Danksagung zur Verleihung der Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen am 29. November 2019 in Berlin

Bundespräsident a.D. Dr. h.c. Joachim Gauck

Es gilt das gesprochene Wort.

Herr Präsident,
Frau Staatssekretärin,
verehrte Damen und Herren des Vorstandes,
liebe Mitglieder der Gliederungen aus den einzelnen Bundesländern,

das ist ein schöner und ehrenvoller Tag für mich. Ich nehme diese Auszeichnung dankbar und gerne an. Ich freue mich darüber, dass Sie sich erinnert haben an das, was ich vor meiner Amtszeit als Präsident gedacht und gesagt habe – und auch daran, was ich als Präsident gesagt habe. Und darauf möchte ich mich als erstes beziehen.

Wenn ich Ihnen als Präsident zweimal in einer Rede besondere Aufmerksamkeit zugewendet habe, hat das natürlich seinen Grund. Beim zweiten Mal war das nicht mehr so selbstverständlich. Wenn ein Präsident einmal in seiner Amtszeit wichtige Anliegen einer gesellschaftlichen Gruppe würdigt, dann ist das normalerweise so das Maß.

Aber warum habe ich das getan, und Sie haben den Begriff des Erinnerungsschattens gewählt: Das hängt damit zusammen, dass politische Kultur auch starke Desiderate und Defizite aufweisen kann. Das hängt natürlich mit anderen Debatten zusammen. Und das Tragische ist nun, dass Fehler oder auch verständliche Emotionen der unmittelbaren Nachkriegszeit, als die Deutschen eben noch nicht bereit waren, über sich selbstkritisch nachzudenken und den eigenen Opferstatus – sei es als Ausgebombte oder eben Vertriebene – in den Mittelpunkt rückten: Das hat natürlich dann dazu geführt, dass eine andere Generation gesagt hat, also Euch werden wir mal das Maul stopfen und Euch werden wir mal ruhig stellen. Das ging dann so weit, dass praktisch die berechtigten Anliegen überhaupt nicht mehr in der breiteren Debatte vorkamen.

Das war dann für die Verbände natürlich eine schwierige Zeit. Und daraus ist auch manche Haltung entstanden, die dann – wie soll ich das mal sagen – von einem forcierten Eigensinn geprägt war. Ja, ich will jetzt andere Kampfbegriffe der Linken und Linksliberalen nicht verwenden. Aber das hängt damit zusammen: Nicht-Beachtung, Nicht-Würdigung, Nicht-Wahrnehmung ist eine Sache, die schwierig ist. Wir merken das jetzt zum Beispiel im Ost-West-Verhältnis. Viele der an und für sich anständigen Ossis – ich meine jetzt nicht die Diktatoren und ihre Helfer – sind allein deshalb in der offenen Gesellschaft befremdet, weil sie das Gefühl haben, sie werden nicht genügend wahrgenommen. Und in dieser Zeit des Mentalitätswandels in der alten Bundesrepublik – in der westlichen Republik –, als es zu einer linksliberalen Dominanz im politischen Denken gekommen ist, da sind natürlich dann auch viele Haltungen versteinert, auf beiden Seiten.

Darum war das so wichtig, dass die Verbände aus ihrer Erinnerungstradition – aus einer Tradition des Schmerzes und der Selbstvergewisserung der Bündnisse unter uns – herausgetreten sind und selber auch die Versöhnungsarbeit begleitet haben. Ich habe an anderer Stelle auch daran erinnert, dass, bevor die Verbände praktisch ihre Stoßrichtung verändert haben… – dass einzelne Mitglieder aus den Vertriebenenmilieus ganz früh Brücken gebaut haben. Und dass wir in der übrigen Gesellschaft das oft nur so mangelhaft würdigen. Klar, wenn es berühmte Leute sind – mir fällt da gerade Hans Koschnick ein –, dann hängt das mit dieser Berühmtheit dieser Leute zusammen, dass man deren Versöhnungsschritte dann auch würdigt. Aber wie viele, unendlich viele menschliche Begegnungen in den alten Heimatorten hat es gegeben, ohne dass darüber groß berichtet wurde. Oder die von Gemeinden ausgehen, wenn ich an die Begegnungen im tschechischen Raum etwa denke. Das sind ja alles unendlich kostbare Bewegungen hin zu mehr Verstehen, zu mehr Achtung voreinander, zu mehr Versöhnung.

Bei dem Begriff „Versöhnung“ ist mir manchmal nicht so wohl, weil der ist so oft verwendet worden und schon so abgegriffen, dass dieses einander Verstehen mir oft wichtiger ist. Vor der Versöhnung kommt nämlich das Wahrnehmen und das Verstehen. Ich bin ganz dankbar, dass Sie aus dem Schmerz herausgekommen sind – auch aus der Kränkung, die viele von Ihnen hatten wegen der Nicht-Wahrnehmung durch die Mehrheitsgesellschaft. Denn Kränkung ist verständlich, aber darin zu verharren verschließt uns Zukunft, verbaut uns Wege. Und ich bin gerade den Menschen besonders dankbar, die niemals sich durch Kränkung haben abhalten lassen, Wege des Kontaktes, der Versöhnung und so weiter herzustellen.

Wie schön, wenn wir auf der anderen Seite dann auch Ansprechpartner gefunden haben. Ich sehe gerade den Milan Horáček, den Typ kenne ich seit langem. Und solche Menschen dann zu gewinnen, die auch dann Brückenbauer sind zwischen den unterschiedlichen Milieus, das ist natürlich total kostbar. Das hatten wir natürlich auch nach Schlesien und in die anderen Bereiche. Und da müssen wir auch noch ein bisschen kämpfen.

Und kämpfen möchte ich auch noch weiter darum, dass wir als Deutsche irgendwie gegenüber den Vertriebenen noch Abbitte zu leisten haben. Das war diese billige Ausrede: Ja, die Vertreibung war nur die gerechte Strafe. Gut, wenn das einer aus Breslau oder Stettin sagen will, soll er es sagen. Aber dass die anderen – die Nicht-Vertriebenen – das sagen, das ist schon ein bisschen merkwürdig.

Man muss sich ja mal vorstellen, dass nicht nur im Osten ein Diktator gewütet hätte wie Stalin, auf dessen Politik ja diese ganzen Vertreibungen letztlich zurückgehen – jedenfalls ihre politische Durchsetzung. Sondern wir hätten auch in Frankreich Diktatoren gehabt, und ich möchte nicht wissen, wo die Grenze dann gewesen wäre. Jedenfalls, das Saarland wäre schon mal ganz gewiss nicht bei uns gelandet. Und wie weit sie gerne vorgedrungen wären an den Rhein, das muss man sich gelegentlich mal fragen. Emden, Lehr, vielleicht bis Bremen? Die Stettiner hätten früher auch gesagt: Stettin, nie! So ist es. Diese Gedanken machen sich die Menschen, die dort wohnen, aber gar nicht – im Westen. Sondern die finden das irgendwie eine Logik der Geschichte, dass es gekommen ist, wie es gekommen ist.

Aber Gott sei Dank hat keine deutsche Bundesregierung jemals gesagt, dass diese Vertreibungen gerecht wären. Dass wir auf Wiedergutmachung und Zurückkehr in die alten Heimaten verzichtet haben: Das ist eine unglaublich große, historisch seltene, kulturelle und reife Leistung der deutschen Nachkriegsbevölkerung. Da wir aber in einer Kultur der Beschämung waren, wofür es Gründe gab, brauchen wir auch eine Kultur der Selbstachtung. Und diese Kultur der Selbstachtung gewinnen wir auch, indem wir uns klarmachen, dass wir nicht nur zu Gedanken der Revanche fähig sind, sondern zu Gedanken einer großmütigen Versöhnung. Und wenn wir das zusammenbringen mit dem schon geschilderten Gedanken, dass wir niemals vergessen dürfen, wie eigentlich diese ganze Umwälzung der Nachkriegsgeschichte zustande kam – nämlich durch uns –, dann ist das schon ok.

Jetzt will ich noch etwas sagen: Wenn ich Sie damals gewürdigt habe als Bundespräsident, ist das etwas anderes – also für mich als Person nicht –, aber die Person ist in dem Fall, wenn sie Präsident aller Deutschen ist, schon etwas anderes. Sie sollen also bitte die Worte des Bundespräsidenten nehmen als eine Anerkennung und einen Dank für Ihr Wirken. Das Land sagte Ihnen über mich Danke und würdigte Sie über mich als Präsidenten. Das ist was anderes, als wenn ich jetzt spreche oder vorher sprach – als engagierter Mitbürger.

Ich erinnere Sie daran, dass mit mir diese Nation Ihnen gesagt hat: Sie sind auf dem richtigen Weg. Und Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete, haben viel zu tun unter Ihren Kolleginnen und Kollegen, dies in Erinnerung zu rufen, denn die Zeiten sind lange zurück, die Sie in Erinnerung haben. Aber wir brauchen im kollektiven Gedächtnis der deutschen Nation dieses Bewusstsein derer, die einst im Osten Deutschlands waren und die guten Traditionen der deutschen Kultur und auch der deutschen Politik repräsentieren. Da haben wir alle noch ein bisschen was zu tun.

Irgendwann wird es Teil eines guten kollektiven Gedächtnisses sein, dass die Menschen mit den Namen Breslau, Stettin und Königsberg wichtige Stationen der deutschen Kultur und der deutschen Geschichte verbinden. Aber von selbst passiert das nicht.

Insofern nehme ich diese Auszeichnung dankbar an und auch als Auftrag, das Thema nicht aus meinem Kopf und meinem Engagement herausfallen zu lassen. Ihnen alles Gute und herzlichen Dank.