrüßung und Eröffnung

Dr. Bernd Fabritius
Präsident des Bundes der Vertriebenen

Festansprache

Olaf Scholz
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

Empfang


Begrüßungsrede beim Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen am 28. März 2023 in Berlin

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius

Meine Damen und Herren,

ganz herzlich willkommen zum traditionellen Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen.

Ich begrüße Sie alle herzlich im Namen des gesamten BdV-Präsidiums des Bundes der Vertriebenen und aller im Bundesausschuss unseres Verbandes vertretenen Mitgliedsverbände. Es freut mich außerordentlich, dass Sie so zahlreich unserer Einladung gefolgt sind. Ihr Zuspruch, meine Damen und Herren, zeigt, dass unser Verband durch seine verlässliche Arbeit und seine öffentlichen Positionierungen eine konstante Strahlkraft entwickelt– sowohl in Deutschland als auch über die Grenzen hinaus.

Eine großartige Tradition, die in der Vergangenheit fest zu unserem Jahresempfang gehörte, nehmen wir heute wieder auf: Wir sind stolz darauf, dass unser Jahresempfang über viele Jahre eine feste Größe im Terminkalender unserer Kanzler gewesen ist. Es ist mir eine ganz besondere Ehre, zum ersten Mal Sie, lieber Herr Bundeskanzler Olaf Scholz bei uns zu begrüßen. Ganz herzlich willkommen. Wir werten Ihre Anwesenheit, lieber Herr Bundeskanzler, heute als Zeichen der beständigen Verbundenheit der Bundesregierung mit den deutschen Heimatvertriebenen, den Aussiedlern und Spätaussiedlern und unseren Landsleuten in Mittel- und Osteuropa sowie in Zentralasien, also unseren Heimatverbliebenen. Dazu aber später mehr.

Ich begrüße zuerst die vielen Abgeordneten aus dem Deutschen Bundestag und aus den Landesparlamenten – darunter ehemalige Minister und Staatssekretäre, die dem BdV stets in guter Freundschaft verbunden waren und sind.

Ich begrüße (in der Reihenfolge der Größe der heute hier bei uns vertretenen Delegationen der Fraktionen aus dem Deutschen Bundestag) zuerst von der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag ganz herzlich Herrn Friedrich Merz, den Vorsitzenden der CDU Deutschlands und Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Lieber Herr Merz, mit Ihrer Anwesenheit heute zeigen Sie uns ganz deutlich Ihre Wertschätzung – und Sie zeigen uns, dass Sie und Ihre Fraktionskolleginnen und Kollegen stets und nach wie vor ein offenes Ohr für unsere Anliegen haben.

Unterstrichen wird dies dadurch, dass außer Ihnen auch die stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Frau Andrea Lindholz, der Vorsitzende der für unsere Anliegen zuständigen Arbeitsgruppe, Herr Christoph de Vries und rund 30 weitere Abgeordnete aus Ihrer Fraktion anwesend sind. Das ist schon eine Anmerkung wert!

Ich begrüße herzlich Frau Natalie Pawlik, die Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten. Sie Frau Pawlik sind heute zum zweiten Mal bei uns und wir freuen uns, dass Sie unserer Einladung erneut Folge geleistet haben. Ich begrüße selbstverständlich alle weiteren Vertreterinnen und Vertreter der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, namentlich ganz besonders unser Präsidiumsmitglied Frau Rita Hagl-Kehl, Abgeordnete des Deutschen Bundestages und Vorsitzende des Kuratoriums der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen. Ihnen allen auch ein herzliches Willkommen.

Meine Damen und Herren, ich schlage vor, dass wir alle weiteren Anwesenden, die ich noch namentlich begrüße am Ende mit einem großen, tosenden Applaus gemeinschaftlich willkommen heißen. 

Ich begrüße aus der FDP-Fraktion stellvertretend den Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Benjamin Strasser.

Aus den Landtagen begrüße ich stellvertretend heute den Vorsitzenden des Ausschusses für Heimatvertriebene im Hessischen Landtag, Herrn Andreas Hofmeister, und Herrn André Bock, Sprecher der CDU-Fraktion im Niedersächsischen Landtag für Vertriebene und Aussiedler. Auch Ihnen ganz herzlich willkommen.

Rückhalt und Unterstützung aller in den Parlamenten vertretenen Parteien, meine Damen und Herren, ist für einen repräsentativen und überparteilichen Verband wie den unseren ein ganz selbstverständlicher Anspruch.

Ich sehe zahlreiche Vertreter und Vertreterinnen der Bundes- und Länderministerien, darunter Bevollmächtigte und Regierungsbeauftragte für unsere Anliegen. Lassen Sie mich stellvertretend heute Frau Margarete Ziegler-Raschdorf aus Hessen, Herrn Dr. Jens Baumann aus Sachsen, und Herrn Heiko Hendriks aus Nordrhein-Westfalen begrüßen und sage Ihnen: „Auf weiterhin gute Zusammenarbeit in Bund und Land“.

Ich begrüße alle anwesenden Vertreter des diplomatischen Corps, für die ich stellvertretend heute seine Exzellenz den Apostolischen Nuntius in Deutschland, Herrn Dr. Nikola Eterović namentlich begrüßen möchte. Ich weiß, meine Damen und Herren, es sind viele weitere Botschafter unter uns, die Botschafterin Rumäniens, der Botschafter Ungarns, der Slowakei, Sloweniens, Kroatiens, Tadschikistans und Kambodschas – und noch viele andere mehr. Ihnen allen ebenfalls ganz herzlich willkommen!

Ich freue mich, zahlreiche Vertreter der Kirchen und Glaubensgemeinschaften in unserem Kreis begrüßen zu dürfen. Stellvertretend für alle hohen Würdenträger begrüße ich herzlich: Herrn Dr. Heiner Koch, Erzbischof von Berlin, Herrn Mark Dainow, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sowie Herrn Prälat Dr. Karl Jüsten, Leiter des Kommissariats der Deutschen Bischöfe. Herzlich willkommen.

Ich begrüße natürlich die Vertreter und Vertreterinnen aller Nichtregierungsorganisationen und Verbände, von Stiftungen, Museen, Gesellschaften und Opferverbänden sowie natürlich alle anwesenden Vertreter der Medien.

Für die Vorsitzenden und Vertreter unserer Mitgliedsverbände – der Landsmannschaften, BdV-Landesverbände und der außerordentlichen Mitglieder, begrüße ich die Ehrenpräsidentin des BdV. Liebe Erika Steinbach, auch herzlich willkommen.

Ich freue mich, meine Damen und Herren, ganz besonders über die vielen anwesenden Vertreter der landsmannschaftlichen Jugendverbände. Ich danke Ihnen für ihre Zeit und die Arbeit, die Sie für unsere Gemeinschaft aufbringen und für die vielen konstruktiven Impulse, die unseren Verband in die Zukunft tragen werden.

Ich begrüße heute hier und das ist mir eine ganz besondere Freude, die vielen Vertreter und Vertreterinnen der deutschen Minderheiten und Volksgruppen aus den Heimatgebieten, die heute erneut unter uns sind. Ihre Anwesenheit steht für den gelebten Brückenschlag der Heimatvertriebenen zu den Heimatverbliebenen und den Gesellschaften und Staaten, in denen diese nach wie vor zu Hause sind. Ihnen allen ein herzlich willkommen!

Namentlich begrüße ich zunächst Herrn Bernard Gaida, den Sprecher der „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten“ in der FUEN und Herrn Rafał Bartek, den Vorsitzenden des „Verbands der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften“ in Polen und Landtagspräsident in der Woiwodschaft Oppeln.

Uns allen, lieber Rafał, lieber Bernard, bereitet die Minderheitenpolitik unseres Nachbarlandes Polen ernsthaft Sorge. Wie wichtig es ist, die rechtliche Lage der Minderheiten international zu verbessern, zeigt die gezielt diskriminierende Kürzung des muttersprachlichen Deutschunterrichts für rund 50.000 Schülerinnen und Schüler in Polen. In Deutschland bauen wir auf die verbürgte Gewissheit, dass sich bisher alle Bundesregierungen zur Aufgabe gemacht haben, das Fortbestehen von kultureller Identität in allen Facetten zu fördern und den deutschen Minderheiten im Ausland beizustehen. Dieses werden wir als BdV immer wieder in Erinnerung rufen.

Ich begrüße aus Kasachstan den Vorsitzenden der Stiftung Wiedergeburt, Herr Yevgeniy Bolgert und gratuliere herzlich zur Wahl in den Senat Kasachstans. Aus Kirgistan begrüße ich Herrn Valerij Dill als langjährigen Vorsitzenden der Stiftung Wiedergeburt.

Aus Rumänien begrüße ich den Vorsitzenden des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien, Prof. Paul Jürgen Porr und den Vorsitzenden der Michael-Schmidt-Stiftung in Rumänien, Herrn Michael Schmidt.

Ich freue mich sehr, dass heute der Vorsitzende und der Geschäftsführer der deutschen Minderheit in Dänemark unserer Einladung gefolgt sind. Lieber Hinrich, lieber Uwe, ganz herzlich willkommen bei uns.

Angesichts unseres Jahresleitwortes „Krieg und Vertreibung – Geißeln der Menschheit“ freue ich mich ganz besonders, dass unsere Landsleute aus der Ukraine und aus der Russischen Föderation heute hier vertreten sind: Herzlich willkommen lieber Wolodymyr Leysle, Vorsitzender des Rates der Deutschen der Ukraine, und genauso herzlich willkommen liebe Olga Martens, erste Vizepräsidentin des IVDK, des Verbandes der Deutschen der russischen Föderation und Herausgeberin der Moskauer Deutschen Zeitung. Liebe Olga, lieber Wolodymyr, gerade wir als BdV haben immer wieder gefordert, dass unter den vielen Opfern dieses mitten in Europa wütenden Angriffskrieges Russlands gegen ein Brudervolk auch die deutschen Minderheiten beiderseits der russisch-ukrainischen Grenze nicht vergessen werden dürfen!

Wir selbst haben als Verband gemeinsam mit der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, deren Bundesvorsitzenden Herrn Johann Thießen ich herzlich begrüße, und mit weiteren Mitgliedsorganisationen insgesamt mehr als 80.000 Euro Spenden für eine bereits in den ersten Kriegstagen gestartete Hilfsaktion eingeworben. Die Spenden stammen zu einem erheblichen Teil von unseren Basisgliederungen, denen ich dafür erneut zutiefst danke sage.

Mit einem Teil des Geldes konnten wir schon bald nach Kriegsbeginn in der Ukraine – gemeinsam mit unseren Partnerverbänden in Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien – akute Notlagen lindern. Heute, meine Damen und Herren, wollen wir erneut Hilfe leisten: Lassen Sie uns – wie immer – keinen großen Akt daraus machen: der Bund der Vertriebenen, lieber Herr Leysle, wird den Deutschen in der Ukraine weitere 10.000 Euro aus seiner Spendenaktion für konkret benannte Projekte zur Verfügung stellen – etwa zum Wiederherstellen Ihrer Kommunikationsmöglichkeiten in Kiew, Odessa, Cherson und Munkatsch, und damit Sie dort helfen, wo es am wichtigsten ist. Viel Erfolg damit.

Lieber Herr Bundeskanzler Scholz,

unser Jahresempfang dient ganz zuerst der Begegnung und dem Austausch, nicht so sehr der politischen Positionierung. Weil Sie aber erstmalig bei uns sind, erlauben Sie mir bitte diesen Besuch zum Anlass zu nehmen, in kurzen Worten die Arbeit unseres Verbandes zu umreißen:

Als einziger repräsentativer Dachverband der Selbstorganisationen aller deutschen Vertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler in Deutschland vereinen wir eine Schicksalsgemeinschaft, die mit den Betroffenen und deren Nachkommen ein Viertel bis zu einem Drittel aller Deutschen umfasst. Wir nehmen auf Grund unserer Organisationsstruktur für uns in Anspruch, für alle Vertriebenen, Aussiedler, Spätaussiedler und deren nachgeborene Generationen zu sprechen und ihre Interessen zu vertreten.

Der Bund der Vertriebenen steht für einen verständigungspolitischen Dialog mit unseren Nachbarn im Osten, er steht für kulturpolitische Kontinuität in der Erhaltung des gesamtdeutschen kulturellen Erbes, und für erinnerungspolitische Wahrhaftigkeit auf der Basis von Menschen- und Völkerrechten.

Wir vertreten eine geschichtsbewusste Sicht auf die Zukunft und verstehen uns als „Arbeiter der Verständigung“ mit unseren östlichen Nachbarn. Wir handeln mit dem Anspruch, mehr als nur „Verbandspolitik“ zu betreiben.

Schon vor mehr als sieben Jahrzehnten haben wir mit unserer Charta der deutschen Heimatvertriebenen den Teufelskreis aus Rache und Vergeltung durchbrochen und das geeinte Europa als Ziel ausgerufen. Wir haben die Bedeutung von Heimat betont; und seitdem immer wieder dazu aufgerufen, Vertreibungen weltweit zu ächten – und möglichst strafbewehrt zu verbieten.

Auf der Grundlage unseres Einsatzes für Europa entstanden hunderttausendfache persönliche, freundschaftliche Kontakte zu den Menschen, die heute in den ehemals deutschen oder deutsch besiedelten Gebieten leben – allesamt Bausteine einer Völkerverständigung, die wichtiger ist denn je!

Alle unsere Gliederungen und die mit uns verbundenen Institutionen, aber besonders die Landsmannschaften mit ihren Heimatkreisen, Ortsgemeinschaften und Kulturgruppen in tausendfacher Zahl setzen sich mit großem ehrenamtlichem Einsatz dafür ein, dass unser Brauchtum lebendig bleibt und unsere Kultur dauerhaft erhalten wird.
In unserem Engagement stehen wir in stetem und regem Austausch mit den Organisationen der deutschen Minderheiten – unterstützend, partnerschaftlich und respektvoll. All diese Ehrenamtlichen sind Botschafter unseres Landes, ehrenamtlich und „in zweiter Reihe“.

Unsere ausgestreckte Hand, meine Damen und Herren, etwa nach Polen und Tschechien, in die Slowakei, nach Ungarn, Serbien, Rumänien, aber auch in sämtliche Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und insbesondere in die Ukraine reichen wir aus der Erfahrung und der tiefen Überzeugung heraus, dass Krieg und Vertreibung historisch immer Geißeln der Menschheit waren und es leider heute noch sind.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Bundesministerien der Länder,

der BdV ist nach außen ein verlässlicher Pfeiler der Verständigungspolitik und agiert nach innen in dem Bewusstsein, das Schicksal, die Geschichte und das kulturelle Erbe der deutschen Vertriebenen als Teil des gesamtdeutschen Kulturguts zu pflegen und für uns alle – für Vertriebene und Nichtvertriebene – zu erhalten. Wir sind froh und dankbar, dass die Bundesregierung uns, den BdV, in dieser gesamtgesellschaftlich relevanten Arbeit unterstützt. Und wir wünschen und erwarten natürlich für die Zukunft auch eine Zusage nachhaltiger Unterstützung dieser Arbeit auf sämtlichen Ebenen, in den Landsmannschaften und den Gliedverbänden, wo unsere Landsleute mit viel ehrenamtlichem Einsatz und aus Verbundenheit mit der Sache aktiv sind.

Erlauben Sie mir, lieber Herr Bundeskanzler, abschließend noch ein aktuelles und besonders dringendes Anliegen anzusprechen:

Gerade unsere russlanddeutschen Landsleute aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion sehen sich aktuell mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert.

Der BdV setzt sich nach wie vor dafür ein, die personenkreisspezifischen Benachteiligungen von Aussiedlern und Spätaussiedlern im Rentenrecht durch lange überfällige Anpassungen des Fremdrentengesetzes zu beseitigen und damit Altersarmut zu verhindern. Mit viel Freude haben wir vernommen, dass in diesem Jahr erstmalig die völlige Angleichung zwischen Ost- und Westrenten Wirklichkeit geworden ist. Es ist deshalb bestimmt auch an der Zeit, die Aussiedler- und Spätaussiedlerbenachteiligung im Rentenrecht anzugehen und ebenfalls abzubauen.

Der Härtefallfonds für armutsbetroffene Rentner auch aus dem Kreis der Spätaussiedler in der Grundsicherung kann dies nach unserer Überzeugung leider nicht leisten – insbesondere nicht in der Größenordnung, wie er jetzt umgesetzt wurde. Und er ist auch kein Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit, denn er lässt Aussiedler vollständig außen vor und hält mit engen Stichtagsregelungen die Zielgruppe klein.

Die drängendste Thematik aber ist die Thematik der Spätaussiedleraufnahme. Seit etwa einem Jahr werden immer mehr Anträge auf Anerkennung als Spätaussiedler abgelehnt, weil Antragsteller irgendwann zu Sowjetzeiten nicht mehr der deutschen Minderheit, sondern oft automatisch der Mehrheitsgesellschaft zugeschrieben wurden. Oft wurde in den Staaten der Sowjetunion etwa „russisch“ oder „ukrainisch“ oder „kasachisch“ in Ausweis- oder Personenstandsdokumente eingetragen, oft zufällig, manchmal unüberlegt. Die Entstehungsgeschichte solcher Zuschreibungen ist komplex, leider werden sie aber zwischenzeitlich massenhaft und schematisch vom BVA als Ablehnungsgrund verwendet, obwohl Landsleute – und um solche handelt es sich! – ihre Abstammung als auch ihre Kulturkreiszugehörigkeit ausreichend glaubhaft machen können.

Ich bin sehr dankbar, dass Frau Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Deutschen Bundestag eine Gesetzesänderung zugunsten dieser Menschen in Aussicht gestellt hat und auch Sie, Frau Pawlik, sich dieser Bereitschaft angeschlossen haben. Über die breite politische Unterstützung dieser Forderung des BdV und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, gerade auch durch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, habe ich mich sehr gefreut. Auch Ihnen Herrn Merz danke dafür.

Angesichts der Folgen des Krieges in der Ukraine gilt es nun, möglichst schnell zu Ergebnissen zu kommen, den politisch und rechtlich fragwürdigen Kurswechsel des Jahres 2022 – wie von Frau Bundesministerin Faeser im Bundestag angekündigt – kurzfristig und wohlwollend zu korrigieren, restriktivste Auslegungen aufzugeben, für Härtefälle eine Übergangslösung zu schaffen und inzwischen abgelehnte Antragsteller – es kommen jede Woche Bescheide! – in eine wohlwollende Prüfung einzubeziehen.

Wir wollen die Bundesregierung, Frau Bundesministerin Faeser, und auch Sie, Frau Pawlik, bei diesem wichtigen Anliegen sehr gern unterstützen und bieten – wie immer - eine konstruktive und lösungsorientierte Zusammenarbeit an.

Meine Damen und Herren,

ich danke für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen, nach den nun folgenden Worten unseres Bundeskanzlers Olaf Scholz, gute Gespräche, einen lebhaften Gedankenaustausch und bleiben Sie uns auch künftig verbunden! Ganz herzlichen Dank.

Lieber Herr Bundeskanzler, Sie haben das Wort.


Ansprache zum Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen am 28. März 2023

Bundeskanzler Olaf Scholz MdB

Sehr geehrter Herr Dr. Fabritius,
verehrte Mitglieder der Landsmannschaften und Landesverbände,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

wir haben in Europa die Hoffnung gehabt, dass die Freiheit und die Demokratie sowie die Unverletzbarkeit der Grenzen dazu beitragen, dass wir ein freies Europa erleben, in dem wir die schlimmen Erfahrungen des letzten Weltkrieges und der Zerstörung, die er mit sich gebracht hat, die unglaublichen Folgen, die er durch den unglaublichen Mord an den europäischen Juden, aber eben auch das Schicksal der Vertreibung mit sich gebracht hat, hinter uns gelassen haben, indem wir dazu beigetragen haben, dass eine friedliche Perspektive möglich wird. Klar, was die europäischen Juden betrifft, wissen wir, dass unsere Verantwortung für dieses Verbrechen immer währt und wir alles dazu beitragen müssen, dass wir dieser Verantwortung auch in Zukunft gerecht werden, indem wir alles dafür tun, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder entstehen kann, und alles dazu beitragen, dass wir jedem Antisemitismus entgegentreten.

Aber das ist auch die Wahrheit: Mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine sind revanchistische, imperialistische Aktivitäten, ein furchtbarer Krieg, wieder Realität in Europa geworden. Putin will die Identität der Ukraine auslöschen. Er will sie durch die Idee eines großrussischen Reichs ersetzen. Dafür überzieht er die Ukraine mit Leid und Zerstörung und gefährdet auch die Zukunft seines eigenen Landes.

Zugleich missachtet Russland die Grundsätze unserer europäischen Nachkriegsordnung, allen voran den Grundsatz, dass Grenzen nicht mehr mit Gewalt verschoben werden dürfen. Es war doch die eigentliche Konsequenz und das eigentliche Ergebnis der Entspannungspolitik der 70er-Jahre, dass wir uns in KSZE und OSZE darauf verständigt haben, dass eine solche gewaltsame Verschiebung von Grenzen nicht mehr stattfindet. Wir haben uns lange genug vor all denjenigen gefürchtet, die in Geschichtsbüchern geblättert haben, nachgeschaut haben, wo Grenzen früher einmal verlaufen sind, um dann daraus kriegerische Ambitionen für sich abzuleiten und furchtbare Zerstörung anzurichten, und wir wissen ganz genau, wohin das führt, wenn gewissermaßen jemand in den Atlanten der Vergangenheit guckt, wo man Grenzen schon einmal gezogen hat.

Ich habe gerade ein Gespräch mit dem kenianischen Präsidenten geführt ‑das will ich hier nicht unerwähnt lassen‑, dessen Botschafter im Weltsicherheitsrat etwas sehr Bemerkenswertes gesagt hat: Wisst ihr eigentlich, wie die Grenzen in Afrika entstanden sind? Da haben betrunkene Kolonialherren irgendwelche Grenzen gezogen, durch Landschaften, durch Gebiete, durch Völkerschaften, Königreiche, was auch immer dort jeweils existiert hat, und Menschen in einem Land vereint, die noch nie voneinander gehört hatten, aber auch Menschen auseinandergeteilt, die eng miteinander verbunden waren. Wenn wir in Afrika, hat er damals gesagt, daraus jetzt Konsequenzen ableiten würden und Grenzen wieder neu verschieben würden, wo sollte das enden?

Wo soll das enden? Das ist doch die Frage, die wir uns tatsächlich stellen müssen, wenn wir sehen, was jetzt passiert. Es ist erschütternd, mitzuerleben, dass hier in Europa im 21. Jahrhundert wieder ein solcher Krieg stattfindet. Denn Krieg und Vertreibung bleiben Geißeln der Menschheit. Sie haben sie in Ihrem Jahresempfang zu Recht betitelt.

Wir alle wollen, dass diese Geißeln verschwinden. Wir wollen, dass dieser Krieg endet, so schnell wie möglich. Dafür reicht es aber nicht, pauschal nach Friedensverhandlungen zu rufen, wie es einige tun. Ja, es muss Friedensgespräche geben; das ist ganz offensichtlich. Aber mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln außer über die eigene Kapitulation. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir sehr klar benennen, was die Voraussetzung für den Frieden ist, nämlich dass Putin erkennt: Er wird seine Ziele nicht erreichen. Sein Imperialismus wird nicht siegen.

Deshalb unterstützen wir die Ukraine solange, wie es nötig ist. Deshalb liefern wir Waffen. Deshalb bilden wir ukrainische Soldaten hier in Deutschland aus. Es geht darum, das Recht gegen das Unrecht zu verteidigen, und es geht darum, den Angegriffenen zur Seite zu stehen. Die schrecklichen Fotos und Filmaufnahmen aus Butscha und Mariupol, aus Mykolajiw und Bachmut, haben sich tief in unser Gedächtnis eingebrannt‑ Bilder von ermordeten Zivilisten, von zerbombten Häusern und Städten, von matschigen Schützengräben, vom erbitterten Kampf sich gegenüberstehender Panzer und Artilleriegeschütze.

So rollen seit gut einem Jahr auch wieder Züge gen Westen – allerdings nicht, weil sich Grenzen geöffnet haben wie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Es sind Züge, die vor allem Frauen, Kinder und Ältere in Sicherheit bringen vor russischen Bomben, vor Hunger, Not und der Gefahr für Leib und Leben.

14 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer wurden seit Beginn des russischen Angriffskriegs aus ihrer Heimat vertrieben oder mussten fliehen – rund acht Millionen davon in die der Europäischen Union. Jede und jeder Einzelne von ihnen lässt die eigene Heimat zurück, das Haus, die Arbeit oder die Schule, die Freunde, die Familienangehörigen.

Über eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer sind auch zu uns nach Deutschland gekommen. Wir heißen sie hier willkommen. Das ist nicht nur unsere völkerrechtliche Pflicht. Das gebietet die Menschlichkeit. Deshalb bin ich unendlich dankbar für die große Hilfsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, die Mitgefühl zeigen, die mit anpacken und die dafür sorgen, dass die ukrainischen Flüchtlinge hier gut ankommen.

Auch Sie, sehr geehrter Herr Dr. Fabritius, und der Bund der Vertriebenen haben sich über alle Maßen engagiert – zum Beispiel durch Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer vor Ort in den Beratungsstellen oder online. Sie haben Hilfe für Flüchtlinge in der Ukraine organisiert ‑ wir haben es eben gerade wieder gesehen. Auch über die Landsmannschaften haben Sie Spenden- und Hilfsaktionen ins Leben gerufen‑ in enger Zusammenarbeit mit den deutschen Minderheiten in der Ukraine, Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien.

In der Krise hat sich wieder einmal gezeigt, wie gut und eng die Verbindungen der deutschen Minderheiten in die osteuropäischen Staaten sind ‑ sie sind wahre Brückenbauer. Auch der Bund der Vertriebenen hat dabei tatkräftig geholfen. Dafür sage ich Ihnen von ganzem Herzen: Vielen Dank!

Ihr Einsatz ‑ davon bin ich sehr überzeugt ‑ hat auch etwas mit Empathie zu tun, mit der Fähigkeit, sich in die Not anderer hineinzuversetzen.

Als in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren nach 1945 zwölf Millionen Pommern, Schlesier und Ostpreußen aus der Batschka oder vom Schwarzen Meer vertrieben wurden, da war die Not groß. Abschied und Neuanfang schmerzten. Obwohl sie Landsleute waren, galten die Neuankömmlinge vielen im Westen als Fremde. In der DDR waren die Heimatvertriebenen sogar damit konfrontiert, dass ihre Selbstorganisation verboten war. Schon die Erinnerung an die Vertreibung konnte so nur im privaten Umfeld erfolgen. Einige von Ihnen hier im Raum werden sich daran noch erinnern. Einige wissen es aus den Erzählungen der Eltern oder Großeltern.

Umso berührender ist es zu erleben, dass das Erbe der Heimatvertriebenen und auch ihre Erfahrung von Flucht und Neuanfang unser Land bis heute prägen. Die Frauen und Männer, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, ihre Kinder und Enkel haben nicht nur unser Land zupackend mit aufgebaut. Aus der Erfahrung, bei null anfangen zu müssen, haben sie Empathie entwickelt, die auch andere mitnimmt.

Die Vertriebenen, aber eben auch ein Verband wie der BdV haben die richtigen Schlüsse aus der Geschichte gezogen, indem sie eben nicht im ständigen Rückblick einer vermeintlich guten alten Zeit nachtrauern, sondern dabei mithelfen, dass unsere Gegenwart und Zukunft geprägt sind von mehr Menschlichkeit, Mitgefühl und Versöhnung.

Deshalb ist es gut für unser Land, wenn die Kinder- und Enkelgenerationen am Schicksal der Heimatvertriebenen und Spätaussiedler Anteil nehmen. Viele gehen auf Spurensuche nach den Wurzeln ihrer Familien, entschlüsseln ihre Geschichte und reisen an die Orte ihrer Herkunft. Besuche ehemaliger Heimatvertriebener oder ihrer Angehörigen gehören in Polen oder Tschechien längst zum Alltag und sind dort sehr willkommen. Zum Teil haben sich daraus auch enge Kontakte oder Hilfs- und Unterstützungsprojekte entwickelt. Auch das ist Teil der Aussöhnung in Europa.

Dafür stand schon im Jahr 1950 die wegweisende Charta der Heimatvertriebenen, in der es heißt:

„Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.“

Und dafür steht Ihre Versöhnungsarbeit in Europa bis heute und in Zukunft.

Deshalb möchte ich mich hier ganz ausdrücklich zur Unterstützung des Bundes der Vertriebenen und seiner Versöhnungsarbeit bekennen. Dazu zählt, die Kultur und die Geschichte der Deutschen aus den ehemaligen Siedlungsgebieten im östlichen Europa lebendig zu halten.

Heute haben wir Museen, Bibliotheken und wissenschaftliche Einrichtungen, die dieses kulturelle Erbe erforschen und präsentieren – auch dank der engen Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Das im Jahr 2021 neu eröffnete Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung zeigt, welch großes Interesse daran besteht, übrigens auch international.

Schließlich haben wir im vergangenen November eine Lücke geschlossen, die von vielen Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern als große Ungerechtigkeit empfunden wurde. Bei Fällen, bei denen die gesetzliche Rente wegen der Fluchtgeschichte sehr gering ist, helfen wir mit einem neuen Fonds. Sie haben darüber schon gesprochen, dass er natürlich ‑ wie alle Fonds ‑ nicht zureichend ist. Wir hoffen auch noch, dass möglichst viele der deutschen Länder sich entscheiden, bei diesem Fonds einzusteigen. Die Möglichkeit besteht ja.

Aber es ist ein Zeichen, dass wir genau wissen, wie herausfordernd es ist, wenn man nicht die ganze Zeit hier in der Bundesrepublik gelebt hat und seinen eigenen Beitrag für die spätere Rente leisten konnte. Das soll hier eben auch seinen Niederschlag finden.

Die Kriege des 20. Jahrhunderts haben im Leben von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern tiefe Spuren hinterlassen, die auch noch viele Jahrzehnte später zu sehen sind. Da gibt es gar keine Frage.

Die aus dem Banat stammende Schriftstellerin Iris Wolff, die als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland kam, hat die Folgen in ihrem Leben einmal so beschrieben:

„Durch den Verlust meiner ersten Heimat gelingt es mir, überall schnell zuhause zu sein, aber ich fühle mich doch auch auf eine gewisse Weise nicht zugehörig. Das war, besonders als Kind, nicht leicht.

Inzwischen kann ich jedoch die Freiheit und die Möglichkeiten sehen, die aus dieser Erfahrung resultieren. Ich hätte nie ein Buch geschrieben, wenn es diese doppelte Verwurzelung nicht gäbe.“

Erste und zweite Heimat, doppelte Verwurzelung ‑ ich denke, viele derjenigen, die heute vor Russlands Krieg fliehen müssen, können nachempfinden, was Iris Wolff da zum Ausdruck bringt. Zugleich werden sie damit zu Kronzeugen dafür, dass Putins Imperialismus ein Irrweg ist, dass seine Vorstellung einer großrussischen Identität und einer möglichst gleichförmigen Gesellschaft nicht ins 21. Jahrhundert gehört.

Und daher kann ich sagen: Ja, auch der Ukraine-Krieg wird tiefe Spuren in Europa hinterlassen und uns auf lange Zeit hin beschäftigen und verändern, doch nicht im Sinne Putins, sondern im Sinne eines Europas, das in Freiheit geeint ist, das seine kulturellen Unterschiede als Bereicherung empfindet – ein Europa, das enger zusammensteht als je zuvor.

Schönen Dank!