„Vertriebene und Spätaussiedler: Brückenbauer in Europa“

Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen 2022



Der zentrale Auftakt zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen  wird am 27. August 2022, um 12 Uhr, unter dem Leitwort „Vertriebene und Spätaussiedler: Brückenbauer in Europa“ als Präsenzveranstaltung in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt in Berlin stattfinden. Erneut werden zahlreiche deutsche Heimatvertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler – Vertreter der Erlebensgeneration und ihre Nachkommen – sowie Partner aus dem Bereich der deutschen Minderheiten, aus Politik, Kultur und Gesellschaft in der Bundeshauptstadt zusammenkommen. Die Auftaktveranstaltung wird live im Internet übertragen und ist über die Webseite des BdV für jeden Interessierten abrufbar.

Hauptredner: Dr. Rafał Dutkiewicz

Als Hauptredner kann in Berlin der ehemalige Stadtpräsident von Breslau (2002-2018), Dr. Rafał Dutkiewicz, begrüßt werden. BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius erklärt dazu: „Ich bin froh und dankbar, dass wir gerade zum diesjährigen Leitwort mit Dr. Dutkiewicz erstmals einen Festredner aus Polen bei unserem Tag der Heimat begrüßen dürfen. Er ist jemand, der stets das menschlich Verbindende ins Zentrum seines Handelns gestellt hat, weil Fortschritt und eine gemeinsame, friedliche Zukunft nur miteinander und in Kenntnis der gemeinsamen Vergangenheit in all ihren Höhen und Tiefen erreicht werden können. Als Stadtpräsident von Breslau hat er maßgeblich dazu beigetragen, dass die Stadt als die facettenreiche und geschichtsträchtige europäische Kulturmetropole sichtbar wurde, die sie ist. Aber auch heute noch setzt er sich für die Zukunft ein, indem er gerade in diesem furchtbaren Krieg Russlands gegen die Ukraine enge Kontakte in das Nachbarland hält und Hilfen sowohl für die Wirtschaft als auch für Flüchtlinge organisiert."

Ehrenplakette an Bernard Gaida für die Arbeit der AGDM

Im Rahmen der Veranstaltung wird Bernard Gaida als Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Minderheiten (AGDM) in der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN) die Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen für die wichtige Arbeit der AGDM verliehen. Dr. Fabritius: "Mit dieser einstimmig vom BdV-Präsidium beschlossenen Ehrung wollen wir ein Zeichen dafür setzen, dass unsere verständigungspolitische Arbeit mit den in der Heimat verbliebenen Deutschen – den deutschen Minderheiten in Europa und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – ebenso 'natürliche' wie engagierte und erfolgreiche Partner hat, die sich fortwährend mit eigenen Herausforderungen im Kultur-, Sprach- und Identitätserhalt konfrontiert sehen."

Ein kurzes Grußwort spricht der Vorsitzende des Rates der Deutschen der Ukraine (RDU), Wolodymyr Leysle.

Für das geistliche Wort und Gedenken zeichnet in diesem Jahr der Oberkirchenrat beim Beauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland, Joachim Ochel, verantwortlich. Musikalisch umrahmt wird die Veranstaltung von den Potsdamer Turmbläsern unter Stephan Rudolph.

Kranzniederlegung an der Ewigen Flamme

In guter Tradition wird im Anschluss an die Veranstaltung in der Urania um 15 Uhr die alljährliche, feierliche Kranzniederlegung am Mahnmal der deutschen Heimatvertriebenen, der „Ewigen Flamme“ auf dem Theodor-Heuss-Platz, erfolgen. Gedenkworte werden außer BdV-Präsident Dr. Fabritius der Senator für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen, Andreas Geisel MdA, sowie der Berliner BdV-Landesvorsitzende, Staatssekretär a.D. Rüdiger Jakesch, sprechen. 


Programm

Französische Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt, 27. August 2022, ab 12 Uhr

 

Eurovisionsfanfare

Marc-Antoine Charpentier (1643-1704)

Begrüßung und Ansprache

Dr. Bernd Fabritius 
Präsident

Sybillenbader Fanfare

Widmar Hader (*1941)

Festrede

Dr. Rafał Dutkiewicz
Stadtpräsident von Breslau von 2002-2018

Verleihung der Ehrenplakette

Bernard Gaida 
Sprecher der Arbeitsgemeinschaft deutscher Minderheiten in der FUEN

Dankesworte

 

Grußwort

Wolodymyr Leysle
Vorsitzender des Rates der Deutschen der Ukraine (RDU)

Sonata XIII (1615)

Giovanni Gabrieli (1557-1612)

Geistliches Wort und Gedenken

Joachim Ochel
Oberkirchenrat beim Bevollmächtigen des Rates der EKD

Verleih uns Frieden gnädiglich

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847)

Nationalhymne 

Im Anschluss an den Festakt findet um 15:00 Uhr die Kranzniederlegung auf dem Theodor-Heuss-Platz statt. Es sprechen
der Berliner BdV-Landesvorsitzende, Staatssekretär a.D. Rüdiger Jakesch,
der Senator für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen, Andreas Geisel MdA, und 
BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius.

Musikalische Gestaltung: Potsdamer Turmbläser, Leitung: Stephan Rudolph


Ansprache zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 27. August 2022 in der Französischen Friedrichstadtkirche Berlin

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius

 

Es gilt das gesprochene Wort!

 

 

Sehr geehrter Herr Dr. Rafał Dutkiewicz,
sehr geehrter Herr Gaida, lieber Bernard,
sehr geehrter Herr Leysle,
sehr geehrter Herr Oberkirchenrat Ochel,
geehrte Exzellenzen und Eminenzen,
geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestags und der Landtage,
geehrte Landesbeauftragte für Heimatvertriebene und Spätaussiedler,
verehrte Ehrengäste aus Bund, Ländern und Gemeinden,
geehrte Vertreter der deutschen Minderheiten aus den Nachbarländern,
liebe Landsleute,
meine Damen und Herren,

zur diesjährigen Auftaktveranstaltung zum Tag der Heimat 2022 des Bundes der Vertriebenen heiße ich Sie hier, erstmalig in der Französischen Friedrichstadtkirche ganz herzlich willkommen!

Ich bin sehr dankbar, dass Sie, Herr Dr. Dutkiewicz, heute die Festrede halten werden und begrüße Sie ganz herzlich in unserer Mitte. Sie sind aus Breslau angereist, einer Stadt, mit der viele Menschen aus unseren Reihen bis heute Kindheitserinnerungen oder Erzählungen der Eltern und Großeltern verbinden. Als langjähriger Stadtpräsident von Breslau können Sie sicherlich wie kein anderer den Brückenschlag aus der Vergangenheit über das Hier und Heute in die Zukunft vornehmen. Wir sind sehr gespannt, was Sie uns sagen werden.

Ich begrüße Herrn Bernard Gaida, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft deutscher Minderheiten in der FUEN – der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten. Sie stehen für unsere Landsleute in 25 Staaten Mittel- und Osteuropas, unseren Heimatverbliebenen. Mit der heutigen Verleihung der Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen zollen wir Dir, Ihnen Herr Gaida, lieber Bernard, Dank und Anerkennung für das vielfältige Wirken für unsere Landsleute, deren Selbstverständnis als nationale Minderheiten und den Schutz ihrer eigenen kulturellen Identität – als deutsche Minderheiten – aber auch weit darüber hinaus.

Ein ganz herzliches Willkommen sage ich dem Vorsitzenden des Rats der Deutschen in der Ukraine, Wolodymyr Leysle. Seien Sie sich in dieser schweren Zeit unserer Solidarität versichert. 
Schön, dass Sie es gesund aus der Ukraine zu uns geschafft haben und wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie, aber auch allen Landsleuten zu Hause, diesen schrecklichen Krieg unbeschadet zu überstehen.

Ihnen, sehr geehrter Herr Oberkirchenrat Ochel, sind wir ebenfalls zu Dank verpflichtet. Sie werden mit dem geistlichen Wort als Oberkirchenrat bei der Bevollmächtigten des Rates der EKD unseren Tag der Heimat würdig und angemessen beschließen. 

Ich freue mich, dass traditionell die Potsdamer Turmbläser unter der neuen Leitung von Stephan Rudolph unsere Veranstaltung musikalisch umrahmen werden.

Auch in diesem Jahr übertragen wir unsere zentrale Auftaktveranstaltung live im Internet – und werden so auch jene Menschen erreichen, die heute nicht anwesend sein können.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Landsleute!

Unser Leitwort in diesem Jahr lautet „Vertriebene und Spätaussiedler: Brückenbauer in Europa“. 
Damit stellen die Vertriebenen ihren verständigungspolitischen Einsatz heraus – in einer Zeit, in der in Europa Sorgen und Nöte wachsen. Die Menschen haben wieder Angst. Im Osten Europas, in der Ukraine, tobt ein völkerrechtswidriger Krieg. In Deutschland spüren wir dessen Auswirkungen, auch in der Versorgungssicherheit. Die Menschen fürchten sich vor einem „kalten Winter“ und sozialer Not.

Dieser Gemengelage, meine Damen und Herren, setzen wir Heimatvertriebene unseren Ansatz entgegen, der vom Glauben an das Miteinander der Völker geprägt ist – und von der Überzeugung, dass Frieden nur durch Verständigung und gegenseitige Empathie gelingen und gesichert werden kann. Diese unsere Haltung ist grundsätzlicher Art und steht über jeder Tagespolitik.

Wir Vertriebene und Spätaussiedler sind – das darf ich so feststellen und es wurde uns mehrfach bescheinigt – Experten der Verständigungspolitik. Wir und unsere Vorfahren haben am eigenen Leib viel Elend erfahren und damit umgehen müssen. 

Wir handeln und wirken daher aus einer Position besonderer Glaubwürdigkeit heraus, wenn wir Frieden anmahnen und Kriege und ethnische Säuberungen, Flucht, Vertreibung und Deportation als die Wurzeln größten Übels benennen.

Mit der Verabschiedung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen vor 72 Jahren in Stuttgart versprachen die Vertriebenen sowohl sich selbst, mehr aber noch Deutschland und dessen Nachbarländern im Osten, dass – Zitat – „aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle eine bessere Zukunft gefunden wird“.

Die Charta ist bis heute ein Dokument der Versöhnungsbereitschaft und des Racheverzichts. Sie wurde von Menschen geschrieben, die erst ein paar Jahre zuvor alles verloren hatten. 

Zurecht zählt sie bis heute zu den „Gründungsdokumenten der Bundesrepublik“, so treffend bezeichnet vom ehemaligen Bundestagspräsidenten Dr. Norbert Lammert. Und sie ist über die Jahre zu einem Grundstein der Verständigung geworden. 

Sie kann beispielgebend sein für Konfliktlösungen in naher und ferner Zukunft: überall dort, wo durch Kriege – heute, jetzt in diesen Augenblicken! – völkerrechtswidrige Vertreibungen stattfinden – sei es im Osten Europas oder anderswo.

Unser menschen- und völkerrechtlicher Einsatz umfasst beispielsweise die Forderung, dass Vertreibungen und ethnische Säuberungen endlich international zu ächten sind – und dass sie überdies auch einem strafbewehrten Verbot unterliegen! 

Diese Forderung entfaltet eine nahezu zwingende Sinnhaftigkeit. Wir, die deutschen Heimatvertriebenen fordern daher alle Staaten und Staatengemeinschaften, die die internationalen Menschenrechtskonventionen achten, auf, sich unserer Forderung nach einem sanktionsbewehrten Vertreibungsverbot anzuschließen. 
Gerade um die Bedeutung dieser Forderung zu verstehen, ist die Erinnerung an die Millionen von Flucht und Vertreibung betroffenen Deutschen – an deren Schicksal, deren Geschichte und die Geschichte der Heimatgebiete – wichtig.

„Ein wichtiges Sprachrohr in die deutsche Politik“ nannte Bundesinnenministerin Nancy Faeser den Bund der Vertriebenen. 

Sie attestiert uns, dass die Vertriebenen und ihre Verbände als „Träger der Erinnerung“ wie auch als „Brückenbauer in Europa“ wirken und gewirkt haben – und das bereits seit der Gründung des BdV in den 1950er Jahren. Der Bund der Vertriebenen und seine Landsmannschaften seien ein wesentlicher Teil unserer Zivilgesellschaft und damit auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land von großer Bedeutung.

Diese Einschätzung und Erkenntnis freut uns. Das gibt Ansporn und Bestätigung.

Nicht nur als Träger der Erinnerung, sondern auch eines wichtigen Teils deutscher Kultur benötigen wir aber auch die Unterstützung der Politik, der Regierung und der gesamten Gesellschaft. 

Wenn ausgerechnet bei den wenigen Projektmitteln, die für die Kulturförderung im Vertriebenenbereich nach §96 BFVG zur Verfügung stehen, der Rotstift angesetzt wird und jährlich eine Million Euro gekürzt werden, dann müssen wir vehement unsere Stimme erheben: So geht das nicht! Das ist Missachtung der Sache und auch des gesetzgeberischen Auftrages!

Meine Damen und Herren, der BdV und seine Mitglieder arbeiten stets sachorientiert und entsprechend ihrer Satzungszwecke. Wir kommentieren die vielfältigen Haushaltsausgaben des Bundes nur dann, wenn sie uns betreffen, und wahren stets den Blick fürs Ganze. 

Dafür benennen wir aber jetzt umso deutlicher, dass diese existentiellen Handlungsmittel, die man unseren Institutionen und Verbänden für ihre kulturelle Projektarbeit jetzt weggestrichen hat, sehr, sehr schmerzt. Gerade diese Mittel sollen eine aktive Kulturarbeit fördern und wir setzen uns seit Jahren aus guten Gründen für eine Erhöhung dieser Fördermittel ein. Die beschlossene Kürzung hingegen lässt uns ratlos zurück.

Veranstaltungsformate, die zum Teil seit über anderthalb Jahrzehnten fortgeführt wurden, müssen jetzt eingestellt werden. 

Erst dieser Tage erreichte mich ein weiterer Hilferuf, diesmal vom Heiligenhof in Bad Kissingen: Für die "Mitteleuropäische Nachwuchsgermanistentagung" sowie die "Mitteleuropäischen Städte- und Regionenporträts" – beides seit vielen Jahren etablierte, mehrtägige Veranstaltungen mit internationaler Besetzung – wird es keine Förderung mehr geben.

Ohne Projektmittel werden viele projektgeförderte Institutionen in ihrer Existenz gefährdet. Kontakte und Beziehungen – Brücken in Europa –, die durch die Coronakrise schon genug gelitten haben, brechen endgültig zusammen. Das kann und darf nicht gewollt sein!

Wenn man bedenkt, 
-    dass die Kultur der Heimatvertriebenen und Spätaussiedler ein wunderbarer Schatz ist, der uns allen gehört, 
-    dass bestimmt ein Viertel der bundesdeutschen Gesellschaft sich dieser Kultur verpflichtet fühlt, mit ihr verbunden ist und auch Steuern zahlt, um unter anderem eben diese einzigartige Kultur am Leben zu erhalten, 
wenn man das alles bedenkt, dann habe ich kein Verständnis dafür, dass die Projektmittel für unsere Kulturarbeit einfach so zusammengestrichen werden.

Wir fordern die Bundesregierung, aber auch die Gesetzgeber in Bund und Ländern auf, die Kultur der deutschen Heimatvertriebenen angemessen zu fördern. 

Die „Kulturarbeiter“ in den Vertriebenenverbänden, ob hauptamtliche oder ehrenamtliche, gehören auf der Prioritätenliste viel weiter oben angesiedelt, als das jetzt augenscheinlich der Fall ist. Unsere Kultur steht nicht zur Disposition, denn wir spüren die Pflicht in uns, sie weiter zu pflegen und an die Nachfolgegenerationen weiterzugeben. Unsere Kultur der deutschen Heimatvertriebenen ist keine exotische Nische, sondern konstitutioneller Teil der gesamtdeutschen Kulturlandschaft.

Dass Förderung Früchte trägt, sehen wir in den Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen wurde ein Projekt zur Digitalisierung von Heimatsammlungen auf den Weg gebracht, das hohes Innovationspotenzial aufweist und bundesweite Strahlkraft entwickeln kann.

Hessen förderte unter anderem die Einrichtung einer gemeinsamen Geschäftsstelle der Landsmannschaften, die alle landmannschaftlichen Organisationen in Hessen bei der Erinnerungs- und Kulturpflege unterstützen wird. 

Bayern hat gleich drei eigenständige Kulturinstitutionen geschaffen, die sich der Kultur der Deutschen aus Russland, der Donau- und Banater Schwaben sowie der Siebenbürger Sachsen widmen und wertvolle Arbeit in den Verbänden vor Ort ermöglichen. 

Mit finanzieller Unterstützung des Landes Niedersachsen hat der ZDF- und WDR-Journalist Marius Reichert für die Landsmannschaft Schlesien den spannenden und lehrreichen Film „360 Grad Schlesien – ein Land, das verbindet“ produziert. 

Mein Dank geht auch an die Landesbeauftragten dieser Länder, deren Engagement wesentlich zur Förderung beigetragen hat.

Es sind solche zufällig herausgesuchten Positivbeispiele, die zeigen, wie absurd diese Kürzungen der Kulturmittel auf Bundesebene sind.

Meine Damen und Herren,

unsere Kultur ist tief verwoben mit der Erinnerungskultur:
-   Weil unsere Kultur eine aus der Heimat mitgebrachte ist, die in einer neuen Umgebung ihren Platz suchen musste. 
-   Weil unsere Kultur in der alten Heimat oft nur noch wenige Träger hat, die das alleine kaum schaffen, dafür jedoch von vielen hier und heute an neuer Statt fortgeführt wird. Dieses Gemeinsame ist für unsere Kultur überlebenswichtig.

Sie stützt sich auf die immateriellen Schätze, die wir im Zuge von Flucht, Vertreibung und Aussiedlung aus der Heimat mitgebracht haben – und auf die Erinnerungen unserer Eltern und Großeltern. Hieraus entwickeln wir unser Brauchtum weiter, passen Traditionen den neuen Umgebungen und Zeiten an, schlagen kulturelle Brücken sowohl über Grenzen als auch über Generationen hinweg. 

Dieser Prozess ist Teil unserer Identität. Er fordert uns heraus und zwingt uns in eine Aufgabe, die keine leichte ist. 

Den Fortbestand unserer kulturellen Identität sehe ich zwar nicht akut gefährdet. Der Appell muss trotzdem sein, im Zusammenhalt verbunden zu bleiben und all diejenigen zu unterstützen, die sich dafür einsetzen, dass man auch in nachfolgenden Generationen noch weiß, was Pommern und Ostbrandenburger sind, wo Banater Schwaben oder Bessarabiendeutsche herkommen oder welchen Dialekt man in Oberschlesien und welchen an der Memel gesprochen hat.

Wir, die im Bund der Vertriebenen vereinten Schicksalsgemeinschaften, sehen uns in der Pflicht, mit Nachdruck daran zu arbeiten, das Bewusstsein der Gesamtbevölkerung für Schicksal und Zukunft der Vertriebenen zu schärfen. 

Wir wollen Aufklärung leisten und um Empathie werben.

Wir fordern von Politik und Gesellschaft dafür neben der moralischen immer auch die finanzielle Unterstützung für unsere Verbände. Das reiche kulturelle und wissenschaftliche Gut, das Erbe, das unsichtbare Fluchtgepäck – es gehört uns allen. Wir alle müssen auch die Verantwortung dafür tragen.

Deutschland darf sich nicht aus seiner Verantwortung stehlen. Das kulturelle Erbe der Vertriebenen und Spätaussiedler ist nicht deren alleinige Privatsache, sondern dessen Erhalt eine bundesgesetzlich festgehaltene Verpflichtung für Bund und Länder, die sich nicht nach dem politischen Wind richten darf. 

Daher muss die Kulturförderung nach § 96 BVFG verlässlicher und um einiges besser aufgestellt sein, als sie sich zurzeit darstellt. 

(…)

Wenn auch nur kurz, so möchte ich zum Themenbereich „Kultur“ doch auch die Gedenkorte und Gedenktage erwähnen. Denn diese leisten einen wichtigen Dienst, wenn es um Erinnerung und Kulturpflege geht. 

Es ist daher nach wie vor gut, dass es auf Bundesebene mit dem Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni ein festes Datum gibt.
Und es ist gut, dass das Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung – bei aller berechtigten Kritik an der Ausgestaltung – einen festen Ort in Berlin hat.

Wünschenswert bleibt, dass alle 16 Bundesländer dem Bund nachfolgen und in den Ländern sowohl Gedenktag als auch Gedenkort für ihre Vertriebenen schaffen.

Kultur und deren Förderung ist das eine – die angemessene finanzielle Wertschätzung der Lebensleistung eines Menschen hingegen etwas nicht minder Wichtiges! Hier geht es darum, mit gleichem Maß zu messen und Gerechtigkeit walten zu lassen. 
Wie aber kann es dann sein, dass viele unserer Landsleute, unabhängig von ihrer Lebensarbeitsleistung, an die Grenze der Grundsicherung gebracht und in die Altersarmut getrieben worden sind und immer noch getrieben werden?

Die 1996 eingeführten Kürzungen im Fremdrentengesetz, die in der Summe über 50 Prozent der erarbeiteten Alterssicherung ausmachen, haben die Vertriebenenverbände zu Recht als tiefe Ungerechtigkeit empfunden. Diese sollte nach langem politischem Einsatz längst durch einen Härtefallfonds zumindest zum Teil ausgeglichen werden. 

Einen solchen Härtefallfonds hatte noch die vorherige Bundesregierung mit einer Milliarde Euro im Bundeshaushalt 2022 verankert. 

Dieser wird von der aktuellen Bundesregierung jedoch in Frage gestellt. Auch soll das Konzept weiterhin so ausgelegt werden, dass nur Spätaussiedler – also die Menschen, die ab 1993 nach Deutschland gekommen sind – in diese Hilfs-Regelung einbezogen werden. 

Alle deutschen Aussiedler hingegen sollen davon ausgeschlossen werden. Ich habe das seinerzeit als Aussiedlerbeauftragter der Bundesregierung deutlichst kritisiert und argumentativ hinterfragt. 

Es ist eine unglaubliche Ungerechtigkeit, eine Spaltung des Personenkreises, für die es auch nicht den geringsten Ansatz einer Rechtfertigung gibt. 

Genau das Gegenteil ist richtig: Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Verfahren, das wir gemeinsam mit der Landsmannschaft der Banater Schwaben und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zum Erfolg geführt haben, festgestellt, dass es auf Vertrauensschutz ankommt, wenn es um die Zumutbarkeit von Rentenkürzungen geht. Deutsche Aussiedler dürfen sich deutlich auf Vertrauensschutz berufen!

Die Gefahr ist akut, dass durch eine nicht – oder schlecht – durchdachte gesetzliche Regelung eine Spaltung unseres Personenkreises und eine erneute Benachteiligung der Aussiedler eintritt. Vorhandene Unwuchten müssen daher berichtigt und dann umgesetzt werden. 

Die schreienden Ungerechtigkeiten im Fremdrentengesetz sind damit zwar noch immer nicht beseitigt, auf keinen Fall darf es aber durch Ausgrenzung der deutschen Aussiedler aus dem Härtefallfonds zu weiteren derartigen Ungerechtigkeiten kommen. Wir sind in großer Sorge und befürchten, dass sich die bereits bestehende Altersarmut bei den Betroffenen ausweitet.

Der Bund der Vertriebenen wird sich weiterhin uneingeschränkt für eine Beseitigung der Kürzungen und eine gerechte Neuregelung im Rentenrecht einsetzen – ganz im Sinne der Menschen, die er vertritt und für deren Anliegen er sich seit bald 65 Jahren einsetzt.

Meine Damen und Herren,

Putins Angriffs- und Eroberungskrieg in der Ukraine muss jeden friedliebenden und freiheitlich denkenden Menschen erschüttern, wenn wir mehr als ein Dreivierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erneut einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf europäischem Boden erleben.

Unsere jahrzehntewährende Forderung nach Versöhnung unter den Völkern rückt plötzlich wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein. Denn wenn sich Geschichte auch nicht wiederholt, so führen doch die Muster von Aggression, Konflikt und Krieg heute erneut zu Vertreibungen, Heimatverlust und zivilen Opfern unter den Völkern. 

Das müssen unsere Landsleute in der Ukraine gerade am eigenen Leib erfahren! Bis zur Invasion Russlands im Februar lebten rund 33.000 ethnische Deutsche auf dem Gebiet der Ukraine.

Wir wissen gesichert, dass sich viele Tausend Landsleute bereits entweder innerhalb der Ukraine oder aber im angrenzenden Ausland in Sicherheit gebracht haben.

Die BdV-Landesvorsitzende und Landesbeauftragte in Niedersachsen, Editha Westmann, die engen Kontakt zum Grenzdurchgangslager Friedland hält, weist zu Recht darauf hin, dass viele ethnische Deutsche aus der Ukraine kriegsbedingt zu uns gekommen sind und weiter kommen werden. 

Auch wenn zurzeit nicht verlässlich abzusehen ist, wie viele Personen aus dieser Gruppe tatsächlich ein Aufnahmeverfahren nach dem Bundesvertriebenengesetz anstreben werden – die Politik muss sicherstellen, dass den deutschstämmigen Personen ein der Ausnahmesituation angemessenes Aufnahmeverfahren ermöglicht wird. 

Keinesfalls darf es dazu kommen, dass die Betroffenen ihren Aufnahmestatus als Aussiedlerbewerber verlieren und dann ausländerrechtlich behandelt werden. Das ist ein Gebot der Fairness in dieser Ausnahmesituation.

Meine Damen und Herren, 

es gebietet sich aber auch ein Blick nach Russland: auch in der Russischen Föderation leben Landsleute, rund 400.000 Menschen, die sich der ethnischen deutschen Minderheit zuordnen. 

Auch sie werden Opfer dieses Krieges, werden drangsaliert und ausgegrenzt.

Als Bund der Vertriebenen halten wir daher engen Kontakt mit den Vertretern dieser Landsleute, gemeinsam mit der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die für alle Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion zuständig ist. Familiäre Beziehungen über Staatengrenzen hinweg und natürlich nach Deutschland in den Kreis der zugezogenen Spätaussiedler hinein führen zu einer ganz besonderen Spannungslage. 

Gerade die LMDR hat schon früh darauf hingewiesen, dass sich die Ablehnung des Krieges in Deutschland mancherorts auch in einer pauschalen und stigmatisierenden „Russenfeindlichkeit“ äußert, in die – reichlich uninformiert – die Deutschen aus Russland gleich mit einbezogen werden. 

Besonders die deutschen Aussiedler und Spätaussiedler leiden darunter sehr. Zum einen, weil man sie hier als „Russen“ abstempelt, wo sie doch in ihrer alten Heimat „die Deutschen“ waren. Diese falsche Fremdzuschreibung als „Russen“ ist jedoch eine offene Aberkennung der eigenen kulturellen Identität – und inakzeptabel! Zum anderen aber auch, weil sie mit einem Krieg in Verbindung gebracht werden, den sie weder verantworten noch mehrheitlich gutheißen – sondern zutiefst verabscheuen. Auch diese Betroffenen brauchen daher politische Unterstützung und Flankenschutz. 

Wir, alle Verbände im BdV, stehen an der Seite aller Deutschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, und insbesondere an der Seite der Deutschen in der Ukraine und in der Russischen Föderation.

Mit einem besorgten Blick in das Nachbarland Polen möchte ich zum Ende – und fast als Überleitung zu unserem Freund Bernard Gaida, ein weiteres Mal scharf kritisieren, dass Polen den muttersprachlichen Unterricht für die Angehörigen der dortigen deutschen Minderheit von drei auf eine Wochenstunde gekürzt hat. 

Damit einher geht eine Reduzierung der finanziellen Förderung des Unterrichts um fast 10 Millionen Euro. 

Der Bund der Vertriebenen hat umgehend dagegen protestiert, es handelt sich um eine gezielte staatliche Maßnahme ausschließlich gegen die deutsche Minderheit in Polen und erinnert an unmittelbare Nachkriegszeiten. 

Es ist eine Diskriminierung für ca. 50.000 Kinder und ihre Familien, die der deutschen Minderheit in Polen angehören. Die eigene Muttersprache ist das wichtigste Mittel zur Identitätsbildung! Wenn ein Staat darauf hinarbeitet, diese Merkmale zu schleifen, verstößt er gegen grundlegende Menschenrechte und setzt die Existenz einer Minderheit aufs Spiel.

Dieses Thema muss Angelegenheit der Bundesregierung auf höchster Ebene bleiben und mit Nachdruck und diplomatischem Klartext vertreten – und gelöst – werden. 

Bundesinnenministerin Faeser versprach beim Jahresempfang des BdV, sich dafür einzusetzen, dass die Kürzungen in Polen rückgängig gemacht werden. Diese seien „nicht zu akzeptieren“. Wir bleiben gespannt, was daraus wird. 

Dieses Problem darf die Bundesregierung nicht aussitzen. Wenn in langjähriger Arbeit aufgebaute Schulkapazität abgebaut wird, wenn Lehrer sich andere Betätigungsfelder in der Wirtschaft suchen und langfristig verloren sind, entstehen irreparable Schäden, die kurzfristig nicht korrigiert werden können. Mit Beginn des neuen Schuljahres dürfte das Zeitfenster zum Handeln geschlossen sein. Dann werden wir von der Bundesregierung Informationen über unternommene Schritte und deren Ergebnisse erbitten und darüber in unseren Publikationen berichten. Das verspreche ich Ihnen.

Sehr geehrter Herr Dr. Dutkiewicz, vielleicht können Sie uns heute bereits sagen, wie sich die polnische Zivilgesellschaft zu dieser Maßnahme gegen die deutsche Minderheit positioniert? 

In den Kreisen der Vertriebenen, vor allem aber bei den deutschen Minderheiten in Polen, herrscht großer Unmut.

Meine Damen und Herren, liebe Landsleute,

wie jedes Jahr spreche ich zum Schluss meinen herzlichen Dank aus: Ihnen persönlich, sowie allen unseren Mitstreitern in den Landes- und Kreisverbänden, in den Landsmannschaften und Kulturgruppen. 

Die Schicksalsgemeinschaft, die sich im Bund der Vertriebenen zusammengeschlossen hat, hält wie eh und je zusammen. Unsere Arbeit wird weiterhin gebraucht.

Ich danke Ihnen!


Festrede zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 27. August 2022 in der Französischen Friedrichstadtkirche Berlin

Dr. Rafał Dutkiewicz

 

Guten Tag, meine Damen und Herren!

Ich bin zu Ihnen aus Breslau gekommen. Einer Stadt 340 km von Berlin entfernt, einer Stadt mit einer sehr komplexen und wechselvollen Geschichte. 

Kurt Tucholsky hat einmal geschrieben: „Jeder anständiger Berliner kommt aus Breslau“.
Als langjähriger Stadtpräsident von Breslau habe ich dieses Zitat umgedeutet und ich sage für die Gegenwart: „Jeder anständiger Berliner kommt nach Breslau.”
Heute ist jedoch „ein ziemlich anständiger Breslauer nach Berlin gekommen.”

Wenn ich versuche, über Breslau zu erzählen, fallen mir viele Geschichten ein. 

Ich erzähle zum Beispiel über ein Buch, das berühmte Buch von Heinrichau. Über ein Dokument aus dem 13. Jahrhundert. Es ist mir gelungen, dieses 2015 in die UNESCO-Liste „Memory of the world“ einzuschreiben.

Es gibt zwei UNESCO-Listen. Eine davon ist eine Liste großer Architekturdenkmäler oder herausragender Naturgebiete. Das andere sind die wichtigsten Dokumente der Weltgeschichte. In diese zweite Liste - „Memory of the world” („Gedächtnis der Welt“) habe ich eben das Buch von Heinrichau eingetragen. Das Buch enthält den ersten in polnischer Sprache aufgeschriebenen Satz. 
Das Buch von Heinrichau wurde nicht weit von Breslau entfernt verfasst. Es stellt eine Chronik dar, die von einem deutschen Mönch in Latein aufgeschrieben wurde. Der Mönch schildert die damalige Realität ordnende Ereignisse, und zwar nach dem Tatarenansturm, der damals diesen Teil Europas verwüstete. 
Der Mönch zitiert einen Satz eines böhmischen Bauern, der einst Ritter war und jetzt Bauer ist, der sich an seine polnische Gattin wendet: „odpocznij, ja teraz za ciebie popracuję”, was sich ins Deutsche etwa mit „Lass mich jetzt arbeiten und ruh' dich aus“ übersetzen lässt.
Deutscher Mönch. Latein - eine Verbindung mit Europa, viel mehr als Englisch für die heutige Welt. Und ein böhmischer ehemaliger Ritter im Gespräch mit seiner Gattin, einer Polin. 

Manchmal spreche ich über eine Skulptur von Theodor von Gossen. In Breslau gibt es zahlreiche Skulpturen dieses Autors. Ich erzähle über die Skulptur des Auferstandenen Christus. Eine kleine Gedenkstätte, die den im Ersten Weltkrieg gefallenen Absolventen des St. Matthias-Gymnasiums gewidmet wurde. Die Skulptur steht im Barockgarten des Breslauer Ossolineums, der prächtigen polnischen Nationalbibliothek, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Lemberg nach Breslau verlegt wurde. Ich glaube, im Jahre 2007, also 62 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, haben wir diesen Garten renoviert. Damals – bitte zuhören - 62 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben wir die Skulptur von Gossen in den Kriegstrümmern entdeckt.
In der Nähe des Gartens, von dem ich erzähle, befindet sich eine Kirche, gestiftet von Herzog Heinrich dem Frommen. Der Herzog, der 1241 in der Schlacht mit Tataren, beim - vorher von mir erwähnten - Tatarenansturm gefallen ist. Wir sprechen über eine asiatische Gewalt, die das damalige christliche Europa zerstören wollte. 
Der Herzog allein war der Sohn von Heinrich dem Bärtigen und der Heiligen Hedwig von Schlesien. Die aus Bayern stammende Heilige ist die Schutzpatronin sowohl von Schlesien als auch von Berlin. Nicht weit von dem Ort entfernt, an dem wir jetzt sind, steht die Berliner katholische St. Hedwigs-Kathedrale. 

Ich komme jedoch auf die Kirche zurück, die von Herzog Heinrich dem Frommen in Breslau gestiftet wurde. Heutzutage wird sie als Kathedrale der ukrainischen Kirche genutzt. Eine schöne gotische, also westliche Kirche mit einer großartigen östlichen Ikonostase des polnischen Künstlers Jerzy Nowosielski. An das gotische Gotteshaus grenzt eine barocke Kapelle, eines der wichtigsten Denkmäler des schlesischen Barocks. Diese Kapelle wurde 1945 zerstört. Während der Bombardierung von Breslau. Zur Osterzeit. Wir haben diese 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus den Trümmern auferstehen lassen. Dank der Zusammenarbeit von Breslau mit der ukrainischen Kirche. Mit Hilfe von EU-Fördermitteln.
Ich möchte Ihnen Begegnungen zeigen: Osten mit Westen, Krieg mit Europa, das Heilige mit dem Barbarischen.
Ich möchte Ihnen sagen: das Gute gewinnt. Ich möchte Ihnen aber auch sagen: das Böse stirbt nicht. Das Böse kann vernichten und die Welt über Jahre hinweg verwüsten. 

Wir sind also in Breslau. Wir erinnern uns an Ostern 1945. Die Stadt wurde dann zur „Festung Breslau“ („Twierdza Wrocław“) ernannt. Von Februar bis Mai 1945 sind in Breslau 170.000 Personen, nur Zivilpersonen umgekommen. 170.000 Personen. So viele - wie in Hiroshima und Nagasaki.

Die Tragödie des Krieges, eines gottlosen und unmenschlichen Krieges, forderte 170.000 Menschenleben in meiner Stadt, einer Stadt, mit der viele von Ihnen noch immer eine besondere Verbindung teilen, deren Nähe Sie nicht nur im geographischen Sinne noch immer spüren. 

Habe ich diese Tatsache geschildert, möchte ich Folgendes sagen: Ich bin zu Ihnen aus Breslau, einer Stadt der Vertreibungen gekommen. 

Breslau ist wahrscheinlich die einzige Großstadt der Welt, in der die Bevölkerung 100% ausgetauscht wurde. 
Eine grausame Ergänzung der soeben erwähnten tragischen Ereignissen war dies, was in meiner / unserer Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dessen Ende geschehen ist.
Der vollständige Bevölkerungsaustausch. 
Die deutschen Einwohner unserer Stadt wurden von dort vertrieben. An ihre Stelle sind die Polen gekommen, die teilweise auch aus ihren Häusern vertrieben wurden. Aus Lemberg, aus anderen Städten und Dörfern - aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten. 

Die Stadt der Vertreibungen. Und die Stadt der Versöhnung. 

Zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, 1965 wurde ein berühmter Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder verfasst. Der Brief, der den Weg zur deutsch-polnischen Versöhnung mitebnete. Der Brief mit den so schönen Worten: „Wir vergeben und bitten um Vergebung”. Der Autor dieses Briefes ist der Breslauer Erzbischof, Kardinal Bolesław Kominek.
Kominek, ein Jahr später, 1966 gefragt, warum dieser Brief verfasst wurde, hat wie folgt geantwortet:
„Die Sprechweise kann nicht nationalistisch sein, sondern muss europäisch in der tiefgreifendsten Bedeutung dieses Wortes sein. Europa ist die Zukunft – Nationalismen sind von gestern. (...) Eine Vertiefung der Diskussion darüber, eine föderative Lösung für alle Völker Europas zu schaffen, u. a. durch - einen allmählichen Verzicht auf die nationale Souveränität in Fragen der Sicherheit, der Wirtschaft und der Außenpolitik (ist außergewöhnlich wichtig)...“
Übersetzt man dieses Zitat in die heutige Sprache, würden wir sagen, dass die Europäische Union eine der besten Antworten unseres Kontinents auf die Tragödie des Zweiten Weltkriegs ist. Die Union existiert unter anderem aufgrund der Erinnerung und des Nachdenkens, die mit der Tatsache verbunden sind, dass dieser Krieg so viele Millionen Opfer gefordert hat. 

Die Stärke der nationalen Vorstellungsverbindungen ist in der Menschheitsgeschichte so ausschlaggebend, dass sogar die linksorientierten Philosophen – wie etwa Habermas – bereit sind, Folgendes zu sagen: Würden die Nationalstaaten nicht entstehen, so müsste man sie erfinden. 
Die Gemeinschaft zieht aber immer weitere Kreise. 

Die Nation ist eine gemeinschaftliche Stufe in der Entwicklung eines Menschen und der Menschheit. 

National geht mit international einher. Die Nation heute und in Zukunft kann sich nur übernational verwirklichen, in unserem Fall – im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft.
Im Jahre 2018 haben sich rund 100.000 Ukrainer in Breslau niedergelassen. Sie sind hauptsächlich wegen der Arbeit gekommen. Im Jahre 2022 leben bereits 300.000 Ukrainer in Breslau. Früher sind die Familien oder Männer auf der Suche nach der Arbeit gekommen. Jetzt - vor allem Frauen mit Kindern. Sie wurden aus der Ukraine vertrieben, und zwar durch einen grausamen Krieg, den der russische Diktator gegen die Ukraine entfesselt hat.

Auf diese Weise wurde Breslau im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erneut zu einer Stadt der Vertreibungen. Ebenso wie viele andere polnische und europäische Städte, die ukrainische Flüchtlinge aufnehmen. 

Das Ausmaß des ukrainischen Exodus - unter Berücksichtigung derjenigen, die innerhalb des Landes umgezogen sind, und derjenigen, die ihre Heimat verlassen haben - liegt wahrscheinlich bei etwa fünf Millionen Menschen. 

Mit blutigen Gedanken und Taten hat der grausame Herrscher Russlands mehrere Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Er hat so vielen Ukrainern und Russen das Leben genommen.

Ich war vor kurzem in Lemberg. Wir haben das dortige Militärkrankenhaus besucht. Ein etwa über dreißigjährige verwundete Soldat, erzählte uns auf die Frage nach seiner Familie, dass seine Frau infolge der Kriegshandlungen umgekommen ist. Dann hat er uns ein Foto seines Sohnes auf seinem Handy gezeigt. Er weiß nicht, wo er ist. Irgendwo an oder hinter der Frontlinie. Wenn es mir besser geht, sagte der Soldat, gehe ich an die Front. Um meinen Sohn zu finden und denjenigen zu bekämpfen, der meine Familie zerstört hat.
In diesem Krankenhaus werden zahlreiche neurochirurgische Eingriffe durchgeführt. Das Krankenhaus verfügt jedoch nicht über ein Mikroskop, mit dem diese komplizierten Eingriffe präzise durchgeführt werden können. Wir sammeln derzeit Geld für ein solches Mikroskop. Wer die Aktion finanziell unterstützen möchte, kann dies gerne tun. 

Ich spreche von humanitärer Hilfe. Ich will noch weiter gehen und sagen: Die Ukraine hat das Recht und die Pflicht, sich zu verteidigen. Europa und die Welt sind hingegen verpflichtet, die Ukraine zu unterstützen. Auch mit Waffenlieferungen. 

Die Ukraine hat das Recht und die Pflicht, sich zu verteidigen. Wir sind dazu verpflichtet, ihr diese Hilfe zu gewähren. Auch wenn dies so schwierig ist, mit Waffenlieferungen. 

Wenn ich Putin anschaue, denke ich, dass das Böse nicht stirbt. 

Was will dieser Verbrecher? 
Er kann nicht ertragen, dass eine Nation, der er das Recht auf eine eigene Identität abspricht, ihren eigenen demokratischen, pro-westlichen Entwicklungsweg wählen will.
Putin will das sowjetische Imperium zurückschaffen - und in der Tat - die moderne Weltordnung niederreißen. Er führt also zu einer Situation, in der Russland unser gemeinsames Problem ist. Russland versucht, die Europäische Union zu destabilisieren und den Westen zu spalten.

Mein Freund Janusz Reiter hat es so formuliert:

„Putin ist es wichtig, dass Russland gefürchtet wird. Wenn die Angst, die seine Politik auslöst, den Westen verunsichert und spaltet, wird das ein großer Erfolg für Putin.

Heute brauchen wir eine gemeinsame westliche Antwort auf die russische Aggression gegen die Ukraine und auf die russische Bedrohung Europas. Ohne Deutschland wird es diese Strategie nicht geben. Deutschland braucht die Europäische Union und die NATO. Mit aller Kraft, mit aller eigenen Kraft, werden sie weder politisch noch wirtschaftlich alleine zurechtkommen. Und in dieser grundsätzlichen Frage stimmen unsere (polnischen) Interessen mit denen Deutschlands überein. Und weil sie so sind, sollten wir mit ihnen arbeiten. Die Amerikaner würden sich freuen. Aus ihrer Sicht schwächt der Streit zwischen Polen und Deutschland nur die westliche Welt. Ich habe immer geglaubt, dass wir im Dreieck Polen-USA-Deutschland nach Möglichkeit zusammenarbeiten sollten. 

Ich habe keinen Zweifel, dass dieser Krieg eine Manifestation von Prozessen ist, die die Welt verändern können, und leider zum Schlechteren. Es herrscht Angst in Europa, die Menschen haben Angst vor Zukunft. Eine solche Stimmung ist erklärbar, aber ihre Folgen sind gefährlich. Sie fördert Spaltung und Misstrauen, sowohl innerhalb als auch zwischen einzelnen Ländern. Dies ist eine Krise, die die Grundfesten unserer Welt betrifft, und das bedeutet, dass wir äußerst verantwortungsbewusst sein müssen. Auch die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland sind aufgrund ihrer geografischen Lage und politischen Bedeutung in diesem Zusammenhang zu sehen.”

Ich stimme diesen Ansichten zu. Meine Meinung ist sogar noch ausgeprägter. Putin will die moderne Weltordnung erschüttern. Er will die Europäische Union schwächen. Er zögert nicht, Tausenden von Menschen das Leben zu nehmen. Putin will nicht nur die Ukraine. Seine Pläne gehen weit darüber hinaus …
Seine Gedanken und Handlungen sind verbrecherisch. 

Es gibt ein schönes Gedicht aus dem 17. Jahrhundert, das ich Ihnen abschließend zitieren möchte:

„Niemand ist eine Insel, in sich ganz; 
jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes.
Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, 
wird Europa weniger, 
genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, 
oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. 
Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; 
und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.“ 
John Donne (1572-1631)

Verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst! 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Sehr geehrte Damen und Herren,

am Ende meiner Rede möchte ich nun ganz kurz auf ein anderes Thema eingehen. Es geht nämlich um die Entscheidung der polnischen Regierung, die Finanzierung des muttersprachlichen Unterrichts für die deutsche Minderheit in Schlesien zu kürzen. Ich bin darüber einfach sehr beschämt.

Danke!