BDV - Tag der Heimat 2016

Tag der Heimat 2016

Programm

3. September 2016, 12:00 Uhr

Urania Berlin, Humboldt-Saal

„Nun danket alle Gott“

Johann Sebastian Bach (1685 - 1782)

Begrüßung

Dr. Bernd Fabritius MdB

Präsident

Geistliches Wort und Gedenken

Weihbischof Dr. Reinhard Hauke

Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Flücht­lings-, Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge

„Chorale St. Antoni“

Joseph Haydn (1732 - 1809)

Festrede

Bundespräsident Joachim Gauck

Ansprache

Dr. Bernd Fabritius MdB

Präsident

„Ännchen von Tharau“

Volksliedbearbeitung von Siegfried Matthus (* 1934)

Nationalhymne

Im Anschluss an den Festakt findet um 15:00 Uhr die Kranzniederlegung auf dem Theodor-Heuss-Platz statt. Es sprechen der Berliner Innensenator Frank Henkel MdA, BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius MdB und der Berliner BdV-Landesvorsitzende Staatssekretär a.D. Rüdiger Jakesch.

Potsdamer Turmbläser

Bernhard Bosecker (Ltg.),

Jan Birkner, Björn Brünnich, Sven Geipel (Trompete),

Moritz Löffler, Michael Wolter (Posaune),

Thomas Klupsch (Horn),

Tilmann Hennig (Tuba)



Begrüßung zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 3. September 2016 in Berlin

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius MdB

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

verehrte Frau Schadt,

geehrte Exzellenzen, Eminenz,

verehrte Ehrengäste aus Bund, Ländern und Gemeinden,

liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und den Landtagen,

liebe Landsleute, sehr geehrte Damen und Herren,

zur diesjährigen Auftaktveranstaltung des Tages der Heimat des Bundes der Vertriebenen heiße ich Sie alle ganz, ganz herzlich willkommen.

Ich bin sehr dankbar, dass Sie Herr Bundespräsident Joachim Gauck heute die Festrede halten werden. Ich möchte Sie ganz, ganz herzlich in unseren Reihen begrüßen. Willkommen.

Herr Bundespräsident, es ist uns eine sehr, sehr große Ehre, Sie mit Frau Schadt hier empfangen zu dürfen. Wir freuen uns auf Ihre Ansprache, die wir nach den Gedenkworten des Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz für die Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge, Weihbischof Dr. Reinhard Hauke, hören werden.

Denn auch Heimatvertriebene sind Opfer. Auch für sie gilt der Ausspruch des kürzlich verstorbenen Elie Wiesel: „Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.“

Ich begrüße ganz herzlich stellvertretend für die Fraktionen im Deutschen Bundestag meine Kollegen, alphabetisch: Klaus Brähmig, Dr. Karl-Heinz Brunner, Iris Eberl, Stephan Mayer, Matthias Schmidt, unsere Ehrenpräsidentin Erika Steinbach, Heinrich Zertik.

Ich begrüße stellvertretend für die Länder und Landtage, den Präsidenten des Hessischen Landtages Norbert Kartmann, die Bayerische Integrationsministerin Emilia Müller, Dieter Dombrowski aus Brandenburg, Werner Jostmeier aus Nordrhein-Westfalen, Egon Primas aus Thüringen.

Ich begrüßte ganz herzlich den Apostolischen Nuntius in Deutschland, seine Eminenz Erzbischof Nikola Eterović, ich begrüße die Botschafter von Ägypten, Armenien, von Litauen, aus Serbien, der Slowakei, der Ukraine, aus Ungarn sowie die gesamten anderen Vertreter des Diplomatischen Corps.

Ich freue mich, dass schon traditionell die Potsdamer Turmbläser unsere Veranstaltung musikalisch umrahmen. Herzlichen Dank dafür.

Vielen Dank Ihnen, geehrte Gäste, dass Sie heute hier sind. Das zeigt, welch hohen Stellenwert der Tag der Heimat für uns, für unseren Verband, aber auch in der gesamten deutschen Gesellschaft genießt.

Ich bitte nun Sie, geehrten Herrn Weihbischof Dr. Hauke, um Ihr Wort.


Geistliches Wort und Gedenken zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 3. September 2016 in Berlin

Weihbischof Dr. Reinhard Hauke

Sehr geehrte Damen und Herren,

das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat 2005 herausgefunden, dass zwei Drittel aller Deutschen an Schutzengel glauben. Der Religionspsychologe Sebastian Murken sagt darauf, dass das ein Beweis für die Sehnsucht nach persönlicher Fürsorge ist. Bisweilen gibt es eher den Glauben an den Schutzengel als an Gott, weil vermutlich der Schutzengel für die Menschen in seinem Wirken irgendwie überschaubarer ist als der große Gott, wie er uns in der Heiligen Schrift begegnet.

Zahlreiche Religionen kennen die dienstbaren Geister im Himmel. In den abrahamitischen Religionen  des Judentums, Islams und Christentums stehen sie als Geschöpfe Gottes in dessen Dienst und sind ihm als Boten für die Menschen untergeordnet. In der katholischen Kirche hat sich die Verehrung der Schutzengel besonders im 15. und 16. Jahrhundert verbreitet. 1670 legte Papst Clemens X. das Schutzengelfest für den 2. Oktober fest – bemerkenswerterweise heute bei uns in Deutschland am Vortag  des „Tages der Deutschen Einheit“. Für mich ein Omen in politischer Hinsicht, denn wie Gottes Schutz sich ausgewirkt hat auf dem Weg zu diesem Festtag, dem 3. Oktober, das ist uns allen noch bewusst, die mit Bangen und Hoffnung die Wendezeit erlebt haben.

Im Katechismus der katholischen Kirche von 1993 heißt es unter dem Stichwort „Schutzengel“ (Nummer 336): „Von der Kindheit an bis zum Tod umgeben die Engel mit ihrer Hut und Fürbitte das Leben des Menschen. ‚Einem jeden der Gläubigen steht ein Engel als Beschützer und Hirte zur Seite, um ihn zum Leben zu führen‘ (Basilius, Eun. 3,1).“

Gern hören wir den Gesang von Felix Mendelssohn-Bartholdy – gesungen von verschiedenen Kinderchören: „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir“. Es breitet sich dann das Gefühl der Geborgenheit aus, das wir in unseren Tagen so sehr ersehnen und oft schon vermissen müssen, weil Terror und Gewalt nicht nur auf den Schlachtfeldern der Kriege, sondern bis in unsere Städte hinein zu spüren und zu erleiden sind – bis hin zu Hochzeitsfeiern und Sportereignissen.

Im Buch Tobit, das von der Begleitung des Tobias durch den Erzengel Raphael spricht, heißt es am Ende beim Dank an den Begleiter Raphael: „Da rief er (der alte Tobit) den Engel zu sich und sagte: Nimm die Hälfte von allem, was ihr mitgebracht habt. Der Engel aber nahm die beiden (Tobias und Tobit) beiseite und sagte zu ihnen: Preist Gott und lobt ihn! Gebt ihm die Ehre und bezeugt vor allen Menschen, was er für euch getan hat. Es ist gut, Gott zu preisen und seinen Namen zu verherrlichen und voll Ehrfurcht seine Taten zu verkünden. Hört nie auf, ihn zu preisen. Es ist gut, das Geheimnis eines Königs zu wahren; die Taten Gottes aber soll man offen rühmen. Tut Gutes, dann wird euch kein Unglück treffen. Es ist gut, zu beten und zu fasten, barmherzig und gerecht zu sein. … Besser barmherzig sein als Gold anhäufen. Wer barmherzig und gerecht ist, wird lange leben. (Tob 12, 4-9).“

„Identität schützen – Menschenrechte beachten“ ist für mich ein geistliches Programm, das mit meinem Glauben an den Schöpfergott zu tun hat. Die Menschenrechte erwachsen für mich als Christ aus dem Glauben daran, dass nicht der Mensch selbst ein Recht gibt und setzt, sondern es von einem anderen – nämlich dem Schöpfer des Menschen – geschenkt wurde. Ich sehe nicht nur den Gerichtshof von Den Haag, sondern ich sehe auch Gott als Instanz der Gerechtigkeit, vor der sich jeder Mensch für seinen Umgang mit der Welt und dem Menschen verantworten muss. Die Geschöpfe der Engel drücken aus, was Gott grundsätzlich im Schilde führt, nämlich: Das Heil für den Menschen auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten.

Wenn auch bisweilen die bildlichen Darstellungen der Schutzengel das ernsthafte und engagierte Handeln der Engel verstellen, wie es uns in der Heiligen Schrift vor Augen gestellt wird – denken wir nur an die Verkündigung durch den Erzengel Gabriel und sein Wirken bei der Flucht nach Ägypten, aber auch den Kampf der Erzengels Michael gegen den Satan, wie die Offenbarung des Johannes es berichtet –, so drückt sich doch in den Darstellungen das Vertrauen in den liebenden und helfenden Gott aus, der in Jesus Christus ein anschauliches Gesicht bekommen hat.

Der Glaube an Gott wurde in 40 Jahren im Ostteil Deutschlands als unwissenschaftlich und hinterwäldlerisch bezeichnet und beurteilt. Dennoch gab es ja besonders in den Weihnachtstagen die Engeldarstellungen zwar mit dem neuen Namen „Jahresendflügelpuppen“.

Der Gedanke an einen Schutzengel kommt besonders heute wieder auf, wenn ein Unglück abgewendet wurde und niemand sich die günstigen Umstände erklären kann. Wir Christen können zusammen mit vielen Glaubenden der unterschiedlichen Religionen trotz aller Erfahrung von Unrecht und Vertreibung Gott loben, der wegen seiner Macht in der Lage ist, die Geschicke der Welt und der Menschen zum Guten zu wenden. Initiativen zu Frieden und Versöhnung, wie sie auch Papst Franziskus in unseren Tagen immer wieder unternimmt und dazu einlädt – denken wir nur an die Initiativen zur Befriedung von Palästina und Israel, von russisch-orthodoxer und römisch-katholischer Kirche oder an den völkerverbindenden Weltjugendtag in Krakau, an dem 1,5 Millionen junger Katholiken aus der ganzen Welt teilgenommen haben. All das sind Hoffnungszeichen, die uns die Wirksamkeit des Schöpfergottes erahnen lassen.

Wenn auch das Gedenken an Leid und Unrecht besonders an heutigen Tag die Herzen traurig macht, so gilt dennoch, was wir im Buch Tobit gelesen haben: „Es ist gut, Gott zu preisen und seinen Namen zu verherrlichen und voll Ehrfurcht seine Taten zu verkünden. Hört nie auf, ihn zu preisen.“

Morgen wird Papst Franziskus in Rom die Nobelpreisträgerin Mutter Teresa heilig sprechen. Wenige Jahre nach ihrem Tod nannte man sie schon „Engel der Armen“. Diesen Ehrentitel erhielt sie aufgrund ihres Engagements für die Menschen auf den Straßen Kalkuttas, die arm, krank und hungrig sind. Es hat sich vermutlich seit ihrem Auftreten in Kalkutta nichts Wesentliches an der sozialen Not dort geändert, aber es gibt einen Hoffnungsschimmer für die Armen aufgrund ihres christlichen Engagements für die Menschenwürde. Unabhängig von Religion und Konfession hat sie in den Jahren von 1946 bis zu ihrem Tod am 5. September 1997 die Menschen auf den Straßen Kalkuttas betreut und andere dazu angestiftet, sich vor Ort um menschenwürdige Lebensbedingungen oder auch Sterbebedingungen zu kümmern. Im Gebet vernahm sie beim Anblick des Kreuzes am 10. September 1946 das Wort Jesu: „Mich dürstet.“ Von da an suchte sie nach den hilfebedürftigen Menschen, in denen sie dem dürstenden Christus dienen wollte. Der Blick an die Ränder der Gesellschaft wird durch ihre Heiligsprechung morgen ebenso heiliggesprochen. Wenn wir an diesem Tag auf die dunklen Seiten der deutschen Geschichte schauen, dann in der Hoffnung, dass die Engel und letztlich Gott uns bewahren vor Wiederholung dessen, was zu Leid und Tod geführt hat.

Ich möchte Sie nun einladen, der Opfer zu gedenken, die durch Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Leben lassen mussten. Ich bitte Sie, sich zum Totengedenken von den Plätzen zu erheben.

Wir gedenken hier der alten Heimat, der Heimat unserer Eltern und Großeltern mit den Kirchen und Häusern, die sie gebaut, den Bäumen, die sie gepflanzt, mit den Äckern, die sie bearbeitet haben, mit den Menschen auch aus anderen Völkern, deren Lieder sie gern gesungen haben, deren Sprache ihnen vertraut war, bei deren Klang ihnen heute noch die Tränen kommen. Wir wollen sie weiter in unseren Herzen bewahren, die Erinnerung an sie pflegen und weitergeben.

Wir gedenken hier der vielen Todesopfer bei Flucht und Vertreibung, bei Deportation und Zwangsarbeit. Wir gedenken der Kinder, der Frauen und Männer, die auf der Flucht mit den Trecks umkamen, auf verschneiten und verstopften Straßen, von Kälte, Entkräftung und Verzweiflung überwältigt, von Panzern überrollt, von Bomben und Granaten zerrissen, ihre Leichname blieben oft unbegraben zurück.

Wir gedenken hier derer, die auf der Flucht im winterkalten Wasser des Kurischen und des Frischen Haffs und der Flüsse versanken, weil das Eis nicht mehr hielt oder unter Beschuss zerborsten war. Wir gedenken hier derer, die in unvorstellbar großer Zahl bei Schiffsuntergängen nach Torpedo- oder Fliegerangriffen in den eisigen Fluten der Ostsee ertranken.

Wir gedenken hier der in den Jahren 1944-47 aus der alten Heimat verschleppten und seitdem verschollenen Frauen, Männer und Kinder, der auf den Straßen entkräftet Zusammengebrochenen, der Erschossenen und Erschlagenen, der auf den wochenlangen Bahntransporten in den Weiten Sibiriens Umgekommenen und an den Bahntrassen unbestattet Zurückgelassenen.

Wir gedenken hier derer, die in den Straf-, Internierungs- und Todeslagern der Rache für die nationalsozialistischen Verbrechen hilflos ausgeliefert waren, ohne Recht und Gerichtsverfahren blieben und dort schließlich auf elendste Weise zu Tode kamen.

Wir gedenken hier all derer, die als Opfer von Massakern, von willkürlichen Vergeltungs- und sogenannten Säuberungsaktionen starben und an deren Gräber sich niemand mehr erinnert.

Wir gedenken hier der in den letzten Kriegstagen und in der ersten Nachkriegszeit in der alten Heimat in großer Zahl an Hunger und Epidemien ohne ärztliche Hilfe Verstorbenen und in Massengräbern hastig Verscharrten.

Wir gedenken hier der verwaisten und vermissten Kinder, deren Spur sich in den Kriegswirren und Heimen verloren hat. Wir erinnern uns hier an das grausame Schicksal derer, die auch noch Jahre nach Kriegsende willkürlich und zu Unrecht, oft unter grausamen und entwürdigenden Umständen, aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat vertrieben und abtransportiert wurden.

Wir erinnern uns in Dankbarkeit an die Männer, Frauen und Kinder anderer Völker, die aus Menschlichkeit und Nächstenliebe ungeachtet eigener Gefährdung und oft selbst große Not leidend den deutschen Deportierten, Vertriebenen und Flüchtlingen Hilfe geleistet und das karge Brot mit ihnen geteilt haben.

Im Gedenken an unsere Toten der „vorigen Zeiten“, in der Erinnerung an die Grausamkeit von Flucht und Vertreibung nehmen wir mitfühlend Anteil am Schicksal der Menschen unserer Tage, die vor Krieg, Not und Religionshass auf der Flucht sind oder aus ihrer angestammten Heimat im Zuge ethnischer, politischer oder religiöser sogenannter Säuberungen vertrieben werden.

Die Erinnerung mahnt uns, zu unseren Zeiten für Wahrheit und Versöhnung einzutreten, damit dem Bösen zu rechter Zeit gewehrt werde, Recht und Gerechtigkeit gewahrt werden und Frieden das Zusammenleben der Völker bestimme.

Wir vertrauen darauf, dass Gott, der Gerechte und Barmherzige seiner Menschenkinder gedenkt, dass sie mit ihrem Namen und Schicksal in seinem Gedächtnis bewahrt bleiben und dass dies auch für unsere verschollenen und an unbekannten Orten ruhenden Toten gilt. So vertrauen wir sie aufs Neue ihm an. Mögen sie in Frieden ruhen und das Licht des neuen Lebens in der anderen Welt schauen.

Danke.


Festrede zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 3. September 2016 in Berlin

Bundespräsident Joachim Gauck

Viele von Ihnen wissen, dass ich Ihren Anliegen, ihrer Geschichte verbunden bin. Ich bin im Kriege geboren, und ich war auch schon bei Ihnen, bevor ich Präsident wurde. Aber von Beginn meiner Präsidentschaft an war es klar, dass ich einmal zu Ihnen sprechen wollte als deutscher Bundespräsident und das machen wir heute nun.

Sehr geehrter Herr Präsident, Exzellenzen, Frau Staatsministerin Müller, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, sehr geehrte Damen und Herren Staatssekretäre, meine sehr verehrten Damen und Herren,

mehr als sieben Jahrzehnte ist es her, dass 14 Millionen Deutsche aus ihrer Heimat vertrieben wurden oder flohen.

Schon sieben Jahrzehnte ist es her, dass sie neu anfangen mussten: in Gegenden, die sie nicht kannten, unter Menschen, die eine andere Mundart sprachen, in einem Land, das nach einem verlorenen Krieg völlig zerstört war.

Doch selbst nach sieben Jahrzehnten ist die Vergangenheit nicht gänzlich vergangen. Noch immer sind nicht alle Wunden geheilt, noch immer nicht alles Unrecht eingestanden. Erst im vergangenen Jahr hat der Deutsche Bundestag eine Entschädigung für deutsche Zivilisten beschlossen, die während des Zweiten Weltkrieges und danach von fremden Staaten zur Zwangsarbeit herangezogen wurden: Deutsche aus Ostpreußen, aus Pommern und Schlesien, Rumänien und Jugoslawien, aus Ungarn, die in die Sowjetunion deportiert wurden oder auch in Polen und der Tschechoslowakei interniert und zur Zwangsarbeit verpflichtet worden sind. Weit wichtiger aber als die finanzielle Entschädigung ist für die Betroffenen dabei die Geste. Dass sie wahrgenommen werden. Wichtig ist, dass unsere Gesellschaft diesen Menschen, die monate- und manchmal jahrelang als menschliche Reparation missbraucht wurden, ein deutliches Signal gibt: Wir interessieren uns für Euer Schicksal! Wir wollen das Wissen über Eure Erlebnisse auch nachfolgenden Generationen vermitteln.

Wer kennt beispielsweise das Straflager 517 in Karelien? Ein Straflager vor allem für Frauen aus Ostpreußen, die bei eisigen Temperaturen Bäume fällen und Schneisen in den Wald schlagen mussten. Von den 2.000 Menschen, die im Frühjahr 1945 in Insterburg verladen worden waren, kamen bis zur Auflösung des karelischen Lagers gut ein halbes Jahr später 522 Insassen um.

Wer kennt das Lager bei Novo Gorlovka in der Ukraine, in das auf Befehl Stalins tausende von Rumäniendeutschen zum Arbeitsdienst deportiert wurden und das 334 Menschen, ausgemergelt von Arbeit und Hunger und ausgesetzt der Willkür und Brutalität der Wachmannschaften, nicht überlebten?

Und wer das Lager überlebte, den verfolgten die traumatischen Erlebnisse noch über Jahre und Jahrzehnte – die Appelle, die Entwürdigung, die Angst vor Strafen, die Angst vor dem Tod und immer wieder: der Hunger. All das blieb im Kopf und in der Seele auch nach der Entlassung und breitete sich dort aus. „Man kann sich nicht schützen, weder durchs Schweigen noch durchs Erzählen“, bekennt Leopold Auberg, der Protagonist in Herta Müllers Roman „Atemschaukel“.

Ich begrüße es außerordentlich, dass die Politik nun hilft, das Schicksal dieser Menschen aus dem Erinnerungsschatten zu holen. Und ich danke allen, nicht zuletzt dem Bund der Vertriebenen, die sich dafür eingesetzt haben!

Flucht und Vertreibungen haben im 20. Jahrhundert massenhaft Bevölkerungsverschiebungen verursacht. Allein in Europa wurden im Zuge des Zweiten Weltkrieges 60 Millionen Menschen vertrieben, über zehn Prozent der Bewohner des Kontinents. Die Deutschen waren die größte Gruppe unter ihnen. In den vergangenen sieben Jahrzehnten haben diese deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen einen langen Weg zurückgelegt.

Lassen sie uns den noch einmal in Gedanken nachvollziehen. Er begann mit Verzweiflung, mit Trauer, oft auch mit Groll, führte später zur Öffnung gegenüber der neuen Heimat und schließlich – wohl auch unter dem Druck politischer Ereignisse – zur Aussöhnung mit dem Verlust der alten Heimat.

Vorbei die Zeiten, in denen es Hunderttausende zu alljährlichen Großveranstaltungen zog, um Verwandte und Bekannte aus der alten Heimat zu treffen und wenigstens für einige Stunden „heimzukehren“ in die alte, in die verlorene Welt, in den Trachten und mit der Musik von einst. Vorbei auch die Zeiten, in denen große Parteien das Heimischwerden in Westdeutschland erschwerten, weil sie die Rückkehr in die alte Heimat versprachen und Vertriebenenpolitiker eine Revision der deutschen Grenzen forderten.

Glücklicherweise überwunden sind auch Denkweisen, die durch die Fokussierung auf das eigene Leid allzu häufig verhinderten, sich der brutalen Unterdrückung, Vertreibung und Vernichtung zu stellen, die Deutsche zuvor zum Alltag deutscher Großmachtpolitik gemacht hatten. Überwunden sind schließlich auch die Unterdrückung des Themas Flucht und Vertreibung – wie in der DDR – oder seiner Marginalisierung – wie in der Bundesrepublik in Zeiten der Entspannungspolitik. Besonders linke und liberale Milieus versuchten damals aus dem öffentlichen Diskurs auszuklammern, was einer Annäherung mit den Nachbarn im Osten im Wege stand. Vertriebene und ihre Verbände gerieten oftmals an den gesellschaftlichen Rand in dieser Zeit.

Ich kann verstehen, dass Flüchtlinge und Vertriebene Unwillen auf sich zogen, solange Verbandsvertreter mit  territorialen Forderungen auftraten oder selbstgerecht nur das eigene Leid thematisierten – als Störenfriede in einem Europa, das nach  dem Kalten Krieg die Annäherung brauchte und suchte. Ich kann aber auch die Klagen und den Groll vieler Flüchtlinge und Vertriebener verstehen, die sich mit ihrem Schicksal zeitweilig von der Gesellschaft allein gelassen sahen und kaum Verständnis erhoffen konnten. Ich verstehe das.

Viele hier im Saal dürften es mit Bitterkeit erinnern: Heimatverlust wurde im Westdeutschland der 70er und 80er Jahre weitgehend als Kollektivbestrafung für die Verbrechen akzeptiert, die von Deutschen begangen worden waren.

Selbst Söhne und Töchter von Vertriebenen wollten oft nichts hören von dem, was Vater und Mutter durchlebt hatten, wollten nichts wissen von dem Verstörenden, was sich manchmal auch hinter Schweigen verbergen konnte. „Heimat“, so erinnert sich die Journalistin Petra Reski, „war ein überwundenes Relikt aus der trüben Vergangenheit, und ich war froh, mit so etwas nicht geschlagen zu sein. [...] Was heult ihr denn jetzt, dachte ich, ihr seid doch selbst schuld, dass man euch vertrieben hat. Ich war der neue Mensch. Ich stand auf der Seite der Sieger.“

Und viele von Ihnen werden sich an Haltungen erinnern, die uns damals im eigenen Umfeld begegnet sind. Und die jungen Menschen, die so sprachen, kamen sich sehr gut vor.

So schrumpfte die Heimat von Flüchtlingen und Vertriebenen zu einem Sehnsuchtsort in der Phantasie, der belebt wurde zu fortgeschrittener Stunde auf Familienfeiern oder beim Lesen der Texte von Johannes Bobrowski, Günter Grass, Arno Surminski oder Siegfried Lenz. Der aber auch tief in der Seele vergraben sein konnte und sich manchmal nur in Träumen meldete.

Den versöhnlichen Umgang mit Flucht und Vertreibung lernten wir Deutsche erst mit großem Abstand: Seitdem der Zweite Weltkrieg in unserem Bewusstsein angekommen ist als untrennbare Einheit von der Schuld, die die Deutschen auf sich geladen hatten, und dem Leid, das ihnen als Antwort darauf zugefügt wurde. Viele Vertriebene machten sogar die erleichternde Erfahrung: Gerade weil sie sich zur deutschen Schuld bekannten, konnten sie bei unseren Nachbarn auch Verständnis für deutsches Leid erwecken. Und viele Söhne und Töchter über die ich eben sprach erkannten: Die Empathie mit den Opfern der Deutschen – mit Juden, Russen, Polen – schließt die Empathie mit deutschen Opfern doch keineswegs aus.

„Mit einem Mal schämte ich mich dafür, als Kind so hartherzig gewesen zu sein“, bekannte Petra Reski nach einem Besuch der ostpreußischen Heimat ihres Vaters. „Für meine Familie war es Heimat, für mich Ideologie. Für sie war es [...] der morgendliche Dunst über den Feldern, [...] das Schwarz des Waldsees, ein Brombeergebüsch, der Geruch von Kartoffelfeuern. Für mich ein unentwirrbares Knäuel  von bedrohlichen Begriffen wie Nationalsozialismus, Revanchismus und Revisionismus. Und die Ideologie verbot mir zu denken, dass die Flüchtlinge für den verlorenen Krieg einen höheren Preis hatten bezahlen müssen als andere Deutsche.“

Siegfried Lenz ließ seinen Protagonisten das masurische Heimatmuseum, das bei der Flucht nach Schleswig-Holstein gerettet worden war und das seinem Roman den Titel gab, „Heimatmuseum“, 1978 noch in Brand stecken. Er fürchtete, es könnte revanchistischen Mitgliedern eines Heimatverbandes in die Hände fallen. Heute hätte sich Lenz wahrscheinlich anders entschieden. Heute brauchen wir nicht mehr aus Angst vor Missbrauch zu vernichten, was uns doch kostbar ist. Die Erinnerung schmerzt vielleicht noch, aber der Blick zurück ist nicht mehr mit einer Hoffnung auf eine Rückkehr zu alten Zeiten verbunden. Die Vertriebenen dürfen, ja sie sollen sich erinnern, damit ihre Seelen Frieden finden. Die Gesellschaft darf, ja sie soll sich erinnern, um – gerade in der heutigen Zeit – Sensibilität gegenüber den Themen Flucht und Vertreibung auf der ganzen Welt zu schaffen und zu erhalten. Deshalb mein Zuruf an die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung: Widmen Sie sich diesen wichtigen Aufgaben engagiert und phantasievoll!

Wir alle haben gelernt – die Vertriebenen, ihre Nachkommen und die ganze Gesellschaft. Wir haben gelernt in Folge der äußeren Veränderungen und des Drucks, uns diesen Veränderungen anzupassen. Die Identität, über die der „Tag der Heimat“ in diesem Jahr nachzudenken einlädt, hat sich keinesfalls als starres, unveränderbares, gar bestimmendes Schicksal erwiesen, sondern als Prägung, die auch von Wunsch und Willen des Einzelnen abhängig ist.

Heute können Vertriebene, wenn sie das wünschen, eine Wiederannäherung an die Orte ihrer Kindheit und Jugend leben, wie sie lange illusorisch schien. Seit der Eiserne Vorhang fiel und die mittelosteuropäischen Staaten der Europäischen Union beitraten, sind die Staatsgrenzen durchlässig. Nichts steht Begegnungen mit der alten Heimat und ihren neuen Bewohnern im Wege. Und ich bin sicher: Auch viele hier im Saal sind in ihre Geburtsorte gereist, womöglich gemeinsam mit Kindern und Kindeskindern. Und einige haben sich in der alten Heimat sogar einen zweiten Wohnsitz geschaffen. All das ist heute möglich.

Nun hoffe ich, dass diese vielfältigen Kontakte mit den Herkunftsländern den ehemaligen deutschen Kulturraum des Ostens auch wieder stärker in das Gedächtnis unserer Nation holen. Dass noch mehr Menschen entdecken, wie Architektur, Literatur, Philosophie, Musik, wie die gesamte Geschichte des Ostens nicht nur die östlichen Gebiete geprägt haben, sondern die ganze deutsche Nation. Erinnert sei hier nur an Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder, an Ferdinand Lassalle und Erich Mendelsohn, an Joseph von Eichendorff und Gustav Freytag, an Hermann Sudermann und Ernst Wiechert, an Werner Bergengruen, Georg Dehio und Marie von Ebner-Eschenbach.

Lassen Sie mich also mein Anliegen so zusammenfassen. Das Erinnern, das Gedenken, das Bewahren der Traditionen darf nicht allein in den Verbänden aufgehoben sein. Geschichte und Kultur der ehemaligen deutschen Siedlungsgebiete gehören in das kollektive Gedächtnis der ganzen Nation.

Zahlreiche Initiativen haben bereits begonnen, den ehemaligen deutschen Osten, auf neue Weise wiederzuentdecken. Das, was stattfindet, ist mehr als eine einfache Freilegung dessen, was über Jahrzehnte in den Herkunftsländern verboten, verdrängt oder tabuisiert war – es ist eine Wiederaneignung in neuem historischen Kontext. Und sie erwächst nicht nur aus dem Interesse von Deutschen – manchmal sind die Menschen in unseren Nachbarländern sogar noch stärker motiviert.

So werden Erinnerungen, die über Jahrzehnte konkurrierend nebeneinander oft auch gegeneinander standen, heute öfter miteinander verflochten und geteilt. Vielfach sind deutsche Geschichte und deutsche Geschichten bereits in Romane und Filme polnischer und tschechischer Autoren eingegangen. Auf das alte Danzig stoßen wir inzwischen nicht nur in der „Blechtrommel“ von Günter Grass, sondern auch in den Romanen von Stefan Chwin und Paweł Huelle. Und über die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei berichten nicht nur Betroffene wie die Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi, sondern auch junge tschechische Autoren wie Kateřina Tučková und Radka Denemarková.

Ja, selbst schwierige Themen werden nicht mehr ausgeklammert. Der Wenzel-Jaksch-Gedächtnispreis der Seliger-Gemeinde wurde in diesem Jahr an Petr Vokřál verliehen, den Oberbürgermeister von Brünn. Anlässlich des 70. Jahrestages des „Brünner Todesmarsches“ hatte der Stadtrat ein „Jahr der Versöhnung“ ausgerufen und einen Gedenkmarsch organisiert, der in Gegenrichtung zum damaligen Vertreibungsweg in der Stadt Brünn endete: Damit sollen symbolisch die Deutschen in Brünn wieder begrüßt werden.

Besonders bemerkenswert sind die vielfältigen Bemühungen zur Bewusstmachung deutscher Geschichte in Breslau, der schlesischen Metropole, die für dieses Jahr zur Kulturhauptstadt Europas ernannt wurde. Nach aufwendiger Renovierung hat sich die Synagoge „Zum Weißen Storch“ zu einem der schönsten kulturellen Zentren der Stadt entwickelt – gebaut wurde sie 1829 vom deutschen Architekten Ferdinand Langhans. Büsten anderer deutscher Breslauer, die sich um die Stadt verdient gemacht haben, stehen in der Eingangshalle des alten Rathauses neben prominenten polnischen Bürgern: von der Heiligen Hedwig über Adolph von Menzel bis zu Max Born und Edith Stein. Und die Universität ehrt in ihren Hallen die zehn Nobelpreisträger, die zu deutschen Zeiten in dieser Stadt geboren wurden. Im vergangenen Jahr hat sie, die Universität, zudem die Aberkennung der akademischen Titel für fast 260 deutsche Wissenschaftler – vor allem jüdischer Herkunft – aufgehoben, die von den Nationalsozialisten in der unglückseligen Zeit vollzogen worden waren.

Mag das polnische Breslau auch kein Rechtsnachfolger des deutschen Breslau sein, so fühlt es sich doch zunehmend verantwortlich für das Erbe: Polnische Breslauer wollen nicht einfach die Gebäude bewohnen, sondern sich auch mit dem Geist auseinandersetzen, der in diesen Mauern herrschte. Im Guten wie im Bösen.

Und so wollen wir denn loben, was an vielen Orten der Herkunftsländer in den vergangenen 25 Jahren geschah, ohne uns der Täuschung hinzugeben, diese Offenheit und Gemeinsamkeit und staatenübergreifende Sicht seien unumkehrbar. Vielmehr gilt es, weiterhin alles zu tun, damit die Gespenster der Vergangenheit keine Chance erhalten, Völker wieder gegeneinander aufzubringen.

Über die Jahrzehnte hin haben wir die Geschichte von Flucht und Vertreibung der Deutschen interpretiert im Rahmen unserer nationalen Geschichte, als Reaktion auf den Krieg, auf Gewaltherrschaft und Genozid, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausgingen. Inzwischen haben wir etwas dazugelernt, wir haben gelernt, sie auch im Kontext einer internationalen Geschichte zu verstehen, die das 20. Jahrhundert zu einem Jahrhundert der Vertreibungen werden ließ. Zu einem Jahrhundert, in dem die Gewaltmigration geprägt war von völkischem Nationalismus und Rassismus und so viele Menschen ihre Heimat oder ihr Leben verloren wie niemals zuvor – aus ethnischen, rassistischen, religiösen oder politischen Gründen. In Europa, Asien, Afrika, im Nahen und Mittleren Osten.

Nur unzureichend haben wir bisher wahrgenommen, dass Flucht und Vertreibung das 20. Jahrhundert nicht nur in Mitteleuropa, sondern weltweit so stark geprägt haben. Über vier Fünftel aller weltweit registrierten Flüchtlinge sind nämlich möglichst nahe der Heimat geblieben, in den Staaten des Globalen Südens, in Entwicklungs- und Schwellenländern. Deutschland aber war in den letzten Jahrzehnten, wenn wir von den Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien absehen, nur selten Ziel von wirklich großen Gruppen Schutzsuchender. Erst jetzt sind wir konfrontiert mit Hunderttausenden, die gewaltsame Auseinandersetzungen im Nahen Osten und in Afrika nach Europa und in unser Land treiben.

Jetzt sind wir gefordert, jene Verpflichtung einzulösen, die die Bundesrepublik mit der Genfer Flüchtlingskonvention Mitte der 1950er Jahre übernommen hat, zu einer Zeit, in der niemand Fluchtbewegungen in der augenblicklichen Größe vorhergesehen hat und vorhersehen konnte. Und wir haben uns mit der schwierigen Frage auseinanderzusetzen, wie wir unserer rechtlichen und moralischen Verpflichtung zum Schutz von Verfolgten nachkommen können, ohne die Stabilität und Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu gefährden.

Eines wissen wir: Die existentielle Erfahrung eines Heimatverlusts ist Flüchtlingen auf der ganzen Welt gemein – die tiefe Prägung durch eine häufig traumatische Flucht, die Trauer um das Verlorene, das Fremdsein im Ankunftsland, die Zerrissenheit zwischen dem Nicht-Mehr-Dort- und Noch-Nicht-Hier-Sein.

„Es plagte mich die Sehnsucht nach Rückkehr“, gesteht Bahman Nirumand, der als politischer Flüchtling aus dem Iran Anfang der 1980er Jahre nach Deutschland kam. So wie die deutschen Vertriebenen von Schlesien, dem Sudetenland oder der Bukowina träumten, so träumen die Flüchtlinge unserer Tage vom Basar in Aleppo, dem Volkspark in Teheran oder dem Sindschar-Gebirge im Nordirak. Und würde man den Namen des Landes austauschen, könnte das, was der syrische Dokumentarfilmer Orwa Nyrabia anderthalb Jahre nach seiner Flucht bekannte, vor siebzig Jahren auch ein Vertriebener gesagt haben. Ich zitiere: „Die ständige Beschäftigung mit Syrien verhindert, dass ich ein neues Leben in Berlin suche. Man bleibt gefühlsmäßig fremd. Aber andererseits hilft es meinem inneren Gleichgewicht, weil ich spüre, dass ich nicht vollständig von meinen Wurzeln abgeschnitten bin.“

Wir wissen aus der eigenen geschichtlichen Erfahrung: Es braucht Zeit, Flüchtlinge in eine Gesellschaft einzugliedern, und es braucht Zeit, Einheimische an eine sich verändernde Gesellschaft zu gewöhnen. Wir beginnen aber erst allmählich zu erfassen, wie langandauernd und wie kräftezehrend auf beiden Seiten der Prozess der Eingliederung ist, wenn Einheimische und Ankömmlinge gänzlich anderen und unterschiedlichen Kulturen angehören.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen ja Menschen, die dieselbe Sprache sprachen, denselben christlichen Konfessionen und derselben Kultur angehörten. Heute fällt Einheimischen wie Neuankömmlingen die sprachliche Verständigung sehr schwer, und jede Seite fremdelt mit den Mentalitäten, Religionen und Lebensstilen des jeweils anderen. Der iranische Autor Bahman Nirumand beispielsweise brauchte viele Jahre, sich geistig, kulturell, aber auch emotional der neuen Umwelt anzunähern. „In mir“ – bekannte er – „fand ein permanenter Kulturaustausch, ja ein regelrechter Kulturkampf statt.“

Im Unterschied zu den Vertriebenen von damals ist Deutschland für die Flüchtlinge von heute auch nicht das Vaterland, sondern der fremde Staat, der sich in vielen Fällen nur als vorübergehender Schutzraum oder zeitweiliges Gastland erweisen wird. Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wird, müssen unser Land in der Regel wieder verlassen. Selbst für jene, die als politische oder Bürgerkriegsflüchtlinge anerkannt sind, existiert – anders als bei den Deutschen nach 1945 – oftmals tatsächlich eine Rückkehroption.

Nicht verschwiegen werden soll an dieser Stelle auch, dass die augenblickliche Flüchtlingszuwanderung mit Risiken verbunden ist, die die Einwanderung vor siebzig Jahren so nicht kannte. Kein Land, das Schutzbedürftige aufnimmt, kann völlig ausschließen, dass sich unter die Fliehenden auch Personen mischen, die dem Aufnahmeland Schaden zufügen wollen oder sich nach der Aufnahme radikalisieren. Das macht es heute für viele Menschen noch schwieriger als damals, wirklich Hilfsbedürftigen mit Offenheit und Empathie zu begegnen.

Wir brauchen also einen langen Atem, damit jene, die bleiben wollen und dürfen, das Gefühl der Zugehörigkeit zu diesem Staat und der Loyalität ihm gegenüber entwickeln. Selbst die Integration der deutschen Vertriebenen war keineswegs immer eine Erfolgsgeschichte. Das wissen Sie ja viel besser als ich.

Allzu oft stießen sie auf Kälte und Ablehnung, obwohl sie Deutsche waren. Sie waren – wie der Schriftsteller Peter Härtling es aus eigener Erfahrung wusste – „Fremde, […] die behaupteten, Häuser und Höfe besessen zu haben, und nichts als dreckige Bündel und ihre Anmaßung mitbrachten. Fremde, die vorgaben, Deutsche zu sein, und sich in einer falschen Sprache ausdrückten, die man weit fortwünschte.“

Wie wir sehen braucht es wenig, um jemanden zum Fremden abzustempeln. Und es fällt leicht, sich seinem Leid dann zu verschließen und stattdessen in eine Opferkonkurrenz einzutreten. Ältere hier im Saal dürften sich an die Bewohner bombardierter Großstädte erinnern, die ihr Leid damals gegen das der Flüchtlinge aufrechneten. Andere dürften aber auch von Vertriebenen gehört haben, die den Flüchtlingen von heute eine Unterstützung missgönnen, auf die sie selbst damals leider nicht hoffen konnten.

Denen, die so fühlen und denken, möchte ich sagen: Wirkliche Empathie sieht allein das leidende Individuum, den leidenden Menschen. Deshalb ist mir auch jene Haltung im aktuellen Diskurs fragwürdig, die die Flüchtlinge von heute willkommen heißt, das Schicksal der Landsleute von damals aber ignoriert oder marginalisiert.

Wir brauchen keinen Wettstreit darüber, wer mehr gelitten hat und wem mehr geholfen wurde. Flüchtlinge – wie Opfer überhaupt – müssen sich nicht gegenseitig verdrängen im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit, sie können ihre Schicksale vielmehr miteinander verknüpfen.

Es hat mich beeindruckt, wie vertriebene Deutsche in den vergangenen Monaten gemeinsam mit Flüchtlingen aufgetreten sind, wie sie sich ausgetauscht und um gegenseitiges Verständnis geworben haben. Ein Drittel unter den ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern, so ergab es eine neue Untersuchung, kommt selbst aus einer Vertriebenenfamilie, prozentual also weit mehr, als ihrem Anteil in der Bevölkerung entspricht. Ihnen allen gilt mein ausdrücklicher Dank!

Wer wüsste besser als die Vertriebenen, dass der beste und schnellste Weg zur Eingliederung über das gemeinsame Tun und das persönliche Miteinander erfolgt – in der Arbeitswelt, aber auch im Alltag. Wer wüsste besser als die Vertriebenen, dass schneller in neuer Umgebung ankommt, wer neben staatlicher Unterstützung auch gesellschaftliche Offenheit erfährt.

Viel Arbeit liegt vor uns. Flüchtlinge wie Mehrheitsgesellschaft werden sich verändern, Deutschland als Ganzes wird sich verändern. Und dennoch werden wir bleiben, wer wir sind, weil wir entschlossen sind, diesen Prozess zu gestalten: in dem Geist und auf die Art und Weise, die uns und unserem Land entsprechen.

Wir werden festhalten an unseren Grundlagen der Demokratie und des Rechtes. Und wir werden geprägt bleiben vom humanen Geist und einer Haltung der Offenheit, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit gegenüber Verfolgten, Vertriebenen und Entrechteten. Das bleibt unser Markenzeichen. Das wollen wir, das werden wir nicht aufgeben.


Ansprache zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 3. September 2016

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius MdB

Lieber Herr Bundespräsident,

haben sie vielen, vielen Dank für Ihre wegweisenden Worte. Sie haben den Erinnerungsschatten angesprochen, in dem sich unser Schicksal viel zu lange befand. Ich danke Ihnen von Herzen dafür, dass wir mit Ihnen einen Mitstreiter haben, mit dem wir gemeinsam Licht in diesen Schatten bringen können.

Meine Damen und Herren,

am 1. August hat das Bundesverwaltungsamt mit der Bearbeitung der Anträge zur Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter begonnen. Ich habe gerade gestern die Information bekommen, dass die ersten Gelder bei den Betroffenen angekommen sind. Darüber freue ich mich sehr! Und ich danke Ihnen allen, dass Sie sich – auf der jeweiligen Ebene der Gliederungen zusammen mit unseren politischen Partnern – für diese Entschädigung stark gemacht haben.

Als Verband haben wir das Schicksal dieser Menschen nie aus dem Blick verloren! Die Männer waren damals vielfach im Krieg, danach in Gefangenschaft. Deswegen wurden besonders viele Frauen, manchmal auch Kinder Opfer von Zwangsarbeit. Sie fanden danach bei unserem Frauenverband sensible Betreuung und die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen und so eigene Traumata aufzuarbeiten und vielleicht zu überwinden. Ich danke daher ausdrücklich dem Frauenverband im BdV für das Geleistete.

Meine Damen und Herren, Ihr aller ehrenamtliches Wirken in den Landsmannschaften und Landesverbänden, in unseren Gliederungen bis hin zur Ortsverbänden hat zu diesem Erfolg geführt: Ohne Sie gäbe es diese Entschädigung heute nicht. Dankeschön!

Ein Blick auf Zwangsarbeit und Lagerhaft, meine Damen und Herren, ist auch eines der vielfältigen Argumente für das diesjährige Leitwort:

„Identität schützen – Menschenrechte achten“.

Denn Zwangsarbeit und Lagerhaft sind Menschenrechtsverletzungen, weil sie die Würde und Identität der Betroffenen auf das Tiefste verletzen, ja sogar zerstören können.

Unsere heute bereits von Ihnen, Herr Bundespräsident, angesprochene Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller hat genau dieser Identitätszerstörung weit über den konkreten Bezug der  Zwangsarbeit hinaus in ihrem Buch „Atemschaukel“ mit einem beklemmendes Denkmal in unsere Erinnerung gebracht. Immer wieder ist dort etwa von der Zerstörung der Menschen durch Hunger in den Arbeitslagern die Rede. Das Hungertrauma prägt den Protagonisten des Romans bis in die Gegenwart. Zitat: „Ich muss dem Hunger heute noch zeigen, dass ich ihm entkommen bin. […] Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern.“

Für viele Zivilisten hatte allein ihre deutsche Identität eine Verfolgung ohne individuelle Schuld zur Folge, rein nach dem willkürlichen Prinzip einer Kollektivhaftung. Die Folgen davon sind bekannt: Vertreibung, Verachtung, Identitätsbruch – im schlimmsten Fall Verlust des Lebens.

Dabei vergessen wir nicht den Holocaust, vergessen nicht die unsagbaren Verbrechen der Nationalsozialisten, vergessen nicht, wie viele Menschen auch von Nazi-Deutschland zur Arbeit gezwungen wurden.

Stalin-Erlass: Unheilsspruch über ganze Volksgruppe

Ganz besonders gedenken wir in diesen Tagen des schweren Schicksals der Deutschen aus Russland. Der nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion verabschiedete Stalin-Erlass zur Deportation der Wolgadeutschen vom 28. August 1941 war ein furchtbarer Unheilsspruch über eine ganze Volksgruppe.

Vor 75 Jahren wurden dadurch rund 85 Prozent der in der Sowjetunion ansässigen Deutschen entrechtet, enteignet und deportiert. Familien wurden auseinandergerissen. Der überwiegende Teil der Menschen musste in der sogenannten Trudarmee oder in den sowjetischen Gulags Zwangsarbeit leisten. Verbannung und Lagerhaft forderten unzählige Todesopfer.

Liebe russlanddeutsche Landsleute, ich versichere Ihnen, dass der BdV an Ihrer Seite steht und Sie auch zukünftig bei der Durchsetzung ihrer berechtigten Anliegen unterstützt.

„Identität schützen – Menschenrechte achten“ ist ein Leitwort, das uns sowohl heute als auch für die Zukunft als Wegweiser dienen kann. Es ist mit Bedacht und nah an der heutigen Realität gewählt worden. Wenn die Identität durch dramatische Lebensereignisse wie Flucht, Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit in Gefahr ist oder beschädigt wird, ist es umso wichtiger, dass Anknüpfungspunkte, zu denen man zurückkehren kann, als identitätsstiftende Merkmale erhalten bleiben.

Die vielen unterschiedlichen Bräuche, die tief in den jeweiligen Heimatgebieten und Familien verwurzelt sind, entstammen in unseren Kreisen dem christlichen Glauben. Diese Bräuche und Traditionen sowie die eigenen Vorstellungen davon machen einen beträchtlichen Teil unserer Identität aus. Christliche Werte sind die Grundlage unserer kulturellen, europäischen Identität.

Seit Beginn der Flüchtlingswelle ist das Interesse an der Arbeit des Bundes der Vertriebenen, des einzigen repräsentativen Verbandes der rund 15 Millionen vertriebenen Deutschen, gewachsen. Seit nunmehr 60 Jahren nehmen wir verlässlich unsere Aufgaben wahr: von der Erinnerungs- und Kulturarbeit über das verständigungspolitische Zusammenwirken bis hin zur haupt- und ehrenamtlichen Integrationsförderung. Der Bund der Vertriebenen betreibt in 10 Bundesländern 17 Beratungsstellen, die auch den Vertriebenen und Flüchtlingen von heute, jedem Menschen unabhängig von einer Mitgliedschaft im Verband, offen stehen.

Empathie mit Opfern – Missbrauch bekämpfen

Dieser Einsatz ist aufgrund aktueller Herausforderungen auch dringend nötig. Denn Flüchtlinge und Vertriebene kennen unsere Art zu leben nicht. Sie kommen aus völlig anderen Kulturen. Weder sprechen noch verstehen sie die bei uns gesprochene Sprache. Das sind völlig andere Grundlagen einer Integration als etwa damals bei uns, vor 70 Jahren.

Ich habe vor genau einem Jahr von dieser Stelle aus gefordert: Wir schulden Vertriebenen und Flüchtlingen von heute Empathie und Verständnis. Wir brauchen aber auch eine klare Differenzierung zwischen Schutzbedürftigen einerseits und solchen Menschen, die – zum Glück - nicht vertrieben werden und die nicht fliehen müssen, sondern sich selbst, aus meist wirtschaftlichen oder anderen privaten Gründen, für eine freiwillige Migration entscheiden, für die ich oft Verständnis habe.

Diese Menschen haben weder Schutzbedürfnis noch haben sie einen Schutzanspruch. Von diesen fordere ich echte Solidarität mit den wirklich Verfolgten und das bedeutet, die Aufnahmewege für diese nicht für eine einfache Migration zu missbrauchen!

Keine Kompromisse bei unserem kulturellen Erbe

Wesentlicher Baustein in einem vereinten Europa ist sein kulturelles Erbe. Da, wo es um unser kulturelles Erbe geht, machen wir keinerlei Kompromisse. Es muss ganz klar sein, dass wir eine ehrliche und angemessene Erinnerungskultur benötigen, die sowohl das materielle als auch das immaterielle Erbe umfasst!

Unser Kulturerbe – und Sie, Herr Bundespräsident haben es dankenswerterweise heute bestätigt – ist ein wesentlicher Teil der gesamtdeutschen, ja gesamteuropäischen Kultur, unser Schicksal ist Teil unserer kollektiven Biografie. Diese Tatsache in unsere Gesellschaft hinein zu reflektieren – sehr konkret und nicht verwässert –, bleibt unsere gemeinsame Aufgabe. Sie ist gesetzliche Verpflichtung für Bund und Länder gemäß § 96 BVFG. Die Verpflichtung gilt dem Erhalt und der Weiterentwicklung dieses Erbes. Sie steht nicht zur Disposition und darf sich auch nicht etwa in musealer Aufbewahrung erschöpfen! Die Weiterentwicklung bedarf der Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Verbände – eine zunehmende Projektförderung etwa kann sie allenfalls flankieren, aber keinesfalls aber nachhaltig zukunftssicher machen.

Anfang 2016 hat Kulturstaatsministerin Professor Grütters eine Konzeption zur Weiterentwicklung und Förderung der Kulturleistungen der Vertriebenen vorgelegt. Das war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung! Die Eckpunkte skizzieren eine partizipative Herangehensweise unter Einbeziehung der Heimatvertriebenen. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, für die ich ausdrücklich danke und die weitergeführt werden muss, etwa durch Förderung der Landsmannschaften und unserer eigenen Kulturstiftung der deutschen Heimatvertriebenen.

Ich danke ausdrücklich auch den Ländern, die dieser Aufgabe ebenfalls gerecht werden. Beispielhaft und stellvertretend dem Freistaat Bayern, und ich bitte Sie, Frau Staatsministerin Müller, diesen Dank stellvertretend für alle Länder, die die Aufgaben erfüllen, an die bayerische Staatsregierung mitzunehmen.

Ich appelliere in dieser Sache gleichzeitig nicht nur an die anderen Länder, sondern auch an uns selbst: Wir müssen auch selbst dafür Sorge tragen, dass das Erbe unserer Väter und Mütter einen festen, lebendigen Platz im kollektiven Gedächtnis behält.

Ich bin deswegen sehr froh, dass wir mit der Bundesstiftung Flucht Vertreibung Versöhnung und der Dauerausstellung im Deutschlandhaus nun auf einem guten Weg sind. Hier gilt es, den viel zu langsamen Baufortschritt voranzutreiben und dieses gesamtgesellschaftliche Projekt wirklich bald und ohne weiteren Verzug fertig zu stellen.

Gesetzliche Verpflichtung zur Weiterentwicklung des Kulturerbes ernst nehmen

Besonders am Herzen liegen mir die vielen Heimatstuben und Heimatsammlungen. Es ist bekannt, dass viele davon kurz- und mittelfristig in ihrer Existenz gefährdet sind, weil Kräfte und Mittel zunehmend fehlen. Auch diese besonderen Kleinode der Vergangenheit gilt es zu erhalten! Aus Zuschriften und Briefen, aus vielen persönlichen Gesprächen erfahre ich immer wieder auch Zweifel, ob Deutschland seiner historischen und – über das Bundesvertriebenengesetz sogar gesetzlichen – Verantwortung für die Pflege und Weiterentwicklung der Kultur der Heimatvertriebenen vollumfänglich gerecht wird?

Auf Bundesebene ist hinsichtlich zur Verfügung gestellter Mittel ein ganz deutlicher Aufwärtstrend zu verzeichnen, für den ich der Bundesregierung und Staatsministerin Monika Grütters aufrichtig danke. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich bei den nächsten Tagen der Heimat von der gleichen Stelle den Dank an weit mehr Länder als etwa den Freistaat Bayern weitergeben könnte. Ich appelliere an diese Länder, ebenfalls ihren Beitrag zu leisten.

Zwangsarbeiterentschädigung moralische Wiedergutmachung für Sonderopfer

Zu den leidvollen Kapiteln unserer Geschichte, meine Damen und Herren, gehören neben Flucht, Vertreibung, Verlust der Heimat und Millionen von Todesopfern auch die bereits angesprochene Deportation und Zwangsarbeit. Die vom Bundestag beschlossene Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter erfüllt die langjährige Forderung des Bundes der Vertriebenen, endlich auch dieser Opfergruppe Anerkennung zu zollen. Der Bund der Vertriebenen wird den Vollzug der Entschädigung eng mitbegleiten. Die Entschädigung kommt jetzt, 70 Jahre nach Kriegsende, tatsächlich zwar sehr spät. Trotzdem ist es ein Akt hoher Symbolkraft. Die Betroffenen, von denen leider nur noch wenige leben, erfahren damit endlich eine moralische Wiedergutmachung und Anerkennung für ihr getragenes Sonderopfer.

Überwiegend erfreuliche Entwicklungen im Verhältnis zu östlichen Nachbarländern

Ebenfalls erfreulich sind die Entwicklungen, die unsere Landsmannschaften in ihrem Verhältnis zu den meisten unserer östlichen Nachbarländer verzeichnen können. Lassen Sie mich mit den Positivbeispielen beginnen:

Erstmalig in diesem Jahr hat ein offizieller Vertreter der tschechischen Regierung am Sudetendeutschen Tag in Nürnberg teilgenommen: der tschechische Kulturminister Daniel Herman. Er bekannte, dass dieser Besuch längst überfällig gewesen sei und nutzte auch die Gelegenheit, endlich von offizieller Seite eine Abkehr vom lange vorherrschenden Dogma der Kollektivschuld zu erklären. Geradezu historisch in der Tragweite ist seine Aussage, wonach er sich „(…) als Politiker den Worten des Bedauerns anschließen [möchte], die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahre 1990 vom damaligen Präsidenten Václav Havel ausgesprochen wurden.“ Havel sagte damals nämlich, dass die Vertreibung der Deutschen aus den böhmischen Ländern eine unmoralische Tat gewesen sei, die nicht durch das Verlangen nach Gerechtigkeit, sondern durch den Drang nach Rache geleitet gewesen sei.

Am 19. Januar 2016 hat Ungarn auf dem „Alten Friedhof“ in Wudersch bei Budapest erneut mit einer Gedenkveranstaltung an das Schicksal seiner deutschstämmigen Bürger erinnert, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entweder verschleppt oder aus dem Land vertrieben wurden. Der Ministerpräsident Ungarns Viktor Orbán selbst hielt in diesem Jahr die Festrede und machte damit deutlich, dass Ungarn den Schutz von Identität sowie die Ächtung von Vertreibungen und ethnischen Säuberungen hoch hält und diesen Aspekten einen hohen Stellenwert einräumt.

Auch die Beziehungen zu Rumänien sind mehr als nur gut. Aus Bukarest und aus der rumänischen Gesellschaft hören wir Bedauern über die Aussiedlung der dort seit Jahrhunderten ansässigen deutschen Bevölkerungsanteile. Zum ersten Mal in der Geschichte trat mit Dacian Cioloş ein amtierender Ministerpräsident Rumäniens als Festredner vor die gut 20.000 Gäste des Heimattages der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl, um gleich im Anschluss auch noch am Heimattag in Ulm die Banater Schwaben mit einem Besuch zu ehren. Was das deutsche Kulturerbe in Rumänien angeht, bekräftigte der Ministerpräsident vor versammelter Gemeinschaft, dass sich der rumänische Staat zu diesem deutschen Kulturerbe bekenne und dessen Pflege gemeinsam mit den Siebenbürger Sachsen, den Banater und Sathmarer Schwaben und den anderen Deutschen Rumäniens mit neuem Leben füllen wolle.

Die Entwicklung in Polen verfolgen wir weiterhin aufmerksam. Wir bedauern, dass der Dialog zwischen den Vertriebenen und der höchsten politischen Ebene so überaus schwer in Gang kommt. Die Ursachen dafür sind – hüben wie drüben – vielfältig. Um nur ein symptomatisches Beispiel zu nennen: Es ist für mich bedauerlich, dass der Deutsche Bundestag 25 Jahre nach der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages mit Polen nicht in der Lage war, eine über Parteigrenzen hinweg mehrheitsfähige Entschließung zu diesem in Einzelfragen zwar auch verbesserungsfähigen und im Ergebnis Europa doch sehr fördernden Verständigungswerk zu verabschieden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass interessierte Kreise an längst überholten Feindbildern festhalten – das zu Lasten einer redlichen, beidseitigen Versöhnungsarbeit, die von den Heimatvertriebenen und Spätaussiedlern längst praktiziert, gelebt und vor Ort anerkannt wird!

Diskussionspunkt war ausgerechnet unsere Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950, ein Dokument der Versöhnung, in dem sich die deutschen Heimatvertriebenen der Schaffung eines geeinten Europa und gemeinsamen Werten verpflichteten! Diese Charta ist auch ein sehr frühes Manifest der Aufbau- und Integrationsbereitschaft, unterzeichnet von den Heimatvertriebenen und ihren Verbänden.

„Charta der Flüchtlinge und Zuwanderer“ könnte gesellschaftlichen Frieden verbessern

Ich denke, dass es um den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland besser bestellt wäre, gäbe es ein ähnliches eigenes Bekenntnis der Zuwanderer und Flüchtlinge heutiger Tage, die aus fremden Kulturkreisen zu uns gekommen sind und zu uns kommen und die hier bleiben wollen – eine „Charta der Flüchtlinge und Zuwanderer“ mit eindeutigen Bekenntnissen zum deutschen Rechtsstaat, seiner demokratischen Grundordnung und unserer Wertegemeinschaft. Vielleicht auch dem Wunsch nach Rückkehr und zum Aufbau der eigenen Heimat.

Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ausklang meiner Ansprache eines betonen: Nur wer sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, ist glaubwürdig und wird als Gesprächspartner ernst genommen. Das gilt im Übrigen sowohl für den Einzelnen als auch für die Gruppe, es gilt für Verbände und souveräne Staaten. Es gilt etwa bei der Benennung eines Völkermords genauso wie bei der Benennung von Vertreibungsunrecht, in Ostpreußen, im Sudetenland, in Russland oder sonst wo.

Rückfall in rein nationale Denkmuster schadet europäischem Gedanken

Wir Heimatvertriebene und Spätaussiedler wollen an uns selbst auch weiterhin den Anspruch stellen, gute Gesprächspartner und Vermittler zwischen Deutschland und unseren östlichen Nachbarländern zu bleiben. Wir müssen vorleben, was es heißt, gute und überzeugte Europäer zu sein. Denn ein Rückfall in rein nationale Denkmuster der Vergangenheit schadet letztlich Europa und allen seinen Bürgern. Nehmen wir zur Kenntnis: Die europäische Osterweiterung hat uns Heimatvertriebenen gleichsam unsere Heimat zurückgegeben, wir leben alle in einem friedlichen und freien gemeinsamen Haus.

Zum Schluss sage ich Ihnen allen, die Sie heute hier sind, im Namen des Bundes der Vertriebenen ein herzliches Dankeschön für Ihr Engagement und Ihre Arbeit. Sie alle, wir alle treten für das, was uns verbindet, mit viel Kraft und mit Herzblut ein. Wir tun dies, weil es uns nicht gleichgültig ist, was aus unserem kulturellen Erbe und aus unserer Gemeinschaft wird.

Wir tun es auch, weil wir unsere Heimat, die alte und die neue, im Herzen tragen und in die Zukunft mitnehmen wollen.

Danke schön!