Es gilt das gesprochene Wort.
Meine Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Bundespräsident,
wir wollen gedanklich gemeinsam zu einem Zeitpunkt einsteigen, der 20 Jahre in der Vergangenheit liegt: 1999 – die Debatte um eine Vertriebenen-Gedenkstätte in Berlin nimmt Fahrt auf. Schrille Töne aus Polen und Tschechien. In Deutschland sahen viele das Dogma in Gefahr, welches darauf gründet, dass Deutsche niemals Opfer, sondern immer nur Täter sein können. Man solle die Ursachen der Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg bloß nicht verwischen, das sei „Geschichtsklitterung“. Aus Polen empfiehlt man, anstatt Berlin doch den Balkan zu wählen, das sei ein guter Standort zur Erinnerung an alle europäischen Vertriebenen.
Die Geschichte der deutschen Heimatvertriebenen, das Leid, das wir erdulden mussten, sollte weiter marginalisiert werden. Als Aufgabe schien für uns – wenn wir überhaupt eine Rolle spielen sollten – höchstens jene des Sündenbocks angemessen. Es war damals eine unruhige, zutiefst kränkende Zeit für den Bund der Vertriebenen.
Wie wohltuend und versachlichend wirkte Ihre Wortmeldung, lieber Herr Gauck, als Sie Anfang der 2000er-Jahre Ihre Unterstützung für unser „Zentrum gegen Vertreibungen“ öffentlich bekundeten.
Wir erinnern uns: Das politische Berlin jener Zeit hatte den Weg zu einer konkreten Vertriebenen-Gedenkstätte noch nicht gefunden. Das etwas später zunächst nebulös als Kompromissvorschlag formulierte „Sichtbare Zeichen“ konnte – seien wir ehrlich – alles oder gar nichts bedeuten. Die deutschen Vertriebenen wiederum wollten in dieser Situation zeigen, dass sie eine solche Gedenkstätte notfalls auch allein aufbauen könnten. Ich wiederhole: notfalls, denn staatliches Gedenken – vom Staat für alle Bürger – war natürlich von Beginn an unser Ziel. Wir gewannen damals einen guten finanziellen Grundstock für die Arbeit des Zentrums gegen Vertreibungen – und prominente Mitstreiter. Darunter auch Sie.
Ich erinnere mich persönlich daran, wie tief mich Ihre wohlgesetzten Worte damals beeindruckt haben – und habe den Wortlaut nachgeschlagen. Sie sagten damals: „Kein Land hat wie Deutschland über zwei Generationen intensiv über die eigene Schuld an Unrecht und Mord debattiert wie die Deutschen.“ Und ich zitiere weiter: „Ich sehe auch bei unseren Nachbarn nicht ansatzweise eine solche Beschäftigung mit den Problemen der Vergangenheit wie in Deutschland.“
Damit definierten Sie, lieber Herr Bundespräsident, ein Fundament der Legitimität für den sehnlichen Wunsch der Vertriebenen und Flüchtlinge, der Aussiedler und Spätaussiedler nach einem Gedenkort für das eigene – persönliche wie auch kollektive – Leid, das neben vielen anderen einen der Schicksalsstränge gesamtdeutscher Geschichte darstellt.
Für Sie war Berlin der richtige Ort, „(…) ein Ort des Lernens und Gedenkens für die ganze Nation, nicht nur für Vertriebene und ihre Familien“. Besser hätte man die „hysterischen Züge“ der Debatte, wie Sie zu Recht in einer TV-Diskussionsrunde anmerkten, nicht wieder auf eine sachliche Ebene bringen können.
Ihr Wort hatte bereits Gewicht in der bundesdeutschen Gesellschaft – ein Gewicht, welches Sie sich als Bürgerrechtler und erster Leiter der im Volksmund nach Ihnen benannten Stasi-Unterlagenbehörde erarbeitet hatten. Ein Gewicht, welches Sie nun für die Anliegen der Vertriebenen in die Waagschale zu werfen bereit waren!
Die Annäherung an unsere östlichen Nachbarn war Ihnen immer ein Grundbedürfnis – so, wie auch unser Verband eine Politik der ausgestreckten Hand verfolgt. Dass man sich unter befreundeten Nachbarn auch einmal die Meinung sagen darf, sollte selbstverständlich sein. Der Bund der Vertriebenen steht diesbezüglich seit Anbeginn unter verschärfter Beobachtung aus Polen und Tschechien – darum wählen wir unsere Worte sehr diplomatisch. Umso mehr haben wir es Ihnen gedankt, dass Sie in diversen öffentlichen Wortmeldungen Revanchismusvorwürfe oder gar Unterstellungen hinsichtlich möglicher Gebietsrückforderungen immer wieder als grotesk und als absurd zurückgewiesen haben; und dabei nicht zurückschreckten, auch mal die polnischen Medien darauf hinzuweisen, welche unrühmliche Rolle diese selbst mitunter in der Meinungsbildung spielen.
Ich erinnere an ein Interview mit der Deutschen Welle, wo Sie angesichts der tendenziösen Fragestellungen die Vertriebenenverbände bedingungslos in Schutz genommen haben. Ich erinnere an die Eröffnung der Ausstellung „Erzwungene Wege“ im Berliner Kronprinzenpalais im Jahr 2006, die sich übrigens als erfolgreiche Nagelprobe für die Konzeption weiterer Ausstellungen des Zentrums gegen Vertreibungen darstellen sollte, wo Sie aus tiefster Überzeugung alle Vorwürfe, die Vertriebenen führten Geschichtsrevisionismus im Schilde, abwehrten. Sie gingen noch weiter und forderten einen anerkannten geschützten Raum zur Erinnerung an das Verlorene.
Sehr geehrter Herr Gauck, der Bund der Vertriebenen wusste Sie sowohl dann an seiner Seite, wenn ein klarstellendes Wort vonnöten war, als auch dann, wenn es um moralische Unterstützung ging. Sie wussten, dass jeder Vertriebene bei den wenigen Sachen, die er in seinem Fluchtgepäck mitnehmen konnte, ein Gebetbuch und eine Bibel mittrug. Sie, lieber Herr Gauck, stehen den Vertriebenen und Spätaussiedlern als Theologe und als Mensch, der Kraft aus der Geistlichkeit schöpft, vom Wesen her nah.
Wenn ich das aus persönlicher Erfahrung sagen darf: Wer benachteiligt wird, wer unterdrückt und schon immer oder ganz plötzlich als Fremdkörper im eigenen Heimatland gilt – der sucht Beistand und Trost, auch beim Pfarrer. Ich bin sicher, dass Sie wissen, wovon ich spreche; und dass Sie das bestätigen können. Politische Systeme können so unerbittlich und grausam sein zu Menschen.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Sie waren es, der anlässlich des Festakts zum ersten Nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2015 durch den Tenor Ihrer Festrede den Rahmen dieses nationalen Gedenktags definiert und die Selbstverpflichtung Deutschlands, der Opfer aus unseren Reihen zu gedenken, verankert haben.
Sie zitierten damals den britisch-jüdischen Humanisten Sir Victor Gollancz mit dessen Worten: „Sofern das Gewissen der Menschheit jemals wieder empfindlich werden sollte, wird diese Vertreibung als die unsterbliche Schande all derer im Gedächtnis bleiben, die sie veranlasst oder die sich damit abgefunden haben.“ Damit rührten Sie bereits an dem latenten Unbehagen, das viele Menschen – sowohl in Deutschland, aber auch in den Vertreiberstaaten – in sich verspüren; weil die Menschen wissen, dass die ignorante, grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber diesem Kapitel der deutschen Geschichte sie selbst beschämt.
Mit der für Sie kennzeichnenden Ehrlichkeit nannten Sie als Bundespräsident, stellvertretend für das deutsche Volk, das Unrecht beim Namen. Ich möchte Ihre Worte wiederholen: „(…) unsere Haltung zum Leid der Deutschen war und blieb verknüpft mit unserer Haltung gegenüber der Schuld der Deutschen. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis wir – wieder – an das Leid der Deutschen erinnern konnten, weil wir die Schuld der Deutschen nicht länger ausblendeten.“
Sie haben von „Scham“ gesprochen, die Sie empfinden, wenn Sie an die 50er-Jahre zu Hause im Mecklenburgischen zurückdenken: „Umso unverständlicher“, so führten Sie aus, „warum ich dann, warum wir Einheimischen später so bereitwillig verdrängten, dass andere, die Vertriebenen, so unendlich mehr bezahlt hatten für den gewaltsamen, grausamen Krieg als wir. Warum wir, die wir unsere Heimat behalten hatten, aufzurechnen begannen und eigene Bombardierungen und Tote anführten, um uns gegen die Trauer der anderen, der zu uns Kommenden, zu immunisieren. Mit politischen Thesen blockierten wir die uns mögliche Empathie.“
Welch Gänsehautformulierung! Es gehört viel dazu, ein solches Bekenntnis für das Schicksal der Vertriebenen abzulegen. Es gehört noch mehr dazu, damit auch zur Gesellschaft durchzudringen. Vielleicht kann das tatsächlich nur ein Bundespräsident tun. Sie haben es getan.
Ein Jahr später, 2016, waren Sie zu unserer allergrößten Freude Ehrengast und Hauptredner bei der großen Auftaktveranstaltung zum Tag der Heimat in Berlin, wo Sie erneut ein solches Bekenntnis ablegten. In bewundernswert konsequenter Haltung prägten Sie mit dem Begriff „Erinnerungsschatten“ eine vortreffliche Metapher für die Situation der Vertriebenen, die die letzten fünf Jahrzehnte psychologisch und gesellschaftlich zutreffend beschreibt. Sie begrüßten es – ich zitiere – „außerordentlich, dass die Politik nun hilft, das Schicksal dieser Menschen aus dem Erinnerungsschatten zu holen. Und ich danke allen, nicht zuletzt dem Bund der Vertriebenen, die sich dafür eingesetzt haben!“
Sehr geehrter Herr Gauck, auch wir haben zu danken: für das fortwährende Bekenntnis zu unserem Schicksal und unseren Anliegen. Unsere Dankbarkeit bringen wir Ihnen – auch – durch die heutige Auszeichnung entgegen. Ich möchte Ihnen nun die höchste Auszeichnung unseres Verbands, die Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen, überreichen.