„Vertreibungen und Deportation ächten – Völkerverständigung fördern“
Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen 2021
Programm
Urania Berlin, Humboldt-Saal, 28. August 2021, ab 12 Uhr
"70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen"
Film anlässlich des Charta-Jubiläums 2020
Eurovisionsfanfare
Marc-Antoine Charpentier (1643-1704)
Ansprache
Dr. Bernd Fabritius MdB
Präsident
Rondeau
Jean-Joseph Mouret (1682-1738)
Festrede
Dr. Markus Söder MdL
Ministerpräsident des Freistaates Bayern
Spiritualgebet
Enrique Crespo (1941-2020)
Geistliches Wort und Gedenken
Weihbischof Dr. Reinhard Hauke
Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) für die Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge
La paix (aus der Feuerwerksmusik)
Georg Friedrich Händel (1685-1759)
Nationalhymne
Im Anschluss an den Festakt findet um 15:00 Uhr die Kranzniederlegung auf dem Theodor-Heuss-Platz statt. Es sprechen
der Berliner BdV-Landesvorsitzende, Staatssekretär a.D. Rüdiger Jakesch,
der Berliner Innensenator, Andreas Geisel MdA und
BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius MdB.
Musikalische Gestaltung: Potsdamer Turmbläser, Leitung: Bernhard Bosecker
Ansprache
Ansprache zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 28. August 2021 in der Urania Berlin
BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Söder, lieber Markus,
sehr geehrter Herr Weihbischof Dr. Hauke,
geehrte Exzellenzen und Eminenzen,
meine Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestags und der Landtage,
verehrte Ehrengäste aus Bund, Ländern und Gemeinden,
liebe Vertreter der deutschen Minderheiten aus den Nachbarländern,
meine Damen und Herren,
zur diesjährigen Auftaktveranstaltung des Tages der Heimat 2021 des Bundes der Vertriebenen heiße ich Sie alle ganz herzlich willkommen.
Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie, Herr Ministerpräsident Dr. Söder, heute die Festrede halten werden und begrüße Sie persönlich ganz herzlich in unseren Reihen. Herzlich willkommen!
Herr Ministerpräsident, Sie sind bei den deutschen Heimatvertriebenen, den Aussiedlern und Spätaussiedlern nicht nur ein vertrautes Gesicht, nicht nur ein sehr, sehr gerne gesehener Gast. Sie stehen zu uns, Sie sind durch Bekenntnis einer von uns, Sie sind Mitglied der Sudetendeutschen Landsmannschaft und natürlich auch des Verbands der Siebenbürger Sachsen in Deutschland und wahrscheinlich noch so einiger Selbstorganisationen der Deutschen Heimatvertriebenen – und dafür danken wir aus ganzem Herzen.
Ihnen, sehr geehrter Weihbischof Dr. Hauke, sind wir ebenfalls zu Dank verpflichtet. Sie werden mit dem geistlichen Wort als Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge – wie so oft, es ist schon Tradition – unseren Tag der Heimat würdig und angemessen beschließen.
Ich begrüße des Weiteren ganz ganz herzlich: Ihre Exzellenzen, die Botschafter und Vertreter der Botschaften von Ungarn, aus Rumänien, aus Slowenien, der Slowakei, der Tschechischen Republik, aus Kroatien, aus Frankreich, aus der Ukraine sowie das gesamte anwesende Diplomatische Corps und ich begrüße die Landesbeauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, die aus den Ländern heute zu uns gekommen sind. Meiner Kollegin aus Niedersachsen, Editha Westmann, gratuliere ich ganz herzlich zur gestrigen Wahl in das Präsidium des Bundes der Vertriebenen.
Ich freue mich natürlich, dass schon traditionell die Potsdamer Turmbläser unter der Leitung Bernhard Boseckers unsere Veranstaltung musikalisch umrahmen werden und sage jetzt schon danke dafür.
Zum ersten Mal, meine Damen und Herren, übertragen wir unsere zentrale Auftaktveranstaltung live über unsere Internetseite – und werden so vielleicht auch den einen oder die andere erreichen, die heute wegen der Corona-Einschränkungen nicht mit im Saal sein können. Letztlich herzlichen Dank Ihnen allen dafür, dass sie heute hier sind.
Viele von Ihnen, meine Damen und Herren, befinden sich noch – wie ich auch – auch im Nachhall der bewegenden Bilder, die wir vorhin gesehen haben. Auch wenn der Film hauptsächlich die Charta der deutschen Heimatvertriebenen in den Blick nimmt, so weckt er bei manchen die Erinnerungen an die eigene Flucht oder Vertreibung. Oder die Erinnerung an die zahllosen Gespräche und Erzählungen der Eltern und Großeltern, die zeit ihres Lebens von dem erlittenen Leid und den erlebten Gräueln geprägt blieben.
Wir alle hätten uns gewünscht, dass es die Charta der deutschen Heimatvertriebenen gar nicht erst hätte geben müssen! Die Geschichte aber, liebe Landsleute, bleibt nicht stehen. Sie wird nicht gestundet und macht keine Pause. Sie geht nach jedem Ereignis, so unermesslich tragisch oder katastrophal es war, unweigerlich und ungebremst weiter. Auch das hat uns der Film gezeigt, und das zeigen uns leider jeden Abend die schrecklichen Bilder aktueller Nachrichten.
Auf den Verlust der Heimat folgt der Aufbruch: Jahre und Jahrzehnte, in denen jeder Einzelne, jede Familie und jede Gemeinschaft daran arbeitet, sich das neue Umfeld zur neuen Heimat zu gestalten. Das haben wir geschafft, meine Damen und Herren.
Es trifft zu, dass der Aufbruch in die Zukunft für viele bittere, ja bitterste Voraussetzungen mit sich brachte und gelingen musste. Es trifft zu, dass viele Geflüchteten und Vertriebene ihre neuen Heimatorte beinahe ein Vierteljahrhundert lang nur als Ersatzheimat betrachteten – gerade, weil ihre Hoffnungen genährt wurden, dass eine Rückkehr in die Heimat irgendwann möglich sei. Es trifft aber genauso zu und ist richtig – heute mehr noch als vor 70 Jahren – zu erkennen, dass mit der verabschiedeten Charta ein Weg vorgezeichnet wurde, der die deutschen Heimatvertriebenen letztlich in ein vereintes Europa führte.
Dieses Europa war und ist und bleibt der Garant dafür, dass wir und unsere befreundeten Nachbarstaaten seit Jahrzehnten in einer langen Periode des Friedens leben dürfen.
In Europa hat Deutschland Partner und Verbündete. Europa hat einen Raum der Freiheit geschaffen, die auch unsere, die Freiheit der Heimatvertriebenen und ihrer Nachkommen, umfasst: Wir können wieder in die alte Heimat fahren, dort Eigentum erwerben, so wir das wollen uns dort niederlassen. Das ist schon ein Erfolg der Charta der deutschen Heimatverriebenen.
Meine Damen und Herren, „Geschichte lässt sich ja nicht zurückdrehen“, war die Aussage eines Donauschwaben, mit dem ich mich bei meinem Besuch vor wenigen Wochen im Haus der Donauschwaben in Sindelfingen unterhalten konnte. Seine Eltern stammen beide aus dem Banat.
Nein, wieder zurückgehen wolle er bestimmt nicht, denn erstens hätte man sich in Deutschland eine neue Heimat erarbeitet, und zweitens sei es völlig absurd, das Leben der Dorfgemeinschaften von vor 80 Jahren gedanklich ins 21. Jahrhundert übertragen zu wollen. „Man soll gedenken und erinnern, aber immer auch mit der Zeit Schritt halten und aus starken Wurzeln viel Kraft für neues schöpfen“, war sein Resümee.
Es bleibt Aufgabe des Bundes der Vertriebenen und seiner Landsmannschaften, Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den historischen deutschen Ostgebieten als das Unrecht zu bezeichnen, das von den Rache nehmenden Vertreiberstaaten im Osten an uns und an unseren Landsleuten verübt wurde.
Wir vergessen dabei niemals die entmenschlichte und entmenschlichende Kriegs- und Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten mit ihren kaum vorstellbaren Menschheitsverbrechen – vor allem im Holocaust.
Die Völker im Osten haben Rache genommen. Büßen mussten dafür vor allem diejenigen Deutschen, die ihre Heimat im damaligen Ostdeutschland, jenseits von Oder und Neiße hatten. Aber auch unsere Landsleute in den deutschen Siedlungsgebieten wie z.B. in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn oder Jugoslawien. Sie mussten stellvertretend für alle Deutschen die bittersten Konsequenzen tragen.
Immer und immer wieder stellen wir andererseits der Benennung des geschehenen Unrechts unseren unbedingten Willen zur Verständigung und zur gemeinsamen Zukunft mit unseren osteuropäischen Nachbarn an die Seite – so, wie unsere Väter und Mütter es in der Charta niedergeschrieben haben. Wir haben die Hände zur Versöhnung gereicht – und dafür, nur dafür, steht unser Logo des diesjährigen Tages der Heimat für Versöhnung unter dem Dach des BdV und unserer Charta unter einem vereinten Europa.
Das ist glaubwürdig, meine Damen und Herren, weil wir Menschenrechte einfordern und grenzüberschreitende Verständigung anbieten. Das ist christlich, weil es Verzicht auf Rache bedeutet. Und es ist zukunftsweisend, weil wir – bei aller Kritik, die man an den europäischen Institutionen üben kann – gut beraten sind, Europa als schützendes Dach zu verstehen und zu sehen. Auch dieses Dach haben wir symbolisch in unser Veranstaltungslogo aufgenommen.
Verständigungspolitik, von der großen politischen Bühne bis hinein ins familiäre Private, ist unverzichtbare Voraussetzung für andauernden Frieden. Dieser vermeintliche Zweiklang, meine Damen und Herren, zwischen Benennen des Unrechts einerseits und Ausstrecken der Versöhnungshand andererseits verschmilzt bei näherem Betrachten: Es sind zwei Aspekte, die sich beide aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs speisen.
Gerade, weil der Naziterror und der Zweite Weltkrieg die Welt derart aus den Fugen gehoben haben, brachen vielerorts Schutzmauern, die Menschlichkeit von Unmenschlichkeit trennten zusammen. Und wo diese Dämme geschleift wurden, war es nur noch ein sehr kleiner Schritt hin zu den Vertreibungen und ethnischen Säuberungen, die damals schon Unrecht waren und niemals – ich betone: niemals – ihren Unrechtscharakter verlieren werden. Es liegt auch an uns, dafür zu sorgen, dass dort, wo wir es beeinflussen können, die Schutzmauern der Menschlichkeit zukünftig sicher und fest stehen.
Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, lautet das diesjährige BdV-Leitwort „Vertreibungen und Deportation ächten – Völkerverständigung fördern“. Das Leitwort versteht sich ebenso als bittere Erkenntnis aus der Geschichte, wie auch als Forderung für das menschliche Miteinander in aller Zukunft.
Es erfüllt mich persönlich mit Trauer, die aktuellen Tragödien an zahlreichen Schauplätzen auf der ganzen Welt verfolgen zu müssen, und unsere Gedanken sind in Afghanistan – bei den schrecklichen Bildern, die wir von dort zur Kenntnis nehmen müssen.
Hat die Menschheit in ihrer Geschichte, meine Damen und Herren, das Soll an Fluchtgeschehen und Vertreibungen nicht bereits mehr als erfüllt? Müssen wir immer wieder aufs Neue Jahr für Jahr Millionen Menschen gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen? Wo bleibt das von uns geforderte sanktionsbewehrte Instrument des Vertreibungsverbots, mit dem endlich die Vertreiber – und nicht länger die Vertriebenen – in die Knie gezwungen werden?
Wir deutschen Heimatvertriebenen, genauso wie die Aussiedler und Spätaussiedler in unseren Reihen, haben am eigenen Leib erfahren müssen, was es bedeutet, Opfer und Leidtragende von Krieg, von ethnischen Säuberungen sowie von menschenverachtenden politischen und militärischen Schachzügen zu werden.
Wir im Bund der Vertriebenen würdigen zu jeder Zeit aber auch die schlimmen Jahre und Jahrzehnte, die unsere Heimatverbliebenen unter der Knute kommunistischer Regime zu erdulden hatten. Die Menschen, die dann als Aussiedler und Spätaussiedler nach Deutschland kamen – und nach wie vor kommen –, trugen während des Kriegs die schwere Bürde, in ihrer Heimat als Deutsche unter deutsch-feindlichen Regimen zu leben. Für sie war der Krieg zwar zu Ende, nicht aber die fortgesetzten ethnisch begründeten Repressionen als Deutsche durch die Mehrheitsgesellschaft in ihren Ländern.
Selbst in einem heutigen grenzüberschreitenden Verständnis sind die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge und die heimatverbliebenen deutschen Minderheiten in den mittel- und osteuropäischen Ländern zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Gerade die Heimatverbliebenen und ihre Familien sind es, die vor Ort in unseren Nachbarländern einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur und einer guten Verständigung den Boden bereiten. Wir im Bund der Vertriebenen wollen sie noch stärker als bisher in unsere Arbeit und in unsere Aktivitäten einbinden – ganz in dem Bewusstsein, dass wir für ein und dieselbe Sache einstehen. Es ist gut, dass unsere Landsmannschaften einen intensiven Austausch mit den Heimatverbliebenen pflegen, denn sie tun es nicht nur für sich, sondern ganz im Sinne eines europäischen Gedankens für unser Land.
Das gewählte Leitwort greift somit zwei der menschenrechtlichen und verständigungspolitischen Forderungen des BdV auf. Jeder Mensch muss in seiner Heimat dauerhafte Lebensperspektiven vorfinden können – ohne Angst, Opfer von Zwangsmaßnahmen zu werden. Deshalb fordern wir nach wie vor die kodifizierte Verankerung eines weltweiten Vertreibungsverbotes und damit die Sanktionierbarkeit von Vertreibungen.
Auch die Forderung nach mehr Verständigung unter den Völkern, die wir ins Leitwort aufgenommen haben, ist für uns keine hohle Floskel. Wie schön wäre es, wenn unser steter verständigungspolitischer Dialog mit den Nachbarn im Osten dort auch auf Spitzenebene der Politik Früchte tragen würde. Von einigen unserer östlichen Nachbarländer erwarten wir noch heute eindeutige Bekenntnisse zum Unrechtscharakter der Vertreibungen, die unsere Landsleute mit brutaler Härte trafen. Bis heute sind Unrechtsdekrete in einigen Ländern Teil der dortigen Rechtsordnung, wenn ich nur an Tschechien oder auch an Serbien denke. Damit muss es aufhören, meine Damen und Herren.
Liebe Landsleute, wir im Bund der Vertriebenen sind eine Schicksals- und zugleich eine Solidargemeinschaft. Unsere Landsmannschaften haben eigene Spezifika – sowohl in der Geschichte ihrer jeweiligen Heimatregionen als auch in den dort entwickelten und mitgebrachten Bräuchen, ihrer Kultur und ihren Eigenheiten.
Im Bund der Vertriebenen haben sich gemeinsam mit den 16 Landesverbänden 18 Landsmannschaften zusammengeschlossen – von den Deutschbalten im Norden bis zu den Donauschwaben im Süden, von den Sudetendeutschen, deren Heimat vor der Vertreibung übrigens in Teilen westlicher liegt als Passau oder Deggendorf, bis hin zu der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die für die Deutschen aus allen ehemaligen Sowjetstaaten spricht.
Wenn der BdV seine Interessen artikuliert, dann sowohl im Namen der Ost- und Westpreußen als auch des Bundes der Danziger, ebenso für die Pommern und die Ostbrandenburger wie für die Schlesier und die Oberschlesier – für alle Heimatvertriebenen, meine Damen und Herren.
Und wenn es um die schreienden Rentenungerechtigkeiten bei Aussiedlern und Spätaussiedlern geht, stehen neben der bereits genannten Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die Verbände der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben, die Sathmarer Schwaben und Ungarndeutschen bis zu den Bessarabiendeutschen und den Karpatendeutschen und erfahren solidarische Unterstützung von allen anderen Landsmannschaften, deren Mitglieder heute nicht mehr betroffen sind. Frauenverband, Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen und Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen stehen als außerordentliche Mitglieder auch bei dieser Forderung ebenfalls eng an unserer Seite: Wir halten zusammen!
Um es daher klar zu sagen: Es ist ein Zwischenerfolg für den gesamten Bund der Vertriebenen, dass wir unserer Forderung bezüglich der Abmilderung der Altersarmut bei Spätaussiedlern in der parlamentarischen Debatte zumindest teilweise Gehör verschaffen konnten. Die Einbeziehung von Zeiten nach dem Fremdrentengesetz in die zum 1. Januar 2021 beschlossene Grundrentenberechnung und Zuschlagszahlung ist ein wichtiger Teilerfolg, der in vielen Fällen eine Verbesserung bewirkt. Zu einer Beseitigung der Generationenungerechtigkeiten der 90er Jahre durch Deckelungen und Kürzung für Aussiedler und Spätaussiedler konnte sich das zuständige Bundesministerium und der dort verantwortliche Koalitionspartner SPD leider nicht durchringen. Dort wurden alle unsere Verbesserungsvorschläge mit unerträglichem Starrsinn und einer ideologisch begründeten Blockadehaltung verhindert. Das finde ich sehr bedauerlich.
Ein weiterer Teilerfolg, meine Damen und Herren, konnten wir trotzdem erkämpfen. Zur Errichtung eines Fonds zur Abmilderung von Härtefällen im Bereich der Grundsicherung, also außerhalb des Fremdrentengesetzes, wurde durch die Bundesregierung eine Milliarde Euro in den Haushalt des kommenden Jahres eingestellt. Es ist als wichtiges Signal ein Meilenstein der Aussiedlerpolitik in dieser Wahlperiode und ein immenser Gestaltungsauftrag an die nächste Bundesregierung und den am 26. September zu wählenden Deutschen Bundestag, bei dem natürlich auch die Länder mitwirken sollen.
So oder so: Von einer systematischen, strukturellen Beseitigung der Rentenungerechtigkeit bei Aussiedlern und Spätaussiedlern ist man trotz aller Signale leider noch weit entfernt. Die Schlacht ist noch nicht geschlagen. Denn die Rentennachteile für Spätaussiedler waren 1996 bei ihrer Einführung falsch, sie sind heute falsch, und sie bleiben falsch solange sie bestehen. Ich bleibe, meine Damen und Herren, an diesem Thema jedenfalls dran, bis es zu aller Zufriedenheit erledigt ist. Das verspreche ich Ihnen.
In meiner Ansprache, meine Damen und Herren, will ich einen der Schwerpunkte auch auf die Deutschen aus Russland legen, weil das Bewusstsein für und die Solidarität mit ihrem Schicksal einer der Aspekte bei der Festlegung des Leitwortes für das Jahr 2021 gewesen ist.
Genau heute vor 80 Jahre ließ Stalin den unglückseligen Erlass verabschieden, mit dem die Sowjetregierung am 28. August 1941 das Schicksal der Deutschen in Russland besiegelte und Hunderttausende in die Verbannung und zur Zwangsarbeit deportierte. Unterzeichnen musste Michail Iwanowitsch Kalinin, Vorsitzender des Obersten Sowjets, diesen Erlass.
Ich möchte diesen Vorgang historisch einbetten, um das Ausmaß, die Zäsur, für die Russlanddeutschen aufzuzeigen. Es war natürlich zuerst die unmittelbare Reaktion auf den Deutschen Überfall auf Russland. Aber es war Rache und Vergeltung an Unbeteiligten.
Es trifft zu, dass nach Kriegsende in Ostmitteleuropa, in Ost- und in Südosteuropa die größte Völkerverschiebung seit Menschengedenken stattfand. Flucht und Vertreibung, Deportation von rund 15 Millionen Deutschen aus ihren Wohnungen, Häusern, Dörfern und Städten – aus ihrer jahrhundertealten Heimat. Auch das war Rache und Vergeltung. Aber die Deutschen aus Russland traf das bereits 1941. Und schon davor, in den Jahren 1937 und 38, hatte es bereits die sogenannte „Große Säuberung“ gegeben, im Zuge derer 55.000 Russlanddeutsche exekutiert, erschossen, wurden.
Das Jahr 1941 wurde dann zum vernichtenden Schicksalsjahr für mehr als eine dreiviertel Million Russlanddeutsche. Es wird die sozialen, kulturellen, administrativen und in vielen Fällen auch familiären Strukturen dieser Volksgruppe nachhaltig zerstören. Mit der Deportation nach Kasachstan, an den Ural, nach Sibirien endete eine furchtbare Epoche in der Geschichte der Deutschen in Russland. Dort, wohin die Russlanddeutschen verbannt wurden, wartete bittere Armut, Unterdrückung und Knechtschaft auf sie. Die Zeugnisse der Überlebenden sprechen eine deutliche Sprache.
Dem Erlass-Unterzeichner Kalinin setzte man ein besonderes Denkmal mit der Umbenennung der ostpreußischen Stadt Königsberg in Kaliningrad und dem sie umgebenden Regierungsbezirk.
Mehr als 20 Jahre mussten vergehen, meine Damen und Herren, bevor der rechtliche – oder besser: Unrechts-Status – der deutschen Bevölkerung in der Sowjetunion wieder geändert werden sollte. Erst 1964 wurde der 1941 ganz pauschal erhobene Vorwurf der Kollaboration mit Nazideutschland als unbegründet bezeichnet und durch eine Teilrehabilitierung zurückgenommen. Es war das Eingeständnis der Sowjetunion, seine deutsche Bevölkerung schuldlos der Heimat verwiesen zu haben. Dass dieses Eingeständnis eher klammheimlich als bedauernd verkündet wurde, sodass die Betroffenen etwa es nur zeitverzögert und über Umwege erfuhren, entspricht durchaus dem Bild, dass man noch heute zu Recht mit einer kommunistischen Diktatur verbindet.
Tatsächlich wurde im entsprechenden „Wiedergutmachungs-Erlass“ von 1964 behauptet, dass nunmehr die Gegenden des früheren Wohnorts der Deportierten besiedelt seien und dass die deutsche Bevölkerung an den neuen Wohnorten – gemeint waren die Deportationsziele – Fuß gefasst hätte. Diese Verhöhnung, meine Damen und Herren, genau das ist es nämlich, besiegelte eines endgültig: Die Russlanddeutschen sollten weder in ihre Heimat zurückkehren, noch sollten sie an ihr Leben vor dem Krieg anknüpfen. Sie waren und blieben Entwurzelte.
In der aktuellen Denkschrift der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland formulierte der Historiker Dr. Alfred Eisfeld wie folgt:
„Aus den Deportationen der Kriegsjahre wurde eine endgültige Vertreibung. Das kollektive und individuelle Eigentum, alle Bildungs- und Kultureinrichtungen gingen unwiederbringlich verloren. Auch Kirchengebäude (…) und Grundstücke (…) konnten nicht mehr an die Gemeinden zurückgegeben werden (…). Diese Gemeinden existieren nicht mehr.“
Es ist eine Tatsache der Geschichte, dass die Russlanddeutschen der Sowjetunion sowohl im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg zwischen die Räder der Diktaturen gerieten. Mit weitreichenden und verheerenden Folgen. Die Deportation markiert einen tiefen und bis in die Gegenwart nachwirkenden Einschnitt in die kollektive Biografie der Deutschen aus Russland. Es ist daher nur folgerichtig, meine Damen und Herren, dass Deutschland bis heute ihr Kriegsfolgenschicksal anerkennt und garantiert, dass sie als Deutsche nach Deutschland wiederkommen können.
Die repressive Politik gegen die deutsche Minderheit in der ehemaligen UdSSR ist ein nur wenig bekanntes Kapitel russland- und bundesdeutscher Geschichte. Aufklärungsarbeit in dieser Sache leisten seit 2019 das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland in Nürnberg, gefördert vom Land Bayern – herzlichen Dank Herr Ministerpräsident, ich weiß, dass es ihre Initiative gewesen ist – sowie natürlich in Nordrhein-Westfalen das Detmolder Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte, dem Staatsministerin Grütters anlässlich eines Besuchs vor Ort die Bereitschaft der Bundesregierung zur dauerhaften Förderung zugesichert hat.
Lieber Herr Ministerpräsident Dr. Söder, sicherlich werden Sie, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, auch die eine oder andere politische Botschaft im Gepäck haben, und darauf freuen wir uns ehrlich. Ich möchte aber auch einige politischen Punkte ansprechen.
Wie kann es sein, dass in den Wahlprogrammen der meisten im Bundestag vertretenen Parteien die Vertriebenen und Spätaussiedler keine Rolle spielen – in einer Zeit, die geprägt ist von dem Ansatz, jeder gesellschaftlichen Gruppe, jeder Minderheit, jeder Meinung gerecht zu werden? Wie kann es sein, dass nur die CDU und die CSU sich in ihrem Programm ausführlich und zukunftsorientiert unserem Thema widmen?
Diese Fragen haben wir, übrigens als überparteilicher Verband, allen demokratischen Parteien im Bundestag gestellt: leider ohne Antwort.
Das Bekenntnis zur deutschen Geschichte in all ihren Facetten muss parteienübergreifend auch diejenigen ansprechen, die ein besonders schweres Kriegsfolgeschicksal erleiden mussten. Das Programm der Unionsparteien stellt richtigerweise fest, dass ohne die Heimatvertriebenen der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg so nicht gelungen wäre.
Ich stehe heute hier als Vertreter des Bundes der Vertriebenen – eines Verbandes, der sich parteipolitisch dem Neutralitätsgebot verpflichtet hat und mit allen politischen Akteuren das Gespräch sucht und im Gespräch seht, die sich auf dem Boden unser freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen. Unser Verband nimmt jedoch zur Kenntnis, dass beinahe allen Parteien der Wille oder gar das Vermögen fehlt, sich zur Wahrhaftigkeit der Geschichtsschreibung zu bekennen oder zumindest sich mit uns zu darüber zu sprechen.
Nur die Unionsparteien stellen fest, dass „Vertriebene und ihre Nachkommen, Aussiedler und Spätaussiedler mit ihrem Können, ihrem Fleiß und ihrer kulturellen Tradition ein Gewinn für unser Land“ sind. Man werde deshalb „den verständigungs- und erinnerungspolitischen Einsatz der Vertriebenen- und Aussiedlerverbände, den Kulturerhalt und die Kulturarbeit durch eine zukunftssichere Förderung stärken“. Richtig und gut so!
Gerade auch der im Programm geäußerte Wille, „an der gesetzlich garantierten Aufnahme von Spätaussiedlern (…) festhalten und weiterhin Eingliederungshilfen leisten“ zu wollen, ist im 80. Jahr der Verbrechen an den Deutschen aus Russland ein wichtiges Zeichen für uns deutsche Heimatvertriebenen.
Derartiges, meine Damen und Herren, wollen wir in den Programmen aller Parteien lesen! Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler sind ein Teil des Querschnitts der Gesamtbevölkerung – und haben den Anspruch darauf, wahrgenommen zu werden. Leider Fehlanzeige.
Der BdV steht seit fast sieben Jahrzehnten auf dem Fundament unserer Charta der Heimatvertriebenen. Die Arbeit der Vertriebenenverbände ist nicht nur Selbstzweck, sondern ganz bewusstes Engagement für unsere Gesamtgesellschaft und das gute Verhältnis Deutschlands zu seinen Nachbarländern.
Der Bund der Vertriebenen steht – und das, meine Damen und Herren, muss auch im Interesse unseres Landes sein – nach wie vor für das Bestreben, Ehrlichkeit in der Erinnerungs- und Gedenkkultur durchzusetzen. Wir fordern die Sicherung des kulturellen Erbes der Heimatvertriebenen und bieten den verständigungspolitischen Dialog mit den Nachbarn im Osten. Wir bieten das an.
Für uns umfasst die Sicherung des kulturellen Erbes auch die Sicherung des Wissens um die Umstände von Flucht und Vertreibung. Und das bringt mich unweigerlich zu dem im Juni dieses Jahres im Berliner Deutschlandhaus eröffneten „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Denn dieses ist ein wichtiger Baustein in der Erinnerungs- und Gedenkstättenlandschaft unseres Landes, mitten in der Bundeshauptstadt.
Die Eröffnung, meine Damen und Herren, erfuhr medial hohe Aufmerksamkeit, nicht zuletzt, weil Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel teilnahm und das Schicksal der Heimatvertriebenen würdigte. Die Bundesrepublik Deutschland hat auf Initiative des Bundes der Vertriebenen und unserer Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN einen Erinnerungs- und Lernort geschaffen, der – natürlich eingebettet in seinem historischen Kontext – schwerpunktmäßig die Geschichte der 15 Millionen deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge darstellt, sich aber an die gesamte Gesellschaft, an eine breite, sogar internationale Öffentlichkeit richtet, die viel zu wenig vom Schicksal der Vertriebenen weiß.
Das Dokumentationszentrum ist damit, anders als die landsmannschaftlichen und Landesmuseen, der Aufgabe verpflichtet, den Gesamtprozess in allen betroffenen Ländern und Gebieten an einem Ort zu erforschen, zu präsentieren und öffentlich zu machen.
Es ist zu hoffen, dass besonders jüngere und zukünftige Generationen die Möglichkeiten nutzen, der eigenen Familiengeschichte auf die Spur zu kommen.
In der Einbettung in den historischen Kontext sowie in andere Flucht- und Vertreibungsgeschehen liegt für jeden Besucher die Chance zu erkennen, wie groß die Gefahren immer wieder zu beobachtender Kreisläufe von Rache und Gewalt gerade im Fall von Vertreibungen und ethnischen Säuberungen sind.
Daher – und ich wiederhole noch einmal gerne – bleiben die zweifelsfreie Anerkennung des Heimatrechts als Menschenrecht sowie die Einführung eines internationalen Vertreibungsverbotes zwei der wichtigsten Anliegen des BdV als Menschenrechtsorganisation.
Meine Damen und Herren, ich ermutige Sie ausdrücklich, sich die Ausstellung anzusehen. Teilen Sie Lob und Kritik gerne mit dem Bund der Vertriebenen. Ganz gleich, ob Sie inhaltliche oder ausstellungstechnische Punkte ansprechen wollen, egal ob Sie rechtliche Hintergründe der Grenzziehungen detaillierter behandelt sehen wollen oder – wie ich etwa – das Gendern dort unerträglich finden: Lassen Sie uns kritisch, aber konstruktiv sein – so, wie es auch die sechs Mitglieder des BdV im Stiftungsrat weiterhin sein werden. Wir bringen jede berechtigte Kritik und jeden Verbesserungsvorschlag konstruktiv in ihrem Sinne in die dortige Arbeit ein.
Meine Damen und Herren, liebe Landsleute, wie jedes Jahr spreche ich zum Schluss meinen herzlichen Dank aus: Ihnen persönlich, sowie allen unseren Mitstreitern in den Landes- und Kreisverbänden, in den Landsmannschaften und Kulturgruppen.
Ihre ehrenamtliche Arbeit, meine Damen und Herren, kann nicht mit Gold aufgewogen werden.
Wir wollen das, was uns verbindet, gemeinsam und mit viel Entschlossenheit in die Zukunft tragen. Und wir wollen zusammenhalten.
Dafür danke ich Ihnen.
Festrede zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 28. August 2021 in der Urania Berlin
Ministerpräsident Dr. Markus Söder MdL
Hohe Geistlichkeit,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Gäste,
lieber Bernd,
vielen Dank für Deine – politisch würde ich sagen – Regierungserklärung. Die war sensationell, und es zeigt sich, dass wir hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, an der Spitze des Bundes der Vertriebenen jemand haben, der mit Leidenschaft, mit Liebe, mit Zukunftsfähigkeit, mit ganz großem Engagement bei der Sache ist und – das kann ich ihnen sagen – der die Interessen der Heimatvertriebenen, Spätaussiedler auch gegenüber der Bundesregierung mit Druck, mit Nachhaltigkeit, aber auch mit Cleverness in der Sache gut durchsetzen lässt. Ich gratuliere Dir und dem gesamten Präsidium zur Wiederwahl. Du bist der richtige Mann an der richtigen Stelle. Herzlichen Glückwunsch dafür!
Es ist mir eine Ehre und Freude – keine Pflicht. Es ist mir eine Ehre und Freude, heute bei ihnen sein zu können. Als ich ein junger Abgeordneter werden wollte – seit dem Jahr 1993, da war ich frisch nominierter Kandidat für den Bayerischen Landtag –, habe ich von Anfang an eine Begegnung gehabt, die mich inspiriert hat. Und das war die Begegnung mit Heimatvertriebenen und Spätaussiedlern.
Es war in meiner allerersten Veranstaltung, die ich damals hatte, ich kann mich erinnern: Da gab‘s einen Streit mit ein, zwei Gegenkandidaten von der politischen Linken. Da ging’s in Nürnberg damals darum, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Art neue Integrationsräte zu schaffen. Und da hieß es: Integrationsräte, da müssten Ausländer und Aussiedler, Vertriebene und Migranten – alle unter einem Dach – vereint werden.
Ich hab immer großes Verständnis dafür gehabt, vieles zusammenzubringen, aber ich hab mich damals immer dagegen gewehrt, weil eines ist für mich klar: Es gibt einen ganz großen Unterschied zwischen den Vertriebenen, zwischen den Spätaussiedlern und vielen anderen Menschen, die auch bei uns ihre Chance in Zukunft sehen. Der Unterschied ist: Sie sind Landsleute, meine sehr verehrten Damen und Herren. Sie sind Landsleute.
Und daraus folgt eine andere Verpflichtung – eine moralische, eine politische und gesellschaftliche. Drum übrigens glaube ich auch – und das nur als Nebensatz bemerkt, wenn ich an die letzten Wochen und Tage denke in Afghanistan: Es ist schon die Aufgabe eines Staates, in allererster Linie den Schutz seiner eigenen Bürger und seiner eigenen Landsleute zu gewährleisten, meine Damen und Herren. Das gehört untrennbar dazu.
Also damals hatte ich diese Begegnung. Und diese Begegnung hat mich, wie gesagt, bis heute inspiriert und mich in enger, tiefer Freundschaft entstehen lassen. Ich hab dort viele Freunde gefunden, weil ich mich dort auch wie in einer Heimat fühlte. Das Faszinierende ist ja, wenn wir immer von Heimat reden – alte und neue Heimat: Wodurch definiert sich denn Heimat? Durch so unglaublich viel! Natürlich Wohnung, Wohnort, ja, aber ist das das Entscheidende? Es sind vielmehr die ganzen kulturellen Dinge, die uns binden. Erinnerungen, Dürfte – Geschmack… Die Gemeinschaft ist es, die uns prägt, Kultur.
Was ich immer gefunden habe, und was mir so gefallen hat, waren die vielen unzähligen Veranstaltungen, die Kulturveranstaltungen – das Tanzen bei den Siebenbürgern beispielsweise, Veranstaltungen bei den Sudetendeutschen, bei den Deutschen aus Russland, bei den Siebenbürger Sachsen, bei den Banater Schwaben… Überall hat mir immer so gefallen dieses Sehen, dieses Wiederbegegnen und diese Fähigkeit, die neue Heimat zu lieben, ohne die alte zu vergessen.
Vergeben ja, aber nie vergessen, was man für einen Schatz hatte. Und diesen Schatz, diesen kulturellen Schatz, der auch die Kraftquelle ist, Neues zu beginnen, der hat den Bund der Vertriebenen bis auf den heutigen Tag so reich an Kraft gemacht. Und diese Kraft und dieses Gut, diesen Schatz, den haben Sie alle und alle Generationen seit dem Krieg diesem Land gegeben. Und ich sag das als Ministerpräsident des Freistaates Bayern: Ohne die Vertriebenen wäre Bayern heute nicht da, wo Bayern steht! Ein herzliches Vergelt‘s Gott dafür, ausdrücklich.
Es stimmt, lieber Bernd Fabritius: Manche Leute betrachten das nur als Teil der Geschichte – wobei hier in der Geschichte und im Geschichtsunterricht gar nicht mehr gern drüber geredet wird. Ich wundere mich, meine Damen und Herren, wenn wir über Unterricht reden, was alles den Jugendlichen und jungen Menschen vermittelt wird. Dabei ist doch die Geschichte Deutschlands natürlich nicht zu Ende mit den schlimmen Gräueltaten der Nationalsozialisten. Dies ist wichtig, dass wir uns dem bewusst sind, dass da nie wieder Vergleichbares passiert, und jede Abgrenzung zu Rechtsaußen ist Kernbestandteil und Staatssaison unserer Gesellschaft.
Aber wir müssen auch immer verstehen, welche Folgen der Nationalsozialismus hatte. Die Shoah auf der einen Seite, Zweiter Weltkrieg: furchtbare Verbrechen, einzigartig in der Geschichte. Aber auch die anderen Opfer müssen immer wieder erwähnt werden, und die Wahrheit ist: Unter die Opfer des Nationalsozialismus fallen am Ende auch die Millionen deutsche Heimatvertriebene, und deswegen müssen sie sowohl im Geschichtsunterricht als auch im Bewusstsein unseres Landes in gleicher Weise verankert und auch dargestellt werden, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ich selber habe viele Menschen kennengelernt, die vertrieben wurden. Einer hat mich besonders beeindruckt. Vielleicht kennt ihn der eine oder andere aus den Sudetendeutschen: Roman Müller aus Nürnberg. Er war ein Schreinermeister – ziemlich kernig, wenn ich ehrlich bin. Und wenn man so als junger Kandidat da kommt, hat man ja große Ideen, will über Politik reden – und man wird dann sehr schnell auf den Boden der Realitäten zurückgeholt.
Er hatte eine Faschingsgesellschaft gegründet, die Eibanesen. Die Eibanesen haben auch jedes Jahr einen Preis verliehen, die Perle. Ich wusste am Anfang gar nicht, was das ist. Bernd Posselt hat dann einmal diese Ehrung bekommen, und dann habe ich‘s erst erfahren, was da gemeint ist: die Träne. Die Perle als Träne der verlorenen Heimat.
Ich hab mich dann oft mit ihm unterhalten beim Stammtisch. Und je länger dieser Stammtisch dauerte, desto leutseliger wurde er – trank auch immer Liköre aus der Heimat, die mir allerdings in meiner Geschmackseuphorie nicht so nahegekommen sind, wenn ich das sagen darf, ja – blieb dann lieber bei bayerischen Getränken.
Aber einmal hat er mir was gesagt, was mich echt total bewegt hat, wenn ich das so sagen darf, meine Damen und Herren. Er hat mir einmal gesagt auf die Frage: Mit der Vertreibung, wie war das? Und als ein anderer Jüngerer gefragt hat: Na, Ihnen geht’s doch ganz gut. Sie haben jetzt doch auch alles, Haus und alles gebaut.
Da hat er gesagt: Nun, damals, als wir fliehen mussten, war alles weg – wirklich alles. Wir hatten nichts. Aber er sagte: Man konnte mir alles nehmen, alles was materiell war, aber man konnte mir nicht mein Gefühl und die Erinnerung an meine Heimat nehmen.
Und deswegen ist die Bewahrung dieses Gutes auch eine Frage von Respekt und, meine Damen und Herren, von Würde. Wenn du alles Materielle verlierst, ist die Würde, die den Menschen definiert das, was er in seiner Erinnerung hat – sein Bekenntnis und auch seine Geschichte, woher er kommt. Und deswegen dürfen wir das nie vergessen.
Und umso mehr schätze ich, dass wir das Thema Vertreibung nicht nur abstrakt diskutieren. Verstehen Sie? Da war Vertreibung, und die Zahl 15 Millionen, Bernd, hört sich wuchtig an, aber sie verschwimmt manchmal in diesen unzähligen Statistiken, die uns global mit so vielen schlimmen Zahlen beschäftigen, jeden Tag.
Die Einzelschicksale sind’s, die die Menschen bewegen. Das Hören, wie war das, als ich gehen musste? Was durfte ich mitnehmen? Wie war mein Anfang, und war ich denn überhaupt gemocht? Denn heute wird da viel drüber geredet, aber das Schicksal war ja ein zweifacher Weise schlimm: Du verlässt deine alte Heimat und hast nichts und kommst in einer neuen Heimat an, und es ist ja nicht so, dass jeder gesagt hat: Super, endlich!
Ich weiß noch genau – auch da verwandtschaftliche Beziehungen, und ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich das eine oder andere persönlich plakativ mache, aber auch, um meine Ehrlichkeit zu diesem Thema zu dokumentieren. Ich hatte eine Tante, die war am Land. Landwirtschaft. Das war sozusagen für die städtische Familie nun wirklich mal großartig, weil da gab‘s was zu essen. Und bevor ich wirklich der festen Überzeugung war, dass es auch andere Dinge im Leben gibt, zum Beispiel mal mit einer Dame essen zu gehen oder so, fand ich die Speisekammer meiner Tante eigentlich das wirklich wahre Paradies.
Jedenfalls war es so, dass sie – auch von diesem großen Bauernhof – dann einen, wie hieß es damals, Flüchtling getroffen hat – den Onkel Willi. Der kam aus dem Sudetenland. Und ich weiß, genauso haben es mir alle erzählt, es hat wohl sehr lange gedauert: Sie haben sich dann verliebt, sie hat ihn geheiratet. Es muss aber sehr lange, um die 30 Jahre, gedauert haben, bis in der Dorfgemeinschaft in Wilhelmsdorf – so war das, in der Nähe von Nürnberg –, bis man halbwegs akzeptiert hat, dass der Willi dazu gehört.
Und warum sage ich das? Weil, meine Damen und Herren, diese Leistung in der neuen Heimat nicht vom Himmel gefallen ist. Das war keine Frucht, die man einfach gepflückt hat – das war hart erarbeitet, mit vielen Herausforderungen begangen. Und umso größer und umso bedeutender ist die Einschätzung zu tätigen: Wenn du das Alte verlierst, beim Neuen kämpfst, dass du trotzdem das Ganze nicht mit Rachegelüsten machst, sondern mit diesen unglaublich großen Vergebungsgedanken. Das macht die Arbeit der Vertriebenen erst so einzigartig in der Geschichte, meine sehr verehrten Damen und Herren, und so beeindruckend.
Und deswegen müssen wir auch die Herausforderung und die Einzigartigkeit darstellen – im Unterricht, in der deutschen Politik übrigens auch, in der Erinnerung und auch für all die Millionen Menschen, die heut vielleicht nicht mehr die Erlebnisgeneration sind, aber auch Jüngere, die natürlich auch die Geschichte ihrer Eltern damit empfinden. Denn es ist ja: Jeder von uns hat seine Geschichte, und die Erinnerungen an die Eltern, an die Großeltern – was da war – ist doch auch für jeden Einzelnen, auch jungen Menschen heut, genauso spannend und wichtig.
Es gibt immer so Fernsehsendungen, Sie kennen das vielleicht, wo es heißt: Ich suche meinen Vater oder meine Mutter. Im Grunde genommen ist es manchmal das Gleiche: Wir alle suchen Zeit unseres Lebens irgendwie unsere Spuren, und je älter wir dann werden, so jedenfalls geht es mir, desto mehr fragt man nochmal nach, wie war das. Desto ähnlicher wird man – das ist nun mal das tragische Schicksal vieler junger Männer, wenn sie erkennen, dass sie irgendwann doch so werden wie ihre Väter, obwohl sie nie so werden wollten. Erkennt man dann so ein bisschen: Wo war ich eigentlich, was war das? Und wenn dann Leute ihr Leben lang nach Mallorca fahren, nach Italien fahren, Urlaub, überall hin – und irgendwann anfangen zu sagen: Wo komm ich eigentlich her, ich schau vielleicht mal nach. Wie war das damals? Und der Weg ist so nah, er ist nicht weit.
Und darum werbe ich auch dafür, um das gemeinsame Verständnis voranzubringen, dass wir dies auch wieder stärker fördern. Manchmal habe ich den Eindruck, in unseren öffentlichen Wahrnehmungen gibt es nach wie vor einen Trennstrich in Europa. Wir haben manche finanziellen Linien gehabt, wenn es damals gegangen ist um Finanzierungsfragen. Aber sind wir ehrlich: Manchmal habe ich das Gefühl, dass der eine oder andere immer noch eine Art kulturelle Grenze zieht zwischen Ost und West. Und es ist unsere Aufgabe, auch das Verständnis für Mittel- und Osteuropa wieder zu fördern, denn das sind unsere Nachbarn. Wir brauchen die Zusammenarbeit. Und es ist ein gemeinsamer Kulturraum gewesen und übrigens bis heute verstanden. Lassen Sie uns daran arbeiten und dabei den Bund der Vertriebenen als eigentliche Botschafter dafür mit nutzen.
Also für mich ist das klar: Es muss entscheidend sein, mit dieser Charta der Vertriebenen zu operieren. Sie ist das Grundgesetz für Versöhnung und Verständigung. Sie hat tatsächlich diesen Charakter, wie es angesprochen wurde. Und deswegen müssen wir auch alles dafür tun, um diese Charta weiter leben zu können und weitertragen zu können. Für mich gehört das – und war auch schon immer so – tatsächlich dazu zu meiner politischen Arbeit, dass wir das auch staatlich abbilden und finanziell fördern.
Ja, es stimmt, ich hab mich immer dafür eingesetzt und hab das in Nürnberg auch gemacht… Wir haben in Bayern das Sudetendeutsche Museum – übrigens alle, die noch nicht da waren, ich nehme an, es waren schon alle da: Es ist wirklich echt beeindruckend. Es ist ein großartiges Museum, was übrigens die gesamte Geschichte zeigt. Auch architektonisch verbunden, auf und ab. Kisten, die man da mitgenommen hat, ja, wo nix drin sein konnte fast. Dann auch die schönen Momente, denn das gehört ja alles dazu.
Wenn man an Vertreibung denkt, dann denkt man an die Stunden der Not – an die Schwierigkeit des Aufbaus. Aber man denkt doch an so viele Dinge auch, die man gut in Erinnerung behalten hat, was übrigens – auch bei den Treffen zum Beispiel der Heimatortsgemeinschaften und ähnliches mehr – dann immer wieder erlebt wird.
Gerade Essen, muss ich sagen, verbindet immer sehr. Und es gibt immer gutes Essen. Ich gebe zu: Man kommt bei Veranstaltungen des BdV als Veganer schlechter weg. Und wenn man auch abnehmen will, sollte man woanders hingehen, ja, vielleicht zu einem Parteitag der Grünen. Aber meine Damen und Herren – eine kleine Zwischenbemerkung, entschuldigen Sie bitte. Aber man fühlt sich einfach immer wohl, das kann ich Ihnen sagen. Das ist einfach Menschlichkeit, die dahintersteht.
Um das aber auch zu fördern, damit alles zusammenkommt, muss man was tun. Das kommt ja nicht von selbst. Da steckt so viel ehrenamtliches Engagement dahinter. Die ganzen Kinder, die Trachtengruppen, die sich engagieren – übrigens die meisten der Mitarbeiter für all diese Museen und Schriften. Da gibt es dann häufig einen Profi, der das organisiert, aber der Zulauf, das Zusammenbringen, das Material: Das geschieht durch unendliche ehrenamtliche Arbeit.
Und drum muss es unsere Aufgabe sein und zwar gesamtpolitisch – und dafür stehe ich ein. Und Stephan Mayer, wenn ich das noch sagen darf – einer auch der Vizepräsidenten, aber der auch Staatssekretär ist und aus einem wunderschönen Land kommt, wie Sie vielleicht wissen: Wir stehen dafür ein, meine Damen und Herren, dass wir das auf Dauer auch unterstützen, und dazu gehört eine aktive und bessere finanzielle Ausstattung für Euern Verband aber auch für die gesamte Vertriebenenarbeit, meine Damen und Herren.
Da steckt so viel wissenschaftliches Knowhow dahinter. Das ist auf höchster Ebene. Und gleichzeitig muss auch das ehrenamtliche Engagement gestärkt werden. Wir müssen dankbar sein, dass sich so viele Menschen engagieren. Und wir geben so viel Geld aus in Deutschland für Dinge, die ich wirklich zweifelsgern hinterfragen möchte, aber nicht die Arbeit der Vertriebenen, und wenn ich entscheiden kann, liegt meine Priorität: Mehr Geld für die Unterstützung der Vertriebenen.
Und dazu gehören Museen, dazu gehören Häuser – gerade in Nürnberg auch für die Deutschen aus Russland. Ja, das habe ich gemacht, weil ich das ähnlich empfinde wie Du. Es sind ja unterschiedliche Gruppen bei Ihnen, unterschiedliche Geschichten in der Geschichte: von den Sudetendeutschen, von den Spätaussiedlern insbesondere aus Rumänien – der Banater, der Donauschwaben, der Sathmarer Schwaben beispielsweise, der Siebenbürger Sachsen.
Was immer auch faszinierend ist, weil man auch die Mentalitäten unterschiedlich übrigens erkennt. Sehr, sehr gut zwischen den Siebenbürgern und den Banatern. Ich hab das alles bis ins Detail studiert, kenn mich da echt aus, ja. Die Siebenbürger sind ein bisschen ernster, das muss wirklich sagen. Ich hoffe, das ist okay, wenn ich das sage, ja. Aber ich schätze beide, es ist immer super, ja. Und aber die Deutschen aus Russland, die’s, fand ich, an einigen Stellen mit am schwersten haben.
Dort die Deutschen, hier plötzlich die Russen. So war es ja. Und die das am spätesten ermöglicht bekommen haben. Und deswegen finde ich an einigen Stellen – und ich danke Dir persönlich auch, dass Du das jetzt vorhin so angesprochen hast –, dass wir das nicht vergessen und dass auch wir – diejenigen übrigens auch aus der Vertriebenenarbeit, die sehr lange da sind – die gleiche Freundschaft und Offenheit zeigen gegenüber den Deutschen aus Russland, die später in unser Land gekommen sind.
Und ich weiß noch ganz genau, auch damals, als viele Junge gekommen sind, die damals völlig verunsichert waren – junge Deutsche aus Russland: Was mache ich jetzt in dem neuen Land, und komme ich da mit neuen Freunden zurecht? Da gab es schon Integrationsprobleme. Und für mich ist wichtig, dass wir eines klarmachen: dass wir diesen Menschen immer ein Angebot machen. Sie gehören zu uns, und sie brauchen übrigens auch keine großen russischen Sender und große andere Dinge. Sie sollen sich bei uns wohlfühlen, denn sie sind Landsleute. Und deswegen bin ich froh, dass Du das angesprochen hast. Und deswegen haben wir in Nürnberg eben auch das gemacht. Ein Angebot zu machen: Alle gehören zu uns dazu, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Und eines sage ich auch: Ich weiß nicht, wie diese Wahlen ausgehen. Sie haben sicherlich Ihre eigene Meinung dazu. Ich muss Ihnen jetzt nicht sagen, was ich gut fände. Es würde Sie jetzt wahrscheinlich ein bisschen überraschen, wenn es anders wäre als das, was Sie erwarten. Aber auf eine Konsequenz – eine minimale scheinbar für die große Politik, aber eine wichtige für Sie – darf ich hinweisen: Ob Regierungen, die sich ausschließlich mit linken Themen beschäftigen, dann einen Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten haben wollen, da wäre ich mir ehrlich gesagt nicht sicher. Da wär ich mir nicht sicher.
Denn es gab schon da immer wieder Bestrebungen. Und wir halten dieses Amt für wichtig. Eigentlich müsste es nicht nur bestehen, sondern, lieber Stephan Mayer, wir müssen ran, dass es aufgewertet wird – mit mehr Möglichkeiten versehen wird und nach oben kommt. Denn das ist eine der großen, großen Fragen unserer Zeit. Und deswegen kann ich Ihnen nur für mich sagen: Ich werde mich sehr dafür einsetzen, nicht nur über Wahlprogramme zu referieren – alles ganz okay –, aber dann dafür zu sorgen, wenn wir die Möglichkeit haben, weiter für unser Land arbeiten zu dürfen, dass diese Stelle nicht nur erhalten, sondern deutlich aufgewertet wird. Und sie ist mit dem Bernd Fabritius bestens und exzellent besetzt, meine Damen und Herren.
Ich hab anschließend gleich ein Gespräch – eine Art auch Duell – mit einem der Grünen-Chefs, Herrn Habeck. Sie können sich vorstellen, ganz spannendes Duell zwischen ihm und mir und warum und wieso. Und im Vorfeld wurde ich dann von Journalisten gefragt, ob ich nicht eine Stunde eher kann. Nein, ich bin hier da. Und da sagte dann der eine: Ja, müssen den solche Gedenktage überhaupt sein? Ist doch ein bisschen Geschichte. Und ich sagte: Ja, sie müssen sein, weil sie in der Tat eine ganz faszinierende Brücke sind zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Ich finde das, meine Damen und Herren, noch mal ganz wichtig herauszustellen heute. Ich habe vorhin diesen Film gesehen, und dann ist für viele Menschen, wenn sie schon schwarz-weiß Bilder daran sehen, quasi schalten sie etwas gedanklich ab. Aber wir müssen das, was war, in die Zeit bringen und erklären, was wir daraus schließen für die Zukunft – gerade in dieser jetzigen, in der Tat verwirrenden Zeit.
Denn es bleibt ja eines der Rätsel der Menschheitsgeschichte, warum offenkundig viele Menschen nicht aus der Geschichte lernen. Warum immer wieder Dinge passieren, die eigentlich gar nicht möglich sind. Wir sind auf dem höchsten Stand der zivilisatorischen Entwicklung, auf dem höchsten Stand je. Wir wissen so viel wie nie – aus der Geschichte, in der Wissenschaft. Wir haben gelernt eigentlich – und hätten es lernen müssen –, was Unterdrückung, Vertreibung… – was das bringt, was Nationalismus am Ende hervorbringt. Das Schlechteste im Menschen. Und immer und immer wieder gibt es Menschen, die sich danach verhalten und die versuchen, andere gegeneinander auszuspielen. Und drum ist der heutige Tag kein Gedenktag der Vergangenheit, sondern ein echtes Statement für die Zukunft, meine sehr verehrten Damen und Herren, und für unser ganzes Land.
Schauen Sie, ich weiß auch, dass viele über Corona sich geärgert haben und ähnliches mehr. Aber eines kann ich Ihnen sagen, weil ich gestern Abend auf einer ähnlichen Veranstaltung war, und dann haben Menschen gerufen zu mir: Mörder, Mörder, Mörder.
Es gibt Mörder in der Geschichte, ja. Aber auch ich und viele andere haben seit anderthalb Jahren nur eines versucht: Leben zu schützen und Leben zu retten. Und als wir diese Aufgabe angegangen sind – Corona –, habe ich meine Altvorderen – Edmund Stoiber, den sie gut kennen, Theo Waigel und andere – gefragt, wie würdet denn Ihr in so einer Situation mit dieser Herausforderung reagieren? Und ehrlicherweise konnten sie mir keine echte Antwort geben.
Ich kam mir vor, wie jemand der nach Spuren sucht, und auf einem Schneefeld ist, das gerade frisch – ohne jede Spur mehr erkennbar – ist. Wir mussten unseren Weg gehen. Und lassen Sie mich das einfach sagen, weil wir haben ja auch hier weniger Plätze besetzt als sonst. Wir wären lieber noch mehr zusammen. Aber dass es uns gelungen ist in eineinhalb Jahren, eine mögliche Herausforderung, die epochal und historisch gewesen wäre, vergleichbar mit den großen Seuchen der Welt, so weit zu bringen, dass wir mit impfen und mit vielen, vielen Schutzmöglichkeiten Hunderttausenden das Leben gerettet haben, ist für mich ein Riesenanlass.
Und ich sage das deswegen, weil ich mich manchmal so ärgere, dass der eine oder andere so aggressiv ist, obwohl wir ihm etwas Gutes gegeben haben – nämlich die Möglichkeit, Schutz zu haben für Leib und Leben. Und dafür stehen wir auch ein, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Noch ein bisschen Historie, aber trotzdem: Diese Vergebung und Versöhnung, die ja scheinbar für so viele Menschen so schwer ist… Es ist ja so schwer offenkundig für viele heute, wegen kleiner Dinge zu vergeben und sich zu versöhnen. Übrigens ein Großteil der Konflikte entsteht, weil keiner bereit ist, mal auf den anderen einen Schritt zuzugehen. Ein Großteil der Konflikte der Welt – auch der ethnischen, der nationalistischen, der religiösen Konflikte – besteht in der Unversöhnbarkeit und in der Nicht-Bereitschaft in anderen, auch einen Schritt in die nächste Zukunft zu gehen.
Rache ist ein Motiv, Vergeltung wird oft genannt – dort zwei, dort vier, dort acht, dort zehn. Und so geht das weiter. Und scheinbar hört das in manchen Ländern der Welt wie in Afghanistan einfach nicht auf, wenn ich das sagen darf. Mir tun die Menschen so unendlich leid, die da seit über 40 Jahren einen Krieg – Bürgerkrieg – erleben und leiden – und denen vielleicht fast egal ist, wer da da ist, weil die Situation bleibt immer am Ende die gleiche.
Und drum, meine Damen und Herren, wir können das heut sicherlich nicht besprechen, wobei ich Ihnen nur sagen möchte… – lieber Stephan, auch an die Bundesregierung: Mich hat das schon alles sehr getroffen, wenn ich das sagen darf, dass wir im Jahr 20 von 9/11, wo wir eigentlich gegen den Terrorismus kämpfen wollten damals – dass wir dann, nach 20 Jahren, eigentlich einen Sieg des Islamismus erleben.
Ich kann ihnen nur eines sagen: Mein Respekt und Dank gilt übrigens allen, die in der Sicherheit arbeiten – ob das im Land Polizistinnen und Polizisten sind oder ob das Soldatinnen und Soldaten sind. Und ich ärgere mich oft, wie von manchen politischen Kräften gerade diese Frauen und Männer, die für uns den Kopf hinhalten und für uns arbeiten und für unseren Schutz garantieren… – wie oft sie sich dann angreifen lassen müssen. Wir müssen Danke sagen für all diejenigen, die uns schützen, meine Damen und Herren, außen wie innen.
Und Europa geschützt haben die Vertriebenen. Das war ja nicht ausgemacht, dass es so lief, wie es dann gelaufen ist. Das hätte ja in den 50er, 60er, 70er, 80er Jahren… – wir waren ja auch im Kalten Krieg. Wird ja heute alles immer so vergessen, was da war. Meine Generation ist mit der Großpanik aufgewachsen, dass man, wenn man aufwacht, vielleicht einen Atomkrieg vor der Tür hat – den man vielleicht gar nicht merkt.
Als ich bei der Bundeswehr war… Ich gehöre noch zu den wenigen, die bei der Bundeswehr waren – bei aller Bedeutung übrigens einer neuen Armee für die Ding. Ich hab meinen Söhnen immer gesagt, ich hätte es gar nicht so schlecht gefunden, wenn sie auch mal die Chance gehabt hätten, so wie ich zur Bundeswehr zu gehen, um auch das ein oder andere noch zu lernen. Sie sind froh, dass es nicht so ist, aber das ist etwas anderes. Was aber viel wichtiger ist: Ich habe damals, als ich bei der Bundeswehr war… – da haben wir da so Minuten gehabt, wie viele Minuten es dauern könnte, bis sozusagen der Tod eintritt. Ganz klar, wenn man in einem Panzer sitzt, dann waren das 20 Minuten – oder kürzer sogar.
Warum sage ich das? Nicht, weil ich eine Reminiszenz an meine Jugend machen will, sondern weil ich erwähnen will, wie ernst damals die Lage zwischen Ost und West war. Und da hätte das Thema Heimatvertreibung ein echter Sprengsatz sein können.
Man stelle sich mal vor, wenn die Heimatvertriebenen als „Pressure Group“ aufgetreten wären und hart agiert hätten – und immer wieder eingefordert hätten… Aufgrund allein der Zahl der Millionen von Menschen, die in der Bundesrepublik waren, war es ja eine echte politische Macht. Sie hätten also diese politische Macht einsetzen können, zwei Dingen zu fordern: Rache und komplette Rückgabe des Eigentums, der verlorenen Güter. Diese zwei Dinge. Und es gibt viele Gesellschaften der Welt, wo genau sowas stattfindet.
Was haben die Heimatvertriebenen gemacht? Zwei Dinge: Sie haben zum einen mit dieser Charta – und das, also ehrlicherweise, in der Zeitachse das damals, lieber Bernd, zu machen, ist so unglaublich… – so unglaublich, damals schon zu sagen – damals schon zu sagen – im Jahr 1950, wo ja noch nicht alle Kriegsgefangenen zurückgekehrt sind.
Es gehört ja zu den ganz bewegenden Momenten der jüngeren deutschen Geschichte, wie die letzten Kriegsheimkehrer unser Land erreicht haben wieder. Wie schlimm und schwierig das alles war. Und dass man noch während dieses Prozesses, während noch etliche deutsche Soldaten in Russland in Gefangenschaft waren, wo viele Familien nicht wussten: Kommen sie je wieder? Und wo auch vieles nicht geklärt werden konnte im Nachhinein.
Dass man in diesem Moment, meine Damen und Herren, bei einer Spaltung Europas, bei einem Kalten Krieg, bei einem Eisernen Vorhang: Bei dieser Situation entscheidet man sich nicht auf harte Linie zu setzen – auf Rache, auf Vergeltung –, sondern auf Vergebung und Zusammenarbeit. Und deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Das ist eine so unglaubliche Leistung. Und ich ärgere mich jeden Tag, dass bei jeder Friedensnobelpreisverleihung keiner bislang an die Heimatvertriebenen gedacht hat. Sie hätten für Europa diesen Preis verdient, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Und der zweite Schritt war ja genauso. Als dann der Kommunismus zusammenbrach, hätte es ja auch wieder eine Phase sein können, wo man sagt: So, jetzt aber Moment mal, jetzt will ich aber eins zu eins alles zurück. Das ist vielleicht gar nicht unrecht, das zu diskutieren, denn wir wissen genau, dass die Vertreibung ein Unrecht war. Und natürlich ist es wichtig, dass all diese Dokumente und Stellen, die immer wieder das bis heut nicht geändert haben, als Beitrag der europäischen Versöhnung von allen Seiten gemacht werden müssen.
Drum fand ich zum Beispiel es auch sehr beeindruckend, dass bei den Sudetendeutschen der ehemalige Minister Herman den Preis bekommen hat, den Karlspreis, weil er einer der Ersten war – und das als tschechischer Minister –, der die Vertreibung so offen angesprochen hat. Und ich fand es einen bewegenden Moment – jetzt auch die Preisverleihung vor wenigen Wochen –, weil es einfach ein Signal ist, dass egal auf welcher Seite, egal von welcher Entwicklung, die man hatte, und eingebundenen welches System auch immer, es immer wieder Menschen gibt, die an Verständigung arbeiten, die an Vergebung arbeiten und die Brücken suchen, anstatt sie abzubauen.
Und deswegen ist es auch wichtig, und ich danke Euch, dass Ihr immer wieder daran arbeitet, in ganz Europa Kontakte zu finden, Kontakte zu knüpfen und ein Brückenbauer seid. Die Brücke der Zukunft bleiben die Heimatvertriebenen. Dafür ein herzliches Vergelt‘s Gott.
Lieber Bernd, Ihr helft dann eben – und das ist der zweite Punkt – eben auch mit, dass man nicht einfach sagt: Ja, wo war jetzt mein Haus, da will ich wieder hin. Es waren schwierige Prozesse.
Meine Schwiegermutter stammt nicht aus außerhalb der heutigen Bundesrepublik-Grenze, sondern war aus Sachsen-Anhalt. Da ging es um ähnliche Bereiche. Wurden auch damals vertrieben von den russischen Soldaten, die damals gekommen sind.
Es ist sehr faszinierend. Meine Schwiegermutter ist… – sieht sehr viel jünger aus, als sie ist. Sehr viel. Wenn Du zuschauen solltest, bitte, also ich habe es wirklich gesagt. Ja, man muss ja auch wieder heim. Und sie kocht großartig. Aber jetzt noch mal zurück.
Jedenfalls, wenn man dann so am Weihnachtsabend… – Sie kennen ja solche Gespräche mal. Und eine meiner Töchter hat darüber mal eine Arbeit geschrieben in der Schule. Und dann entstehen Gespräche. Und wenn dann 50 Jahre danach in bestimmten Momenten die Tränen kommen, dann spürt man erst, wie tief bewegend das für ein Leben ist und prägend. Und wenn man dann trotzdem in dieser Erinnerung heraus die Hand reicht und nicht zurückzieht, dann ist das eine großartige Menschlichkeit, eine großartige Menschlichkeit.
Und so sind Sie auch Partner immer wieder in dem Neu-Entdecken, in dem Wiederentdecken dieser Kulturverbindungen. Wissen Sie, ich glaub, in Europa haben wir da noch eine Menge Aufgaben vor uns. Wir haben im Moment so einen… – wir driften etwas auf so eine echte Verständigungsproblematik.
Ja, ich weiß, es gibt in einigen unserer Partnerländer in Osteuropa schwierige Entwicklungen und nicht so einfach für uns verständliche. Aber wir machen es uns manchmal schon sehr, sehr leicht, andere zu belehren, wissen Sie.
Ich habe aber das Gefühl, manche in der Politik verstehen sich… – übrigens nicht nur in einer übertriebenen Einschätzung von Gender-Sprache. Jeder darf das machen, übrigens. Jeder darf sich so verhalten und alles gut. Aber ob man manches immer erzwingen muss, meine Damen und Herren, und vorschreiben muss? Ich hab so ein bisschen die Sorge… – ein Staat soll das Notwendige tun, aber sollte ein bisschen aufpassen, dass er eher ein Angebot zur Hilfe macht als, dass er sich ständig als Oberlehrer der Menschen und der Gesellschaft versteht, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Und in Europa würde ich mir wünschen, dass wir einfach den Respekt wieder füreinander finden, dass wir nicht zu hart übereinander reden, weil am Ende muss uns doch eines klar sein, wenn wir sehen, wie sich die Welt entwickelt: So viele Partner außerhalb Europas gibt es nicht. Und deshalb sollten wir dieses Europa nicht gefährden. Wir sollten es weder durch Bürokratie noch durch übertriebene Belehrungen spalten, sondern wir sollten uns die unendliche Mühe geben.
Und so schwer das auch sein mag… – manches wirkt vielleicht aus Brüssel auch schwierig. Umgekehrt wirkt manches in Richtung Brüssel auch wenig verständlich, wenn ich das sagen darf. Ich versteh zum Beispiel nicht genau, warum ein EU-Rechtskommissionsberichts sagt… – das verstehe ich jetzt, Stephan. Ich verstehe, dass man sagt, es ist unzulässig, dass in Polen die Regierung auf die Gerichte Einfluss nimmt. Etwas mehr verwundere ich mich dann, dass man aus Brüssel sagt, Deutschland sollte Einfluss aufs Bundesverfassungsgericht nehmen, weil die möglicherweise beim Euro ein bisschen kritisch sind. Das halte ich auch für ein bisschen schwierig, wenn ich das sagen darf. Also weniger Belehrung als vielmehr der Versuch zusammenzukommen, so schwer das auch sein mag. Das glaube ich wirklich. Ich glaube, dass das schwer ist – dass da Vieles auch im Argen liegt. Aber wahrscheinlich wird das nur durchs Gespräch gehen. Und dieses Gespräch: Dazu sollten wir die Heimatvertriebenen und Spätaussiedler als unsere Partner nutzen, und zwar für alles was, um was es geht.
Übrigens zwischen Bayern und Tschechien hat sich das – und das war eine schwere und lang schwierige Verbindung – Dank auch damals durch Horst Seehofer, das sage ich ausdrücklich, verbessert und geändert. Und wir haben zum Beispiel jetzt während der Coronazeit mit dem tschechischen Ministerpräsidenten eine Standleitung gehabt. Also er und ich so, wenn wir diskutiert haben – und haben am Ende das auch immer ganz gut hinbekommen in dieser schwierigen Situation. Und gerade in Tschechien geht das ja auch manchmal drunter und drüber mit den ganzen Mehrheitsbildungen. Und es war immer eine sehr, sehr gute Zusammenarbeit – das möchte ich ausdrücklich sagen. Bin auch froh, dass wir diesen Draht hier haben. Und der wäre unmöglich gewesen ohne Bernd Posselt beispielsweise, der über all die Jahre das vorangebracht hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielleicht merken Sie es: Ich find Sie im Grunde genommen echt super. Vielleicht merken es ein bisschen. Und ich bin total dankbar über die Arbeit, die Sie überall in ganz Deutschland leisten. Es ist ja auch gar nicht so leicht. Die Landsmannschaften bei Ihnen haben ja auch ihre landmannschaftlichen Prinzipien.
Das ist ja immer das, was wir in Deutschland haben, ja. So ein Bayer, ja, der ist manchmal ein bisschen anders als ein Norddeutscher. Ich kann mich erinnern, dass ich Herrn Tschentscher, den ich sehr schätze, den Hamburger Bürgermeister, fragte – das ist lang her –, warum Herr Scholz immer so etwas, aus meiner Sicht, etwas zurückhaltende Reden hält. Und er sagte dann, für einen Hamburger sei es einer der leidenschaftlichsten Redner.
Das mag in Bayern etwas anders sein, das gebe ich zu. Wobei auch bei uns in Bayern gibt‘s unterschiedliche Mentalitäten. Stephan Mayer zum Beispiel kommt aus dem schönen Oberbayern, da ist man immer gut drauf, ja. Der Christian Knauer kommt auf dem Schwäbischen, da ist man manchmal ein wenig skeptisch. Und ich komme aus Nürnberg, und deswegen ist man mit dem Club generell einfach irgendwie manchmal ein bisschen semidepressiv.
Aber, meine Damen und Herren, aber diese Unterschiedlichkeiten machen doch erst das Faszinierende unseres Landes aus. Und so macht doch einen BdV so spannend zu sehen, wie sehen es die Donauschwaben, wie sehen es die Sudetendeutschen, wie sehen es die Deutschen aus Russland. Und irgendwie findet man doch dann am Ende einen Konsens. Und das macht das so beeindruckend, und darum gehört es einfach zusammen nachzudenken bei solchen Veranstaltungen. Immer Erinnerung und Zukunft in Einklang zu bringen, aber dann auch schön irgendwie wieder zu feiern.
Und das ist meine große Hoffnung, dass wir bald wieder die richtigen Feiern machen können. Also nicht nur die großartigen Reden, so wie es heute erleben, natürlich. Sondern dass wir dann auch wieder anfangen, das zu leben was uns eigentlich ausmacht als Menschen: zusammenzukommen.
Also zum Schluss: Ich gratuliere Ihnen zu dem heutigen Tag, auch zur Wiederwahl des Präsidiums. Ich sage Ihnen meine persönliche, aber auch die politische Verbindung eng zu. Und bitte nehmen Sie das mir ab: Sie werden wirklich gebraucht. Und in einem sich verändernden Europa, einer aggressiver werdenden Welt, glaube ich, sind Sie wichtiger denn je. In diesem Sinne alles, alles Gute, viel, viel Erfolg und Gott schütze unser Land.