Dankesrede von Erika Steinbach MdB aus Anlass der Verleihung des Karlspreises der Sudetendeutschen Landsmannschaft am 22. Mai 2010

Sperrfrist 22. Mai 2010, 10:30 Uhr!

Es gilt das gesprochene Wort.

Anrede,

wann immer ich mich im Frankfurter Rathaus, dem Römer, zu festlichen Anlässen befinde, fällt mein Blick auf die eindrucksvollen Bildnisse der Herrscher des Heiligen-Römischen Reiches deutscher Nation, die den Kaisersaal prägen. Unter ihnen hat Karl IV. eine besondere Stellung. Mit der Goldenen Bulle von 1356 regelte er nicht nur die Königswahl und die Kurfürstenrechte, sondern auch Bestimmungen über den Landfrieden und die Beschränkung des Faustrechtes.

Als Bundestagsabgeordnete, die ihren Wahlkreis in der Wahl- und Krönungsstadt Frankfurt a.M. hat, ist mir die Auszeichnung mit dem Karlspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft auch deshalb eine besondere Freude und Ehre. Ja, ich freue mich sehr!

Die über tausend Jahre des deutsch-tschechischen Mit- und Nebeneinanders gestalteten sich davon 800 Jahre unter dem Dach des Heiligen Römischen Reiches. Die gesellschaftlichen, religiösen und politischen Konflikte in den böhmischen Ländern des Mittelalters und der frühen Neuzeit waren keine nationalen Auseinandersetzungen im modernen Sinne. Darüber gibt es unter Historikern beider Seiten praktisch keine Differenzen.

In der ersten großen Schlacht des Dreißigjährigen Krieges am Weißen Berg vor Prag standen sich 1620 nicht Deutsche und Tschechen gegenüber, sondern böhmisch-protestantische Patrioten beiderlei Nationalität auf der einen, kaiserlich-katholische Kräfte auf der anderen Seite.

Die zwölf Anführer der besiegten protestantischen Partei, deren abgeschlagene Köpfe zehn Jahre lang auf dem Prager Altstädter Brückenturm staken, trugen deutsche wie tschechische Namen.

Eines ist wichtig, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen:

  • Das deutsch-tschechische Verhältnis war über weite Strecken, insbesondere zwischen der Mitte des 17. und der des 19. Jahrhunderts vom friedlichen Neben-, oft auch Miteinander, vom gegenseitigen Geben und Nehmen geprägt.
  • Die nationalen Konflikte, deren Folgen im 20. Jahrhundert schließlich eskalierten, haben ihren Ursprung erst im 19. Jahrhundert.
  • Die Ereignisse der 30er und der 40er Jahre, vom Münchner Abkommen 1938 über die Protektoratszeit mit ihren Schrecken für die Tschechen und ab 1945 die Vertreibung der Deutschen bis zum Kommunisten-Putsch 1948 sind der dramatische Teil des deutsch-tschechischen Miteinanders.Sie wurden zum Gegeneinander schlimmster Art.

Sollte man unter diesen leidvollen Teil der gemeinsamen Vergangenheit einen Schlussstrich ziehen? Es hört sich sehr verlockend an. Es scheint ein Königsweg in die Zukunft. Ist er das wirklich? Ein Schlussstrich unter die Vergangenheit schneidet nicht nur die Zeit von 1918 bis 1989 ab, sondern er tilgt auch die positiven Jahrhunderte des Miteinanders.

Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser vermeintlich leichte Akt des Schlussstriches am Ende der schwerere Weg für unsere Völker sein wird. Wir sollten ihn uns nicht antun!

Nach über sechs Jahrzehnten geht es bei der Aufarbeitung der Vergangenheit nicht um „Schuld und Sühne“ oder Buße. Das wäre auch fruchtlos, ja kontraproduktiv.

Aber wir müssen uns unserer Vergangenheit gemeinsam stellen, um eine auf Dauer friedvolle und fruchtbare Zukunft zu gewinnen. Dabei ist keine Kollektivschuld aufzuarbeiten, die gibt es nicht. Weder sind die Tschechen ein Volk von Vertreibern, noch wir Deutschen ein Volk von nationalsozialistischen Verbrechern.

Die heutige Tschechische Republik ist eine Demokratie und hat keine Deutschen vertrieben. Als junges demokratisches Staatswesen hat sie es sowohl wirtschaftlich als auch politisch nicht immer leicht. Das ist mir bewusst.

Zur tschechischen Bürde gehört aber unabweisbar auch das Erbe aus einer anderen Epoche: das Schicksal der Sudetendeutschen und ihrer unmenschlichen Vertreibung. So wie zu unserer deutschen Last die Verantwortung gegenüber den Opfern des nationalsozialistischen Deutschlands gehört, mit dem wir als Demokratie nichts gemein haben. Es sind schreckliche Erbschaften!

Wer diese Erbschaften ausschlagen will, hat nur die Möglichkeit, es ganz zu tun und sich von seinem Land abzuwenden – innerlich oder tatsächlich – und seine nationale Identität aufzukündigen. Wer sein Vaterland liebt, wird diesen Weg nicht gehen, sondern ja zum Gesamterbe sagen. Mit allen Passiva, aber mit noch mehr Aktiva. Alles andere wäre auch töricht.

Ich möchte nicht auf Bach, auf Beethoven, Schubert oder Mendelssohn verzichten, ich möchte nicht Goethe, Schiller, Heine oder Adalbert Stifter als Teil meiner nationalen Identität missen, so wie Tschechen sicher Dvorak, Smetana und Janacek genau so brauchen wie ihre Dichter.

Und wir gemeinsam können nicht auf Franz Kafka, Franz Werfel, Rainer Maria Rilke, Peter Parler, Balthasar Neumann und die Familie Dientzenhofer verzichten, nur einer Zeitspanne wegen, die manche am liebsten aus dem Bewusstsein streichen würden, damit aber auch die positiven Zeiten gleichermaßen abtrennt.

Was also bleibt zu tun? Das vollständige Erbe annehmen. Eintauchen auch in die Finsternis der menschenverachtenden Teile der je eigenen Geschichte. So, nur so gelangen wir durch Nacht zum Licht.

Rainer Maria Rilkes poetische Gedanken überschrieben „Kde domov muj“, bei der Betrachtung des Zimmerchens des tschechischen Dichters Josef Kajetan Tyl sind ein kleines literarisches Dokument glühender tschechische Heimatliebe aus der Feder eines Lyrikers deutscher Zunge. Geschrieben im Jahre 1895.

Rilke, selbst in Prag geboren, kannte die Seelen seiner tschechischen Nachbarn gut. Verwurzelung und Bindung sind natürlich nicht nur Deutschen, sondern auch Tschechen emotionales Bedürfnis. Hierin sind sich beide Völker nah verwandt.

Prag, die goldene Stadt, ist lebendiges Zeugnis, wie eng verflochten tschechische und deutsche Kultur, tschechische und deutsche Geschichte über Jahrhunderte hinweg waren. Und sie sind es bis heute – nicht nur in steinernen Denkmälern.

Mein erster Besuch in Prag im Jahre 1992 hatte nichts mit Politik zu tun, obwohl ich schon damals Bundestagsabgeordnete war. Die Musik führte mich nach Prag. Mein Mann dirigierte im wunderbaren Dvoraksaal des damals gerade renovierten Rudolphinums das Sinfonie-Orchester von Radio Prag. Unter kundiger Führung eines tschechischen Freundes kamen wir dieser kulturträchtigen Stadt näher.

Unvergesslich ist mir dabei der Besuch des St. Veitdomes. Kaum hatten wir den Kirchenraum betreten, brach draußen die Sonne durch den zuvor bedeckten Himmel und ließ eines der Kirchenfenster in fast überirdischem Licht so gleißend erstrahlen, dass es mir fast den Atem raubte.

Wie ein Magnet hat Prag über Jahrhunderte hinweg immer wieder Menschen angezogen. Mozart liebte diese Stadt mehr als Wien oder Salzburg, und er wurde wiedergeliebt. Für die Uraufführung seines „Don Giovanni“ wurde er begeistert gefeiert.

In den Jahrzehnten der Teilung Europas und der Konfrontation der Blöcke haben die Vertriebenen, oft mehr als andere, nie vergessen, dass Prag, Pressburg, Budapest und Warschau zu Europa gehören. Und sie haben auch mehr als andere Deutsche Anteil genommen am Schicksal der Völker in diesen mitteleuropäischen Ländern. Warum? Weil das Herz mitspricht.

Die Sudetendeutschen sind Tag für Tag hundert, ja tausendfach unterwegs in der Heimat. Nicht mit geballter Faust, sondern offenen Herzens. Es gibt inzwischen viele Kontakte, sogar Freundschaften zwischen Vertriebenen und den Menschen unserer Nachbarländer, aus denen vertrieben wurde.

Wir sind bereit, den Dialog darüber hinaus zu führen. Auf kommunaler Ebene findet er auch vielfältig statt und trägt Früchte. Woran es bis heute fehlt, ist die Aufnahme dieser Impulse auf staatlicher Ebene. Die Auseinandersetzung mit der Vertreibung und die Heilung dieser großen europäischen Wunde wird freimachen für eine gemeinsame friedliche Zukunft und sie wird ganz Europa bereichern.

Niemand kann sich dann noch darauf berufen, bei schrecklichen „ethnischen Säuberungen“ die Vertreibung der Sudetendeutschen als akzeptiertes Modell kopiert zu haben, so wie es im zerbrochenen Jugoslawien geschah.

Nach wie vor gibt es Vertreibungs- und Entrechtungsgesetze, die bis zum heutigen Tage nicht erloschen sind. Diese Gesetze widersprechen den Menschenrechten, dem Völkerrecht und den Kriterien von Kopenhagen. Die Europäische Kommission hat in ihren Beitrittsberichten seinerzeit bewusst darüber hinweggesehen. Die damalige Bundesregierung hat dem leider nicht entgegengewirkt, sondern diese Haltung sogar noch gestützt. Das war mehr als fahrlässig, es war Vorsatz.

Wer Menschenrechte nur als wohlfeile Vokabel in Sonntagsreden verwendet und ihnen im konkreten Einzelfall dann, wenn es möglich ist, nicht zum Durchbruch verhilft, vergeht sich an den Menschenrechten.

Die Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft. Es schadet ihr in der Substanz, wenn menschenrechtsfeindliche Gesetze nach wie vor praktiziertes Recht sind. Das Versagen in dieser Frage lag zum überwiegenden Teil – das sage ich ausdrücklich – nicht bei den Beitrittsländern, sondern bei Deutschland und der Europäischen Kommission. Sie haben die Menschenrechte nicht mit dem nötigen Nachdruck eingefordert und dadurch den Eindruck vermittelt, dass alles in bester Ordnung sei. Ich bin überzeugt, dass sich alle Beitrittskandidaten damals bereitgefunden hätten, ihre menschenrechtswidrigen Gesetze zu ändern, wenn der Wille seitens Deutschlands und der EU vorhanden gewesen wäre.

Als ich am 3. Juli 2003 im Deutschen Bundestag auf diese Defizite hingewiesen habe, tobte der damalige deutsche Außenminister Joseph Fischer wie ein Prolet im Plenum und brüllte, das sei unerträglich. Nein, das ist nicht unerträglich, sondern es ist unser aller Pflicht Menschenrechtsdefizite anzusprechen, insbesondere vor dem Hintergrund unserer leidvollen Geschichte.

Manch einer aus Deutschland versuchte und versucht bis heute, Ängste der deutschen Nachbarländer zu mobilisieren. Leider gelang das in Polen sehr gründlich. Und es wird noch geraume Zeit brauchen, bis diese Schäden wieder behoben sind.

Aber in der Tschechischen Republik gab und gibt es genügend Intellektuelle, die sich dieser Zumutung widersetzen. Der tschechische Karlspreisträger Petr Uhl ist ein wunderbares Beispiel dafür. Aber auch die Jugendorganisation Antikomplex oder die tschechischen Initiatoren für das Kreuz der Versöhnung in Weckelsdorf, die mit dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2003 unserer Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN (ZgV) in der Frankfurter Paulskirche ausgezeichnet wurden, sind Beispiele dafür.

Das jüngste mutige Dokument der Anteilnahme an sudetendeutschen Schicksalen ist der Film „Töten auf tschechische Art“ des Regisseurs David Vondrácek.

Der tschechische Intellektuelle Bohumil Dolezal richtete im August 2003 eine Mahnung in Richtung Deutschland und an die Gegner unserer Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN, die da lautete:

„In der tschechischen Gesellschaft geht ein unspektakulärer, aber beharrlicher Kampf um eine gerechte Auffassung der Geschichte vor sich. Es ist bedauerlich, dass sich in diesem Kampf deutsche Politiker, Intellektuelle und Journalisten faktisch auf die Seite derer stellen, die die Geschichte verfälschen, die Verantwortung leugnen und die Freiheit unterdrücken wollen. Ich will überhaupt nicht bezweifeln, dass die Deutschen diesen Fehler in guter Absicht machen. Sie dürfen sich jedoch nicht wundern, wenn ihnen ein Tscheche zuruft: 'Wenn ihr doch wenigstens geschwiegen hättet.'"

Es ist gut, dass mutige Männer und Frauen aus unseren Nachbarländern das ZgV von Anbeginn unterstützt und verteidigt haben. Für Deutschland, für unsere Identität, aber auch für Europa ist es wichtig, das Flucht und Vertreibung jetzt einen festen Platz in Berlin gefunden haben. Ohne unsere Stiftung ZgV wäre das niemals gelungen. Und es ist dringend erforderlich, dass wir auch weiterhin treibende Kraft durch diese Stiftung und mit allen unseren Möglichkeiten bleiben. Dazu rufe ich alle auf!

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind für unsere Völker sehr eng miteinander verwoben. Europa endet – das wissen wir alle – nicht an Oder, Neiße oder  am Bayerischen Wald. Wir brauchen ein versöhntes Europa, in dem die vielen Völker friedvoll miteinander leben können, denn unsere europäischen Völker leben bewusst und unbewusst auf einem gemeinsamen kulturellen Fundament. Die deutschen Heimatvertriebenen haben den Willen dazu vor 60 Jahren in ihrer Charta von Stuttgart manifestiert. Dazu stehen wir bis heute.

Die Erinnerung an die nüchtern-kluge, ja weise Politik Kaiser Karl IV. kann Hilfestellung für unseren gemeinsamen europäischen Weg geben.

Herzlichen Dank für den Karlspreis, er ist etwas ganz Besonderes für mich.