Rede BdV-Präsidentin Erika Steinbach MdB als menschenrechtspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestages am 20. April 2010 in Helsinki

Am 20. April 2010 wird BdV-Präsidentin Erika Steinbach MdB als menschenrechtspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag in Helsinki an einer Festveranstaltung zum 70. Jahrestag der Gründung des Karelischen Bundes teilnehmen und einen Vortrag zum Thema „Durch Wahrheit zum Miteinander“ halten. Die Festrede wird die finnische Staatspräsidentin  Tarja Halonen halten. Im Anschluss an die Festveranstaltung wird die Stadt Helsinki im Rathaus einen Empfang geben.

Der Karelische Bund wurde am 20. April 1940 im Anschluss an den Winterkrieg gegründet. In ihm haben sich Opfer von Flucht und Vertreibung aus dem ehemals finnischen Karelien zusammengefunden.

Am 30.11.1939 überfielen sowjetische Truppen Finnland. Die Sowjets betrachteten Finnland wie die baltischen Staaten als ihren Interessenbereich, wie es im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes vom August 1939 fixiert worden war. Nach dem Ende des so genannten Winterkrieges im März 1940 fielen große Teile im Osten, darunter Finnisch-Karelien, und im Norden Finnlands an die UdSSR. Bereits mit Ausbruch des Krieges hatten Evakuierungen begonnen. Insgesamt wurden etwa 420.000 Menschen aus den umkämpften Gebieten in die westlicheren Landesteile evakuiert, davon 407.000 Karelier. Die Mehrheit von ihnen kehrte zurück, als die finnische Armee 1941 die verlorenen Gebiete zurückerobern konnte. Ein Großangriff der Roten Armee im Sommer 1944 leitete den Rückzug der finnischen Armee aus den wiedereroberten Gebieten ein. Die Menschen verloren erneut ihre Heimat. Finnland schloss mit der Sowjetunion einen Waffenstillstand. Am 10.2.1947 unterzeichnete Finnland den Pariser Friedensvertrag, in dem der Grenzverlauf zwischen Finnland und der Sowjetunion bestätigt wurde. Annähernd die gesamte finnisch-karelische Bevölkerung hatte ihre Heimat verloren. Ansiedlung und Entschädigung der so genannten „Umsiedlerkarelier“ stellten die finnische Gesellschaft vor eine große Herausforderung, die jedoch in kurzer Zeit gemeistert wurde.

Das finnische Modell einer Lastenverteilung auf Einheimische und Flüchtlinge diente auch als Vorbild für die Lastenausgleichsgesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland.

Anrede,

Geburtstags- und Jubiläumsfeiern sind in der Regel fröhliche Feste. Und 70 Geburtstage allemal.

Für einen Opferverband wie den „Karelischen Bund“ trifft das naturgemäß nur sehr eingeschränkt zu. Der heutige Tag ist für Sie sicherlich eine Symbiose vieler Gefühle. Schmerz und Trauer der noch lebenden Zeitzeugen über die verlorene Heimat und das schwere Schicksal, Neugierde der Nachgeborenen über Karelien und das Gefühl, inzwischen wieder Grundlagen für die Existenz zu haben, vermischen sich.
All diese Gefühle kenne ich als Präsidentin des Bundes der Vertriebenen nur zu gut.

Die Karelier und die vertriebenen Deutschen sind Schicksalsgefährten. Mein Anliegen ist es, Anteil zu nehmen am Leid auch anderer Völker. Nicht die Absonderung bringt weiter, sondern die Offenheit für Schicksalsgefährten. Deshalb habe ich Ihre Einladung zum 70. Gründungstag des „Karelischen Bundes“ sehr gerne angenommen – sowohl als menschenrechtspolitische Sprecherin der Christlichen Demokraten im Deutschen Bundestag und auch als Präsidentin des Bundes der Vertriebenen.

Das Schicksal der Karelier und der deutschen Vertriebenen ist in mancher Hinsicht sehr ähnlich. Beide traf ihr Schicksal infolge verlorener Kriege. Wir wissen um die Evakuierung, Flucht und Verdrängung der über 400.000 Menschen, die infolge des sowjetischen Angriffs und der folgenden Annexion karelischer Gebiete unfreiwillig ihre Heimat verlassen mußten, 1941 zum Teil zurückkehrten und dann 1944 abermals vor den Sowjets flüchten mußten. Am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den folgenden Jahren fanden insgesamt über 12. Mio. Deutsche aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und aus den Ländern ganz Ostmittel- und Südosteuropas in den westlichen Teilen Deutschlands Aufnahme.

Heimat waren neben dem früheren Ostdeutschland, aus dem zwei Drittel der Vertrieben stammten und das heute zu Polen, Rußland und Litauen gehört, Polen Rumänien, Ungarn, die böhmischen Länder, die Slowakei, Ungarn, das frühere Jugoslawien und die ehemalige Sowjetunion. Alles Länder, die dem kommunistischen Joch unterlagen. Die Deutschen, die in Belgien, Dänemark oder im französischen Elsaß lebten, wurden nicht vertrieben.

1950 wurden in Westdeutschland, in der Bundesrepublik Deutschland 8 Mio., in der Sowjetischen Besatzungszone, der DDR also, rd. 4. Mio. Vertriebene und Flüchtlinge gezählt; Mithin war in Westdeutschland jeder fünfte, in der DDR jeder vierte Einwohner Flüchtling oder Vertriebener. Viele Vertriebene, die nach der Vertreibung in der SBZ/DDR sesshaft geworden waren, sind in den Folgejahren - solange es bis zum Bau der Berliner Mauer und der Absperrung der innerdeutschen Grenze 1961 noch gefahrlos möglich war- nach Westdeutschland weitergeflüchtet.

Die Strapazen und die Folgen von Flucht und Vertreibung waren ein Trauma für die Deutschen aus dem Osten. Betroffen waren meistens Kinder, Frauen, alte Menschen. Die wehrfähige Bevölkerung war im Krieg, längst gefallen oder befand sich in Kriegsgefangenschaft. In einem sowjetischen Feldpostbrief, der im Bundesarchiv in Koblenz nachgelesen werden kann, heißt es über die Lage in den Vertreibungsgebieten: „Von den Deutschen sind nur (noch) Greise und Kinder da, junge Frauen sehr wenig. Doch werden auch diese totgeschlagen.“ Über 2 Mio. hatten die Wirren des Kriegsendes, die Ausschreitungen des sowjetischen Militärs oder der polnischen und tschechischen Milizen nicht überlebt. Auch nach Ankunft in Westdeutschland starben noch viele an den Folgen des Hungers, aus Erschöpfung, an Mangelerkrankungen – und es gab auch viele Selbstmorde noch vor dem Einmarsch der Roten Armee und auch danach.
Die Vertriebenen kamen nicht in wohlgeordnete Aufnahmegebiete, sondern in ein von Krieg und Bomben weithin verwüstetes Rest-Deutschland, dessen Bevölkerung selber Not und Hunger litt.

Nach der provisorischen Aufnahme – zumeist in Lagern, von denen die letzten erst gegen Ende der 60er Jahre aufgelöst wurden, war der erste Wunsch natürlich Angehörige, Freunde und Nachbarn wiederzufinden. Die Familien- und Ortsgemeinschaften waren auseinandergerissen worden. Unmittelbar nach Kriegsende wurden von den großen Konfessionen und dem Deutschen Roten Kreuz Suchdienste eingerichtet, die unermessliches Verdienst bei der oft raschen Familienzusammenführung leisteten.

Trotzdem blieben bis heute zehntausende von Suchanfragen von Hinterbliebenen nach Vermissten – und sei es nur die Bestätigung des Todes - erfolglos. „Als ungeklärte Fälle“ stehen sie immer noch in den akribisch geführten Statistiken mit über 20. Mio. erfassten Menschen.

Es waren auch kirchliche Einrichtungen, die am Anfang der familienübergreifenden Gruppenbildung standen. Bis Anfang 1949 bestand in den westlichen Besatzungszonen – in der SBZ/DDR sowieso bis 1989/90 – ein Koalitionsverbot. Die Gründung von Organisationen der Vertriebenen sollte rigoros unterbunden werden, um „revisionistischen“ politischen Tendenzen zuvorzukommen. So halfen die Kirchen bei der Gründung von „Notgemeinschaften“.

Diese kirchliche Nothilfe beider Kirchen hatte auch den allerhöchsten Segen. So schrieb Papst Pius XII an die deutschen Bischöfe am 1.3.1948 folgendes: „Besondere Berücksichtigung werden immer die Ostflüchtlinge verdienen, die aus ihrer Heimat im Osten zwangsweise und unter entschädigungsloser Enteignung ausgewiesen und in die deutschen Zonengebiete überführt wurden. Wenn wir auf sie zu sprechen kommen, so beschäftigt uns hier nicht so sehr der rechtliche, wirtschaftliche und politische Gesichtspunkt jenes in der Vergangenheit Europas beispiellosen Vorgehens. Über diese Gesichtspunkte wird die Geschichte urteilen. Wir fürchten freilich, daß ihr Urteil streng ausfallen wird. Wir glauben zu wissen, was sich während der Kriegsjahre in den weiten Räumen von der Weichsel bis zur Wolga abgespielt hat. War es jedoch erlaubt, im Gegenschlag 12. Mio. Menschen von Haus und Hof zu vertreiben…? Sind die Opfer jenes Gegenschlages nicht in der ganz überwiegenden Mehrzahl Menschen, die an den angedeuteten Ereignissen und Untaten unbeteiligt waren…?“

Im Oktober 1949 konkretisierte Pius XII seine Botschaft: „Das Elend von Millionen, die sich mit dem furchtbaren Namen ‚Vertriebene‘ nennen lassen müssen, ist nicht mehr einfach ein Gegenstand für Beschämung und Bedauern… Dringender denn je sind in diesem Augenblick die Leiden der sogenannten Vertriebenen eine Aufforderung zu sofortigem und verantwortlichem gemeinschaftlichen Handeln…“
Doch gegen Ende der 40er Jahre sammelten sich die Vertriebenen auch jenseits kirchlicher Strukturen in Interessenverbänden. Nach dem Fall des Koalitionsverbotes setzte eine stürmische Gründerzeit ein, in der sich flächendeckend die Vertriebenen nach ihrer landsmannschaftlichen Herkunft als Schlesier – mit Abstand die größte Vertriebenengruppe - , Sudetendeutsche, Pommern, Ost- und Westpreußen, Deutschbalten, Donauschwaben usw. organisierten; wohlgemerkt nur in Westdeutschland. In der SBZ/ DDR wurde jeder entsprechende Ansatz polizeilich und geheimdienstlich rigoros unterbunden und verfolgt.
Ein Meilenstein in der Entwicklung unseres Verbandes war die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5.8.1950, die von dreißig Sprechern und Vertretern aller maßgebenden bis dahin gegründeten Landsmannschaften und Landesverbände unterzeichnet wurde. Sie ist oft als das „Grundgesetz“ der deutschen Vertriebenen bezeichnet worden. Ich zitiere einige maßgebliche Aussagen dieser Charta:

„…

1. Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluß ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.

2. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.

3. Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas. So lange dieses Recht für uns nicht verwirklicht ist, wollen wir aber nicht zur Untätigkeit verurteilt beiseite stehen, sondern in neuen, geläuterten Formen verständnisvollen und brüderlichen Zusammenlebens mit allen Gliedern unseres Volkes schaffen und wirken. Die Völker müssen erkennen, daß das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen, wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert…“

Das war ein herausragendes Zeichen der Selbstüberwindung und Verständigungsbereitschaft. Selbstverständlich war das in der damaligen Elendssituation nicht. Es gab auch andere Stimmen Dieses Manifest ist bis heute die Wertegrundlage des deutschen Bundes der Vertriebenen.

Am 5. August dieses Jahres feiern wir in Stuttgart, dem Ort der Verkündung der Charta, den 60. Jahrestag dieses Dokuments. Ich lade Sie herzlich dazu ein.

Die Eingliederung von Millionen Menschen blieb eine gigantische Aufgabe für die Politik der im Mai 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Es mußte eine eigene Sonderverwaltung auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene geschaffen werden. In der ersten Bundesregierung wurde ein Ministerium für Vertriebene (später: „für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte) eingerichtet. Ein umfassendes Wohnungsbauprogramm wurde aufgelegt, um die Vertriebenen und die Bombenkriegsgeschädigten einigermaßen menschenwürdig unterzubringen. Anders als bei Ihnen in Finnland war man in Nachkriegsdeutschland bestrebt, die Vertriebenen nicht gemeinsam nach Herkunftsorten unterzubringen. Die Furcht der Alliierten war zu groß, daß sich daraus Protestpotential entwickeln könnte.
Gesetzliche Grundlagen zur gesellschaftlichen Eingliederung schuf der Deutsche Bundestag mit einem Soforthilfegesetz bereits 1949, das entsprechende bereits bestehende Regelungen der Länder ablöste bzw. harmonisierte.

Wichtiger Stützpfeiler der Eingliederungspolitik war das Lastenausgleichsgesetz von 1952, das durch verschiedene finanzielle Leistungen, Vergünstigungen und erleichterte Kreditmöglichkeiten zwar keine tatsächliche Entschädigung für das zwangsweise im Osten zurückgelassene Vermögen darstellte, aber doch mittelfristig zur wirtschaftlichen Stabilisierung und gesellschaftlichen Angleichung der Vertriebenen an die Aufnahmegesellschaft führte. Als Vorbild und Modell dafür kann durchaus die finnische Lösung einer Lastenverteilung auf Einheimische und Flüchtlinge gesehen werden. Die Maßnahmen in Ihrem Land waren geradezu vorbildlich.

1953 wurde das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) geschaffen, das durch eine besondere Bestimmung, die heute noch Gültigkeit hat, Bund und Ländern als staatliche Aufgabe zuweist, „das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewußtsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten, Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern…sowie Einrichtungen des Kunstschaffens und der Ausbildung sicherzustellen und zu fördern…“ Ferner haben Bund und Länder „Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben, sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu fördern.“

Unser Verband kann noch keinen 70. Geburtstag begehen. Erst sehr spät – 1957 – gelang es, die deutschen Vertriebenen mit ihren sehr unterschiedlichen Schicksalen zusammenzufügen. Um unsere gemeinsame europäische Zukunft zu gestalten, brauchen unsere Völker das Wissen und den Erfahrungsaustausch über die Vergangenheit und die Schicksale ihrer Nachbarn. Nur daraus erwächst Verständnis füreinander.
Unser Bund der Vertriebenen hat sich selbst die Aufgabe gestellt, in öffentlichen Veranstaltungen am Schicksal anderer Völker und ihrer Menschen Anteil zu nehmen. Opfer sollten und dürfen nicht konkurrieren, sondern mit den jeweils anderen mitfühlen.

Dabei ist eines wichtig: Nur Wahrheit hilft zum Miteinander.

Der Bund der Vertriebenen nimmt durch seine Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ Anteil am Schicksal der Karelier. Die erste Ausstellung dieser Stiftung beleuchtet seit 2006 mit der Darstellung von Vertreibungen im 20. Jahrhundert natürlich auch das Schicksal der Karelier. Mehr als 100.000 Besucher haben diese Ausstellung inzwischen gesehen. Und auch in diesem Jahr reist sie wieder von Ort zu Ort in Deutschland.

Finnland ist nicht nur ein schönes Land, das ich bereits in den 1980er Jahren als Frankfurter Kommunalpolitikerin besuchen konnte, sondern es ist auch ein Land mit viel Gefühl für Kultur.
Für die Kulturgeschichte und die Entwicklung nationaler Identität Finnlands spielte Karelien eine wichtige Rolle. Das Material für Ihr Nationalepos „Kalevala“ wurde hauptsächlich dort zusammengetragen. Sie wissen das besser als ich.

Ihr großer finnischer Komponist Jan Sibelius hat Finnland und Karelien in zwei Werke eingegossen, die mich als Musikerin immer tief beeindruckten: die Tondichtung „Finnlandia“ und die „Karelia-Suite“. Ich hatte die Freude, beide Werke mehrfach im Orchester der „Philharmonischen Gesellschaft Frankfurt“ unter der Leitung meines Mannes – er ist Dirigent – spielen zu dürfen. In beiden Werken spiegeln sich Schönheit und Dramatik Finnlands und Kareliens wider.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!