Ansprache zum bundesweiten Gedenktag an die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2021 in Berlin

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius MdB

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister Seehofer, 
sehr geehrte Frau Hasselfeldt, 
sehr geehrter Herr Prälat Dr. Jüsten,
liebe Landsleute,
meine Damen und Herren,

durch Flucht und Vertreibung leiden und sterben Menschen, es sind schmerzhafte und tragische Einzelschicksale und es sind in ihrer Summe kollektive Biografien, die über ganze Generationen hinweg von dem erlebten Trauma geprägt sind. Das darf sich nicht immer und immer wiederholen! 

Wir müssen uns an vergangenes und gegenwärtiges Leid erinnern und wir müssen unseren Anspruch auf Menschlichkeit formulieren und in Gegenwart und Zukunft durchsetzen. 

Ethnische Säuberungen, Flucht und Vertreibung töten Menschen physisch.

Flucht und Vertreibung können aber auch die Seele töten – dann, wenn ein Ausmaß an Grausamkeit erreicht wird, welches das Heilungsvermögen der Natur übersteigt. Das Sterben an Leib und Seele ist auch bei der Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung aus ihren angestammten Heimatgebieten in Mittel- und Osteuropa und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach dem zweiten Weltkrieg allgegenwärtig.

In seinen Erinnerungen erzählt ein Mann aus Osterode in Ostpreußen, was er als 10-jähriger Junge im Januar 1945 auf der Flucht vor der Roten Armee erlebte. Er schreibt:

„Nachdem wir gerade auf der Frischen Nehrung festen Grund unter den Füßen hatten, setzte hinter uns verstärkt Tieffliegerangriff auf dem Eis ein. Es wurden Flüchtlingswagen getroffen. Viele Fahrzeuge versanken ‚mit Mann und Maus‘ in diesen Löchern. Es klingen noch heute die Todesschreie der Menschen in meinen Ohren. Zu Fuß ging es auf der Frischen Nehrung weiter. Am Wegesrand lagen viele krepierte Pferde. Aus ihren Körpern waren große Fleischstücke geschnitten. Die Menschen hungerten, so war dieses eine willkommene Gelegenheit, den Hunger zu stillen.“ 

Der Zeitzeuge schildert seine Erinnerungen an das folgende Hungerstillen und schreibt weiter: 

„Der nächste Morgen war schrecklich. Überall sah man an Bäume angelehnte Menschen, die vor Müdigkeit und Erschöpfung eingeschlafen und erfroren waren. Intensiv eingeprägt hat sich in mich das Bild eines toten Mädchens, vielleicht 10 bis 11 Jahre. Sie lag tot quer über dem Fußpfad. Alle stiegen über das tote Mädchen hinweg. Keiner erbarmte sich, das tote Kind zur Seite zu ziehen. So abgestumpft waren die Menschen wohl. Dieses Bild werde ich in meinem Leben nicht mehr vergessen.“

Soweit der Bericht des Zeitzeugen.

Was geschieht in der Seele eines Kindes, das auf der Flucht über den erfrorenen leblosen Körper eines gleichaltrigen Kindes hinwegsteigen muss? Wie heilt man solche Wunden bei denen, die überlebt haben? 

Wie viel Empathie und Hilfsbereitschaft konnte unsere Gesellschaft für die Millionen flüchtenden und vertriebenen Landsleute aus den deutschen Ostgebieten aufbringen, wenn sie selbst – wie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – ausgebombt und am Rande der Existenz zu funktionieren und zu überleben versuchte?

Wie viel Mitgefühl mit eigenen Opfern war möglich, da doch die Abscheulichkeit der Verbrechen in diesem grausamen, von Nazi-Deutschland ausgegangenen Krieg langsam in den Köpfen der Menschen ankam?

Für die Millionen geflüchteten und vertriebenen Deutschen aus den Ostgebieten waren die Nachkriegsjahre umso leidvoller, als der Triumph des Überlebens von der bitteren Not des Alltags schnell verdrängt wurde. Und doch gab es auch zu jener Zeit Anker der Zuversicht und Lichtblicke der Hoffnung in den geschundenen Seelen. 

Die Zuversicht speiste sich aus dem althergebrachten tiefen Glauben an Gott und seine Wirkmacht. Die Lichtblicke der Hoffnung aber gründeten auch auf der inneren Überzeugung der Überlebenden, die in der Charta der Heimatvertriebenen bereits im August 1950, noch unter dem direkten Eindruck des Erlebten ihren Niederschlag fand und zu der heute und in aller Zukunft weitergeltenden Richtschnur aller Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler sowie ihrer noch in den Heimatgebieten lebenden Landsleuten wurde: Das unbedingte Wollen zur Mitwirkung an einem in Frieden und Freiheit zusammenlebenden Europa, die Durchbrechung des unseligen Kreislaufs von Menschenverbrechen, den Kreislauf von Rache und Vergeltung. 

Es war diese Hoffnung aus der gereichten Hand und die tiefe Hoffnung, dass diese Hand auch angenommen würde und so endlich wieder Licht in das Dunkel der Welt Einzug finde! 

Licht ins Dunkel des eigenen Lebens brachten damals – und bis heute – auch die Arbeit und so manche Erfolgsmeldungen der Suchdienste der Kirchen und des Deutschen Roten Kreuzes. Der Dienst an den hilfsbedürftigen Menschen – damals und heute –, von großen Einsätzen bis zu den kleinen Einzelhilfen als Geste der Menschlichkeit – oft jenseits der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit und viel zu selten angemessen gewürdigt – ist es, der Leid lindert!

„Das Leid von Kriegsopfern zu lindern, gehört zu den originären humanitären Hilfeleistungen des Deutschen Roten Kreuzes“, sagte anlässlich des 50-jährigen Jubiläums unseres Verbands der damalige DRK-Präsident Dr. Rudolf Seiters mit Verweis auf die Vertriebenen. Die verlorene Mutter, den verschollenen Vater wiederzufinden war ebenfalls die Hoffnung jener Zeit!

Der Bund der Vertriebenen hat im Jahr 2002 den Kirchlichen Suchdienst und den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes mit seiner höchsten Auszeichnung, der Ehrenplakette, geehrt.

Meine Damen und Herren, 

das Gedenken und Erinnern an die Opfer von Flucht und Vertreibung geht zwangsläufig einher mit dem Erinnern an das Unrecht, das rund 15 Millionen Deutschen in den historischen deutschen Ostgebieten widerfahren ist.

Bitte erlauben Sie mir, wie jedes Jahr an dieser Stelle, an diese Menschen und ihre Heimatgebiete zu erinnern, an

  • Ostpreußen, Westpreußen, Danzig und das Baltikum,
  • an Schlesien, Pommern, Ostbrandenburg,
  • an das Sudetenland, den Karpaten- und den Donauraum,
  • sowie die deutsch besiedelten Gebiete Russlands und der Ukraine.

Die Vertriebenen verloren ihre Heimat und nicht selten ihr Leben; sie verloren Familie, Freunde, Nachbarn; viele verloren den Glauben an die Mitmenschlichkeit.

Meine Damen und Herren,

im Namen der Überlebenden und in Erinnerung an die Opfer empfinde ich Dankbarkeit dafür, dass dieser 20. Juni Jahr für Jahr ein gesamtgesellschaftliches Gedenken ermöglicht. 

Ich empfinde Dankbarkeit dafür, dass wir morgen in Anwesenheit unserer Bundeskanzlerin das Dokumentationszentrum der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ mit seiner Dauerausstellung zur Vertreibung der Deutschen am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin eröffnen und auch dieses Thema so in seinem historischen und zeitlichen Kontext aus dem Schatten der Erinnerung hervorholen und in den Blickpunkt der gesamten Öffentlichkeit stellen. 

Wir wollen nie vergessen: Jede Vertreibung, jede ethnische Säuberung – gleichgültig wo, wann und mit welcher Begründung – ist immer ein Verbrechen!