Grußwort zur Jahrestagung des Konvent der ehemaligen evangelischen Ostkirchen am 27. April 2023

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, lieber Herr Herche, 
sehr geehrter Herr Klassohn,  
sehr geehrte Damen und Herren, 

ich danke herzlich für die Einladung nach Hannover. Sie schreiben völlig zu Recht, dass es wichtig ist, durch Tagungen wie diese gegen das Vergessen anzutreten – ganz allgemein, was die Vertriebenen angeht, und ganz speziell, was diesen Teil der deutschen Kirchengeschichte nach 1945 angeht, der von den Hilfskomitees im Rahmen des Hilfswerks unter dem Dach der EKD gestaltet wurde. 

Ich freue mich daher ganz besonders, zu Gast bei der Jahrestagung des Konvents zu sein. Meine Zeit in Ihrem Kreis möchte ich sehr gerne auch zum Austausch mit Ihnen nutzen, weil wir gemeinsame Themen haben! 

Sie werden heute mit Impulsen und Referaten wiederholt gute Einstiege für einen Gedankenaustausch haben. Der Blick zurück, auf das bisherige Wirken, wird dabei einerseits ein Zwischenfazit sein, andererseits aber auch der Auftakt für den Blick nach vorn. 

Eine Bewertung und historische Einordnung der bisherigen Vertriebenen- und Osteuropaarbeit des Konvents und seiner Mitglieder muss sich sowohl an den Aufgaben messen lassen, die aus dem eigenen Selbstverständnis heraus erfüllt werden, als auch daran, wie man von außen gesehen wird. Und auch daran, was man neben der Erfüllung der Aufgaben für die eigene Zielgruppe zusätzlich – manchmal gar nur nebenbei – zum Beispiel in den ehemaligen Heimatgebieten den Vertreibungsländern, je nach Blickwinkel, angestoßen und bewirkt hat. 

Ich erinnere mich daran, was der spätere Bundespräsident Joachim Gauck vor vielen Jahren einmal gesagt hat: „Kein Land hat wie Deutschland über zwei Generationen intensiv über die eigene Schuld an Unrecht und Mord debattiert wie die Deutschen.“ Und dann sagte er weiter: „Ich sehe (…) bei unseren Nachbarn nicht ansatzweise eine solche Beschäftigung mit den Problemen der Vergangenheit wie in Deutschland.“ Das war keine Schuldzuweisung, sondern sachliche Darstellung. 

Später dann – er war da bereits Bundespräsident – griff er das Thema wieder auf. Ich zitiere: „(…) unsere Haltung zum Leid der Deutschen war und blieb verknüpft mit unserer Haltung gegenüber der Schuld der Deutschen. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis wir – wieder – an das Leid der Deutschen erinnern konnten, weil wir die Schuld der Deutschen nicht länger ausblendeten.“ Später sprach Gauck vom „Schatten der Erinnerung“. 

Obwohl selbst Geistlicher, hatten seine Worte zu jedem Zeitpunkt einen allgemeingültigen Anspruch, der den theologischen Deutungsansatz daher nicht in den Vordergrund stellte – aber zumindest den Raum boten, ihn ebenfalls darunter zu fassen. 

Es war eben nicht das „Gericht Gottes“, das sich über unsere Landsleute in Schlesien oder Pommern, in Mähren oder Siebenbürgen entlud. Wieso hätte es auch etwa meinen Opa treffen sollen, der sich nichts zuschulden hat kommen lassen!? Nein, es war das „Pech“ der im Osten liegenden Heimat, gepaart mit dem dammbruchartigen Unrecht, das neue Machthaber erst willkürlich, dann systematisch geplant über die Menschen brachten. Ein Unrecht wurde mit einem anderen vergolten. 

Wir wissen heute, dass es der Mehrheit der traumatisierten Flüchtlinge und Vertriebenen in den Anfangsjahren nach dem Krieg geholfen hat, ihr Schicksal als Fügung und Führung Gottes anzunehmen. Bis in die 60er Jahre, als ein Umdenken und Neubewerten auch in der Kirche begann, war es der beherrschende theologische Deutungsstrang, Vertreibung und damit verbundenen Heimatverlust in Verbindung mit dem Gericht Gottes zu bringen. 

Lassen Sie uns davon ausgehen, dass jeder Vertriebene bei den wenigen Sachen, die er mitnehmen konnte, im Fluchtgepäck ein Gebetbuch und eine Bibel mitführte. Man schöpfte Kraft aus dem Glauben und vertraute der Geistlichkeit, die vom gleichen Schicksal heimgesucht war. 

Wenn ich das aus persönlicher Erfahrung sagen darf: Wer benachteiligt, wer unterdrückt wird – und schon immer oder ganz plötzlich als Fremdkörper im eigenen Heimatland gilt – der sucht Beistand und Trost beim Pfarrer. Kirche gibt Heimat und Kirche ist Heimat! 

Und ja, es ist richtig, dass wir daran glauben, dass Gott auch aus Bösem Gutes schaffen kann. Aber glauben können nur noch diejenigen, die das Böse überlebt haben. (…) 

Für die Überlebenden gehörte ein gerütteltes Maß über-menschlicher Vorstellungskraft dazu, angesichts von auf der Flucht erfrorenen Kindern oder vergewaltigten und hinterrücks erschossenen Frauen selbst den Folgen des Vertreibungsgeschehens positive Aspekte abgewinnen zu wollen. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 

darum ist der Blick in die Geschichte nur die Vorbereitung auf den Blick nach vorn. Es ist bis heute sehnlicher Wunsch der Vertriebenen und Flüchtlinge, aber zunehmend auch deren Nachkommen sowie der Aussiedler und Spätaussiedler, einen Gedenkort für das eigene – persönliche wie auch kollektive – Leid zu finden; einen Gedenkort der über ein Mahnmal oder ein Museum hinausgeht. 

Kann der Glaube, die Kirche, kann die theologische Deutung der Vertreibung, das Wirken der Hilfskomitees diesen „Ort“ in angemessener Weise schaffen? Das Bekenntnis der Spandauer Synode der EKD von 1966, dass die Vertreibung unser ganzes Volk angeht, wird – auch kirchengeschichtlich betrachtet – zu der Erkenntnis geführt haben, Vertreibungen unserer Landsleute als einen der Schicksalsstränge gesamtdeutscher Geschichte zu verstehen. 

Diese Position hat der BdV schon immer vertreten! 

In gebotener Kürze möchte ich nun gern den Blick auf den Bund der Vertriebenen richten, dem ich seit 2014 als Präsident vorstehen darf. 

Der BdV ist der repräsentative Dachverband der Selbstorganisationen aller deutschen Vertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler in Deutschland. Wir vereinen damit eine Schicksalsgemeinschaft, die mit den Betroffenen und deren Nachkommen ein Viertel bis zu einem Drittel aller Deutschen umfasst. Wir nehmen auf Grund unserer Organisationsstruktur für uns in Anspruch, für alle Vertriebenen, Aussiedler, Spätaussiedler und deren nachgeborene Generationen zu sprechen und ihre Interessen zu vertreten. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 

wir stehen für einen verständigungspolitischen Dialog mit unseren Nachbarn im Osten. Wir stehen für kulturpolitische Kontinuität in der Erhaltung des gesamtdeutschen kulturellen Erbes. Und wir stehen für erinnerungspolitische Wahrhaftigkeit auf der Basis von Menschen- und Völkerrechten. Dies sind die Pfeiler unseres Selbstverständnisses, die unserer Satzung zugrunde liegen. 

Schon vor mehr als sieben Jahrzehnten haben wir mit unserer Charta der deutschen Heimatvertriebenen den Teufelskreis aus Rache und Vergeltung durchbrochen und das geeinte Europa als Ziel ausgerufen. Wir haben die Bedeutung von Heimat betont; und seitdem immer wieder dazu aufgerufen, Vertreibungen weltweit zu ächten – und möglichst strafbewehrt zu verbieten. 

Wir vertreten eine geschichtsbewusste Sicht auf die Zukunft und verstehen uns als „Arbeiter der Verständigung“ mit unseren östlichen Nachbarn. Auf der Grundlage unseres Einsatzes für Europa entstanden hunderttausendfache persönliche, freundschaftliche Kontakte zu den Menschen, die heute in den ehemals deutschen oder deutsch besiedelten Gebieten leben – allesamt Bausteine einer Völkerverständigung, die wichtiger ist denn je! 

Trotzdem, oder besser: gerade deshalb, machen uns immer wieder aufflammende antideutsche Tendenzen – beispielsweise in Polen, wenn ich an die gezielte staatliche Diskriminierung denke – dann Sorgen, wenn es an die Belange der Vertriebenen rührt. Da ist es aus unserer Sicht auch notwendig, von deutscher Seite – seien es die Politik, die Gesellschaft, die Kirchen – die Notwendigkeiten und die Grenzen der Partnerschaft zu benennen, wenn diese einseitig wird. 

Ein aktuelles Beispiel ist auch die Diskussion um den Danziger Paramentenschatz. Aus Sicht des BdV ist diese Diskussion bei weitem nicht beendet, sondern wäre unter Einbeziehung der Westpreußischen Gesellschaft oder des Bundes der Danziger noch zu führen. Eine Schenkung nach Danzig, die mittels eines vorliegenden „Letter of Intent“ über die Köpfe der ehemaligen Kirchengemeinde sowie deren Nachkommen vorgenommen werden soll, erzeugt bei all jenen einen faden Beigeschmack, die wissen, unter welchen Umständen die Paramente nach Lübeck gelangt sind.  

Der vermittelte Eindruck, dass es sich um eine Restitution im Sinne eines flüchtigen Zeitgeistes handeln könnte, trägt bei den Vertriebenen nicht zur Beruhigung der Gemüter und schon gar nicht zu mehr Verständnis für die diesbezügliche Position der Entscheidungsträger bei. 

Die Diskussion kann und soll nicht an dieser Stelle zu führen sein. Ich gebe aber zu bedenken, dass die pastorale Verantwortung gegenüber den heimatvertriebenen Christen auch deren Missmut und deren Gefühl, eines Schatzes beraubt zu werden, umfassen sollte.  

Sich darüber hinwegzusetzen, und sei es unter der Prämisse ökumenisch legitimierten Handelns, passt nicht so recht zusammen mit der seinerzeit notwendigen Rettung vor möglichen Plünderern. Wir wissen verbürgt, dass die deutschen Flüchtlinge zum Teil unter Lebensgefahr Einzelstücke des Paramentenschatzes auf ihrer Flucht in den Westen gehütet und behütet haben. 

Hier wünschte ich mir einen Dialog zwischen Politik, Kirche und den Vertretern der Landsmannschaft – und vor allem die Einsicht bei den beiden Erstgenannten, dass Entscheidungen immer dann gut sind, wenn sie mit den Betroffenen gefasst werden. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 

es ist mir wichtig zu betonen, dass ein bereits viele Jahrzehnte währender Dialog auf nahezu sämtlichen Ebenen die deutschen Heimatvertriebenen und Spätaussiedler sowie ihre Verbände und Einrichtungen mit der Evangelischen Kirche in Deutschland verbindet. 

Zu manchen Zeiten war dieser Dialog „sehr lebendig“. Aufarbeitungs- und Beheimatungsprozesse als wichtige seelsorgerische Fragen standen lange im Fokus eines gemeinsamen Interesses. Vielerorts haben Vertriebene und Aussiedler Gemeinden belebt oder sogar neu gegründet und bringen sich bis heute auch mit ihren Anliegen in die Arbeit der Kirche ein. 

Es freut mich, mit Kirchenpräsident i.R. Helge Klassohn dem letzten Amtsinhaber für die Seelsorge der durch den BdV vertretenen Menschen heute hier persönlich Dank sagen zu können. Sie, sehr geehrter Herr Kirchenpräsident Klassohn, haben bis zu ihrer Pensionierung sehr segensreich gewirkt und sind dafür von uns mit unserer höchsten Auszeichnung, der Ehrenplakette des BdV, ausgezeichnet worden. Ihr Amt war ein notwendiges, weil es die Betreuung aller Fragen und Anliegen der Vertriebenen innerhalb der EKD in einem eigenen Beauftragten bündelte. 

Immer wieder ist seither aus den Reihen der Vertriebenen und Spätaussiedler an uns der Wunsch herangetragen worden, die EKD zu bitten, einen solchen Beauftragten wieder zu benennen. Die vergangenen und aktuellen Wechsel unseres Ansprechpartners im Personaltableau des Kirchenamtes tragen nämlich durchaus die Gefahr in sich, die notwendige Verbindung, die Nähe zwischen realer, geistiger und geistlicher Heimat noch weiter zu erschweren. 

Vielleicht gelingt es dem Konvent der ehemaligen evangelischen Ostkirchen, der durch seine Hilfskomitees sowohl nah bei den Vertriebenen als auch bei der Diaspora in den Heimatgebieten ist, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten gegen die bedauerliche und zunehmende Entfernung zwischen Kirche und Vertriebenen zu stemmen. 

Alle Hilfskomitees pflegen und fördern die Gemeinschaft zwischen den evangelischen Christen aus Ost und West. Die EKD erkennt zu Recht an, dass die kirchlichen Vertriebenenorganisationen einen großen Anteil an der Verständigungsarbeit in und mit Osteuropa haben. Dafür möchte ich Ihnen im Namen des Bundes der Vertriebenen danken. 

Ich wünsche eine gute Jahrestagung und bekräftige erneut meinen Dank für die Einladung nach Hannover.