Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident Prof. Lammert,
sehr geehrter Herr Bundesratspräsident Tillich,
sehr geehrter Herr Bundesminister des Innern Dr. de Maizière,
sehr geehrter Herr Erzbischof Dr. Zollitsch,
sehr geehrter Herr Hechyar,
meine Damen und Herren,
„Das Staatliche Komitee für Verteidigung der UdSSR verfügt: Alle arbeitsfähigen Deutschen im Alter von 17 bis 45 Jahren (Männer) bzw. von 18 bis 30 Jahren (Frauen), die sich in den von der Roten Armee befreiten Gebieten Rumäniens, Jugoslawiens, Ungarns, Bulgariens und der Tschechoslowakei befinden, sollen mobilisiert und interniert werden, um sie mit dem Ziel des Arbeitseinsatzes in die UdSSR zu deportieren. […]
Alle mobilisierten Deutschen sind zu Arbeiten zur Wiederinstandsetzung der Kohleindustrie im Donbass und der Schwarzmetallurgie des Südens zu schicken.“
So steht es in dem am 16. Dezember 1944 von Stalin gezeichneten, geheimen Befehl Nr. 7161. Allein unter diesen Beschluss, zwei Monate vor der Konferenz von Jalta, fielen rund 140.000 Personen. Auch mein Opa und weitere Familienmitglieder wurden auf Grund dieses Beschlusses für Jahre in Bergwerke im fernen Russland verschleppt und meinen Eltern war – wie vielen Kindern in der Zeit – eine elternlose Kindheit beschieden.
Geschätzt sind es nach Kriegsende insgesamt mehr als eine Million deutsche Zwangsarbeiter, die als menschliche Reparation missbraucht wurden. Viele von ihnen sind in den Arbeitslagern – manche schon auf dem langen, januarkalten Weg dahin – gestorben.
Deportation und Zwangsarbeit sind häufige und besonders perfide Begleiterscheinungen und oft Vorboten der ohnehin menschenverachtenden Vertreibung: Die dieses Unrecht charakterisierende existenzielle Ungewissheit beraubt den Menschen in all seinem Leid selbst jener kleinen Hoffnung auf einen friedlichen Zufluchtsort und eine selbst gewählte letzte Ruhestätte.
Zeitzeugen berichten, dass die fremde, tiefgefrorene russische und ukrainische Wintererde nur widerwillig die Leichname der zahllosen Toten aufnehmen wollte. (…)
Von den Menschen, die Deportation und Zwangsarbeit überlebten, haben sich viele ein Leben lang physisch und psychisch nicht oder nicht vollständig erholt. Ihr Schicksal wurde als allgemeines Kriegsfolgenschicksal verharmlost, obwohl es um Zivilbevölkerung und um Nachkriegszeit ging. Es mag bequem gewesen sein, kollektiv in Täter und Opfer zu unterscheiden und die Individualität von Schuld und Unschuld empathielos auszublenden…
Mit dem Entschluss des Deutschen Bundestages Ende letzten Jahres zur Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter ist diese Gerechtigkeitslücke nun geschlossen. Dafür möchte ich mich bei allen hier anwesenden Beteiligten – Ihnen, Herr Prof. Lammert, Herr Minister de Maizière, Herr Koschyk, meine Damen und Herren Bundestagsabgeordnete, ganz besonders auch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel – im Namen aller Betroffenen bedanken.
Ich erinnere an Flucht und Vertreibung der deutschen Zivilgesellschaft aus Ost- und Westpreußen, aus Schlesien, Pommern, Ostbrandenburg, Danzig und dem Baltikum, aus dem Sudetenland, dem Karpaten- und dem Donauraum sowie aus den deutsch besiedelten Gebieten Russlands und der Ukraine. Es muss auch in Deutschland – wie andernorts - eine Selbstverständlichkeit sein, seiner eigenen zivilen Vertreibungsopfer zu gedenken.
Sie wurden vertrieben und mussten leiden, weil sie ihre Identität nicht leugnen wollten, es gar nicht konnten.
Auch darum hat der Bund der Vertriebenen das Jahr 2016 unter das Leitwort „Identität schützen – Menschenrechte achten“ gestellt. Das Vernichten der Identität eines Menschen ist stiller seelischer Mord. Wie viele Identitäten wurden – und werden auch heute immer noch – gebrochen, weil sie anderen Mitmenschen ethnisch, religiös oder aus anderen Gründen einfach nicht passen! Das gilt für die Flüchtlinge von heute wie für die deutschen Heimatvertriebenen vor 70 Jahren.
Selbstbestimmte Identität ist ein Natur- und ein Menschenrecht. Darüber darf nichts stehen. Niemand, kein Staat, keine Macht ist berechtigt, sie zu brechen.
Wir wollen niemals vergessen, dass Identität und Menschenrechte nicht verhandelbare Werte und unteilbar sind; dass jede Vertreibung, jede ethnische Säuberung, egal wo, egal wann, egal durch wen, und egal wonach immer ein Verbrechen ist.
Wir erinnern daher mit Empathie daran, dass nach dem zweiten Weltkrieg bis zu 15 Millionen Deutsche ihre Heimat im Osten verloren und dass weit über 2 Millionen Menschen diese Flucht und Vertreibung nicht überlebt haben! Wir wollen auch ihres schweren Schicksals gedenken, und dafür benötigen wir keinerlei Rechtfertigung.
Wir wollen dankbar sein, heute hier in Frieden und Freiheit leben zu können.