Rede zum ersten bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2015 in Berlin

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

sehr geehrter Herr Bundesminister des Innern,

meine Damen und Herren,

der Chronist schreibt das Jahr 1945, es ist die Nacht vom 18. zum 19. Juni. Der Krieg ist seit über einem Monat vorbei. Im Bahnhof von Prerau, einer Kleinstadt im Herzen Mährens (heute Tschechien), steht ein Flüchtlingszug mit 265 Zivilisten. Die meisten sind Karpatendeutsche aus der Zips, ihrer angestammten Heimat in der heutigen Slowakei. Sie waren kurz vor Kriegsende nach Nordböhmen evakuiert worden und wollten nach Hause zurückkehren.

Ein Militärtransport mit tschechoslowakischen Soldaten, die von einer Siegesfeier heimkehren, trifft ein.

Die 265 Zivilpersonen werden gezwungen, den Zug zu verlassen. Sie müssen persönliche Wertgegenstände abgeben und sich bis auf die Unterwäsche entkleiden. Dann werden sie mit Genickschüssen ermordet.

Der Chronist notiert 71 erschossene Männer, 120 Frauen und 74 Kinder. Das jüngste Opfer war acht Monate alt.

Heute erinnert eine Gedenkstätte in Prerau an diesen Massenmord vor 70 Jahren. Prerau ist nur ein Ort von unzähligen, die stille Zeugen solcher Gräueltaten wurden.

Es kam nach der Befreiung vom Naziterror zu zahlreichen Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung, zu ethnischen Säuberungen in deren seit Jahrhunderten angestammten Heimat. In Internierungslagern und bei Zwangsarbeit ging das Sterben weiter.

Ich erinnere an den Todesmarsch von Brünn, den mindestens 2.000 Menschen nicht überlebten, und danke dem dortigen Stadtrat, der dieses Unrecht jüngst anerkannt und ebenfalls in öffentliches Gedenken einbezogen hat.

Ich erinnere an die grausamen Vertreibungen im Sudetenland und im slowakischen Karpatenraum.

Ich erinnere an die Vertreibungen in Südosteuropa, einschließlich des gesamten Donauraums.

Ich erinnere sowohl an die wilden als auch an die geplanten Vertreibungen aus Schlesien, Ost- und Westpreußen, aus Pommern, Ostbrandenburg und Danzig.

Ich erinnere an die Wilhelm Gustloff, die vom sowjetischen U-Boot S-13 versenkt wurde. 9.343 Menschen, die in der Flucht vor der Roten Armee ihr Heil suchten, fanden am 30. Januar 1945 den Tod in der eisigen Ostsee.

Ich erinnere an die Vertreibungen der Deutschen aus dem Baltikum und – schon ab 1941 – die Deportation der Deutschen aus Russland, vor allem aus den Gebieten der Wolgarepublik.

Ich erinnere an die geschätzt mehr als eine Million deutsche Zwangsarbeiter, die als menschliche Kriegsentschädigung missbraucht wurden

Ich erwähne auch die Heimatverbliebenen, die mehrheitlich weitere Jahrzehnte Vertreibung in der Heimat, in Isolation und Entrechtung, hinter dem Eisernen Vorhang ertragen mussten. Diese Brüder und Schwestern leben heute noch in der Heimat – und sind dort Pfeiler für Brücken, die ich als große Chance für ein friedliches Europa sehe.

Jeder Krieg fordert seine Opfer, auf allen Seiten.

Ich stelle in Deutschland in Teilen unserer Gesellschaft eine verwunderliche Zurückhaltung fest, auch der eigenen Opfer zu gedenken. Im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg steht die deutsche Schuld außer Frage: Dieser Krieg hat über ganz Europa unermessliches Leid, Tod und Elend gebracht, über alle Völker. Flucht und Vertreibungen waren ein Teil davon.

Daran zu erinnern relativiert gar nichts.

Von den mehr als 18 Millionen Deutschen im Osten verloren bis zu 15 Millionen ihre Heimat, weit über 2 Millionen haben Flucht und Vertreibung nicht überlebt. Das war, ist und bleibt Unrecht – gedenkwürdiges Unrecht!

Für die bleibende Erinnerung, zur Mahnung und aus Achtung vor den Opfern ist es ein gutes und wichtiges Zeichen, dass wir heute besonders auch ihrer gedenken.

Im Namen dieser Menschen und deren Nachfahren danke ich der Bundesregierung dafür, dass sie das Gedenken an die eigenen Opfer von Flucht und Vertreibung aufrechterhält, indem sie den heutigen Gedenktag ausgerufen hat.

Diesen Gedenktag war Deutschland den eigenen Opfern schuldig  – und hat ihn nun geschaffen.

Durch die Verbindung dieses Gedenkens mit der Erinnerung an das Leid aller anderen Flüchtlinge und Vertriebenen, bringen wir noch etwas Wesentliches zum Ausdruck: Die Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung aus ihrer Heimat zum Ende des Zweiten Weltkrieges - und noch viele Jahre danach -  war genauso ein Verbrechen, wie es andere ethnische Säuberungen auf der ganzen Welt bis heute sind.

Dieser Gedenktag ist daher eine deutliche Ansage gegen Kollektivschuld und Rechtfertigungstheorien. Auch für diese Botschaft danke ich.

Unsere eigene Geschichte mahnt. Sie zeigt eindringlich, wie wichtig es ist, Menschenrechte zu achten,  Krieg und Gewalt zu verhindern, und Vertreibungen – gestern wie heute – weltweit zu ächten!