Rede zum Tag der Heimat am 9. September 2012 in Berlin

BdV-Präsidentin Erika Steinbach MdB: Erbe erhalten - Zukunft gestalten

Sperrfrist: 9. September 2012, 12:00 Uhr!
Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede und Begrüßung !

ich freue mich, dass der Ministerpräsident des Landes Hessen unser diesjähriger Festredner zum Tag der Heimat ist. Das Land Hessen hat die Anliegen der Vertriebenen in den vergangenen Jahren nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten nachhaltig unterstützt. Hessen wurde als erstes Bundesland Pate unserer Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN und fördert diese BdV-Stiftung darüber hinaus bis heute nach Kräften. Hessen war auch Initiator des Bundesratsantrags, einen nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung zu schaffen. Es gibt in Hessen eine Beauftragte für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, die hervorragende Arbeit leistet. Ich freue mich, dass Frau Margarete Ziegler-Raschdorf heute hier ist und ich begrüße auch ihren Vorgänger Herrn Rudolf Friedrich. Und unser hessischer BdV-Landesverband und die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland nehmen die Unterstützung von ihrer Seite sehr wohl wahr. Bemerkenswert und singulär ist auch der im Jahr 2010 gestiftete „Hessische Preis Flucht, Vertreibung, Eingliederung.“ Dieser Preis, mit 7.500 Euro dotiert, wird alle zwei Jahre verliehen. Gewürdigt werden kulturelle, literarische oder wissenschaftliche Arbeiten im thematischen Zusammenhang mit der Vertreibung, Aussiedlung und Eingliederung von Deutschen als Folge des Zweiten Weltkrieges sowie der deutschen Kultur der Vertreibungsgebiete. Mit diesem Preis geht Hessen beispielgebend voran. Er zeigt auch die enge Verbundenheit des Landes mit den Heimatvertriebenen, die mehr als ein Viertel der Bevölkerung ausmachen.  Die Aufzählung des hessischen Engagements für Vertriebene ist damit längst nicht erschöpft. Aber sie macht deutlich, warum der BdV Grund hat, ein großes Dankeschön auszusprechen. Wir alle danken der Hessischen Landesregierung für ihr beständiges Engagement, das deutlich erkennbar durch Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident und Ihre Landesregierung weitergeführt wird.

Erinnerung an Schicksal und Erbe

Mit unserem Tag der Heimat erinnern wir alljährlich an millionenfache Schicksale und an die Heimat. Jeden Tag erfahren wir über die Medien von neuen Vertreibungen weltweit. Wir wollen deshalb auch der heutigen jungen Generation den Wert von Heimat vermitteln und alle Menschen dazu aufrufen, Vertreibungen weltweit zu ächten. Vertreibung war und ist kein legitimes Mittel von Politik, sondern ein Verbrechen!

Dieser Tag ist aber nicht nur ein Tag der Vertreibungsopfer und ihrer Nachfahren, sondern er geht auch oder gerade die von diesem Schicksal verschonten Deutschen an. Die Vertriebenen wurden in eine schreckliche Kollektivhaftung genommen für ein Regime und einen Krieg, obwohl sie dafür nicht mehr oder weniger, als die in West- und Mitteldeutschland Lebenden verantwortlich gewesen sind. Darum ist es gut, dass die Bundesregierung seit Jahrzehnten alljährlich zum Tag der Heimat die Beflaggung der öffentlichen Gebäude anordnet.

Heimat der Vertriebenen

Hier in diesem Saale haben sich heute Menschen zusammengefunden, die ihre Heimat in unterschiedlichen Gebieten Mittel-, Ost- und Südosteuropas hatten. Sie kommen aus Estland, Lettland, Litauen, aus Bessarabien und dem Buchenland, aus dem Banat, aus Siebenbürgen, aus dem Sudetenland, den Karpaten und dem Sathmar, es sind Dobrudscha- und Bulgariendeutsche unter ihnen, sie hatten ihre Heimat in Ostbrandenburg, in Schlesien, in Pommern oder Ostpreußen, in Danzig, in Westpreußen oder im Weichsel-Warthe-Gebiet in Polen, sie kommen aus Ungarn und dem donauschwäbischen Gebiet des früheren Jugoslawien und sie kommen als Russlanddeutsche bis zum heutigen Tage aus den Deportationsgebieten, in die sie durch Stalin verfrachtet wurden.

Erbe der Vertriebenen geht alle an

In unserem Verband spiegeln sich zahllose schreckliche menschliche Schicksale aber wir erhalten auch die Siedlungs- und Kulturgeschichte Mittel- und Osteuropas lebendig. Dieses Wissen und dieses Erbe ist ein Schatz und für alle in Deutschland unverzichtbar. Deutschland wäre nicht die Kulturnation, die es ist, wenn uns das kulturelle Erbe der Vertreibungsgebiete fehlen würde. Schon allein die Feierlichkeiten aus Anlass des 300. Geburtstages Friedrichs des Großen machen das exemplarisch deutlich. Das gesellschaftspolitische Klima hat sich in den letzten Jahren geöffnet. Es gibt heute deutlich mehr Verständnis für dieses deutsche Schicksalsthema als noch vor wenigen Jahren. Es ist erleichternd für viele Betroffene, dass das Thema Vertreibung eine Intensität im öffentlichen Bewusstsein erlangt hat, wie seit Jahrzehnten nicht.

Fast verschwunden aus der Berichterstattung sind inzwischen auch gnadenlose Mitleidlosigkeit oder – was noch schlimmer war – Häme oder solche Thesen, wie die von der „gerechten Strafe.“ Es gibt mentale Zuwendung, es gibt Mitgefühl und es gibt – gerade in der jüngeren Generation – Neugier und Engagement für diesen einschneidenden Teil deutscher Geschichte.

Wer aber glaubt oder glauben machen will, dass die Vertreibung der Deutschen in der Mitte des 20. Jahrhunderts allein eine Sache der davon persönlich Betroffenen sei, der irrt fundamental und der ignoriert zweierlei:

  1. Er übersieht, dass allein die geographische Lage des Wohnortes entschied, wer vertrieben wurde und eben nicht die Kategorien persönlicher Schuld oder Unschuld
     
  2. Er übersieht zudem, dass mit der Vertreibung ein kultureller Umbruch bislang ungeahnter Dimension eintrat. Ein Umbruch, der den Kern unserer deutschen Kultur dauerhaft tief berührt. Historische deutsche Kulturlandschaften wurden nahezu völlig ausgelöscht. Vieles an kulturellen Traditionen ist versunken oder überlebt nur museal. Anderes lebt als Kernbestand unserer Kultur weiter, ist aber seinem historischen Entstehungsort entrissen.

Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ ist untrennbar mit Königsberg, das der Philosoph Zeit seines Lebens niemals verlassen hat, ebenso verhaftet wie Gerhart Hauptmanns „Weber“ mit Schlesien. Die Orte haben sich dramatisch verändert, sind in ihrer gewachsenen Kultur weitgehend erloschen. Die Werke und ihre Schöpfer aber bleiben unverzichtbar für uns Deutsche. Darum geht die Vertreibung alle in Deutschland an. Sie ist, ob es gefällt oder nicht, ein gewichtiger Teil unserer gesamtdeutschen Identität und unseres kulturellen Erbes, das uns alle prägt.

Die Völker Europas leben gemeinsam auf dem Fundament des christlichen Abendlandes. In Baukunst, Musik, Dichtung, Wissenschaft und Forschung gab es über die Jahrhunderte hinweg ein beständiges, zumeist friedliches Geben und Nehmen. Dieser Austausch war und ist bereichernd und fruchtbar. In diesem positiven Bewusstsein dürfen wir aber auch nicht ausblenden, was es an Menschenunwürdigem, an Unchristlichem in unserer gemeinsamen Vergangenheit gegeben hat.

Wir müssen uns unserer europäischen Vergangenheit in all ihren Facetten gemeinsam stellen und in voller Kenntnis unsere europäische Zukunft daraus gestalten. Das fällt nicht allen leicht. Auch nicht in unseren Nachbarländern. Aber daran führt kein Weg vorbei.

Heimat, der Tag der Heimat, ist für uns Vertriebene nicht Abschottung und geistige Enge, sondern Offenheit und der Blick über die Grenzen. Bewahrung der eigenen Kultur und Begegnung mit den Kulturen unserer Nachbarn. Heimat ist für uns verbunden mit vielfältigen Erinnerungen oder den Erzählungen der Eltern oder Großeltern, aber auch dem Willen und dem Wunsch auf gute Nachbarschaft, trotz, oder gerade wegen der Schrecknisse aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.  Es sind die deutschen Vertriebenen, die wie kaum jemand sonst den Weg in Richtung Osten suchen. Sie sind die immer breiter werdende Brücke zur Verständigung. Revanchistische Parolen konnten nicht verfangen, weil man tausende Vertriebene inzwischen persönlich erlebt und kennengelernt hatte.

Die Landsmannschaften des BdV haben seit vielen Jahren gute und fruchtbare Kontakte in ihre Heimat und zumeist auch zu den Regierungen der Heimatregionen, so auch zu Ungarn. In diesem Jahr begehen Deutschland und Ungarn den 20. Jahrestag ihres Freundschaftsvertrages. Das ist ein guter Anlass auch seitens des BdV Dank zu sagen. Ungarn gehört zu den Ländern, die sich früh mit der Vertreibung ihrer Deutschen auseinandergesetzt haben. Der Beschluss des ungarischen Parlaments von 1990, in dem sich Ungarn von der Vertreibung der Ungarndeutschen nicht nur distanziert hat, sondern sich darüber hinaus sogar entschuldigte, war genauso vorbildlich, wie die schnelle Entschädigungsregelung.

Und mit großer Bewegung erinnere ich mich noch heute an den „Tag der Heimatvertriebenen“ 2007 im ungarischen Parlament. Diese eindrucksvolle politische Geste aller im ungarischen Parlament vertretenen Parteien konnte ich persönlich miterleben. Etwas Vergleichbares hat es in keinem anderen Land gegeben. Ich bin gewiss, dass die jetzige ungarische Regierung und der ungarische Parlamentspräsident diesen Weg des Miteinanders engagiert fortsetzen werden und begrüße den Botschafter der Republik Ungarn sehr herzlich. Sehr geehrter Herr Dr. Czukor, bitte geben Sie meinen Dank an Ihre Regierung und das Parlament weiter.

Die Brücken zwischen unseren europäischen Völkern werden umso tragkräftiger sein, je offener wir den Dialog führen.

Diesen Dialog gibt es auch mit Menschen der wenigen Länder, deren Regierungen sich bislang nach wie vor dem versöhnenden Miteinander versperren. Es waren und sind die Intellektuellen z. B. der Tschechischen Republik, von denen viele an der Seite der Sudentendeutschen stehen und so dazu beigetragen haben, dass das Eis der dortigen Regierung langsam zu tauen scheint. Wir brauchen das Miteinander und wollen das Gegeneinander der Völker überwinden. Dazu muss es gemeinsames Anliegen sein, den Schutt der Geschichte beiseite zu räumen und aus ihren Trümmern Neues zu bauen. Dazu aber muss man die Geschichte kennen und auch zu den je eigenen Schattenseiten stehen.

Traumata wirken fort

Der Wiederaufbau Deutschlands ist untrennbar verknüpft mit dem Gewaltverzicht und dem Aufbauwillen der deutschen Heimatvertriebenen. Trotz der Entwurzelung, trotz der Verzweiflung und trotz der Ablehnung, die ihnen von Seiten der Nichtvertriebenen landauf landab entgegenschlug, haben sich die Vertriebenen nicht als Sprengstoff unserer Gesellschaft und unseres Staates verstanden oder missbrauchen lassen, sondern sie waren die Hefe des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders und unserer Gesellschaft. Sie gestalteten dieses Land von Anbeginn auch politisch mit. Männer wie Paul Löbe, Erich Mende oder Hans-Christoph Seebohm gehörten zusammen mit anderen Vertriebenen bereits dem ersten Deutschen Bundestag an. 

Für diejenigen Vertriebenen, die es in die ehemalige DDR verschlagen hatte, war es noch einmal schwerer, denn sie durften sich dort nicht einmal zu ihrem Schicksal bekennen.  An den traumatischen Erinnerungen aber haben die Opfer und ihre Familien weitgehend allein zu tragen.

Die deutschen Vertriebenen haben aus eigener Kraft diesen breiten Strom der Traumata schon früh kanalisiert. Mit der Charta von Stuttgart haben sie zudem bereits 1950 deutlich gemacht, dass Rache und Gewalt für sie keine Wege in die Zukunft sind. Sie haben früh erkannt, dass dauerhafter Frieden nur in einem Europa zu finden sein wird, in dem die Völker miteinander und nicht gegeneinander wirken.

Unser Land und auch Europa sähen anders aus, wenn es diese Selbstüberwindung, denn eine solche war die Charta der deutschen Heimatvertriebenen, nicht gegeben hätte. Eines aber haben Forschungen in den letzten Jahren deutlich gemacht: Die Traumatisierung dauert an. Bis zum heutigen Tage sind die Vertriebenen ängstlicher und weniger widerstandsfähig als gleichaltrige Nichtvertriebene. Und sie sind mit ihrem Leben deutlich unzufriedener. Das sind typische Symptome von Traumatisierung.

Ein Forscherteam der Universitäten Greifswald und Leipzig hat diese Erkenntnisse bereits 2009 veröffentlicht. Es stellte zudem fest, dass manche der Vertriebenen wie unter einer Käseglocke lebten und Gefühle nicht zuließen aus Angst, die als katastrophisch empfundenen Gefühle von damals könnten wiederkehren. Gleichzeitig vermuteten die Wissenschaftler, „dass auch die Kinder der Vertriebenen weniger widerstandsfähig und ängstlicher als ihre Altersgenossen“ seien. Auch diese trügen „emotionale Narben“ mit sich. Sie haben weniger Vertrauen in den Bestand der Dinge, die andere für gegeben halten. „German Angst“, vielleicht rührt diese Bezeichnung für uns Deutsche auch daher.

Die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen war keine lineare Erfolgsgeschichte, sondern für viele eine zusätzliche bittere Leidenserfahrung.  Dass wenigstens eine gewisse soziale Integration in den meisten Fällen gelungen ist, dazu trug der absolute Wille der Vertriebenen bei, irgendwie wieder wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen, sich nicht resigniert in eine Ecke zu setzen, die Ärmel hochzukrempeln und ganz einfach anzupacken.

Trotzdem kann es nicht erstaunen, dass Wirtschaftswissenschaftler nachgewiesen haben, dass Vertriebene und ihre Kinder vom Wirtschaftswunder deutlich weniger profitierten. Noch ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg waren sie deutlich ärmer als die nichtvertriebenen Mitbürger. Das gilt genauso noch für die zweite Generation der Vertriebenen. Besonders groß ist nach dieser Studie die Ungleichheit hinsichtlich des Vermögens. Der Anteil der Vertriebenen mit Wohneigentum lag demnach 20 Prozent unter dem West-Durchschnitt.

Die junge Bundesrepublik hingegen hat erheblich vom Zustrom der hochflexiblen, einsatzfreudigen und genügsamen Arbeitskräfte profitiert. Durch sie stieg der Wohlstand der Einheimischen schneller an als dies ohne die Vertriebenen möglich gewesen wäre. Nur der Wohlstand der Vertriebenen selbst blieb unter dem Durchschnitt der Einheimischen.

Entschädigung für deutsche Zwangsarbeiter

Um Vieles mehr trifft das auf Vertriebene zu, die als Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen die besten Jahre ihres Lebens in Mittel-Osteuropa bis an den Rand der physischen Vernichtung ausgebeutet wurden, wenn sie die Torturen denn überlebt haben. Herta Müller, unsere Franz-Werfel-Menschenrechts-Preisträgerin, hat die schrecklichen Umstände dieser Zwangsarbeit in ihrem Roman „Atemschaukel“ beklemmend vor Augen geführt. Es waren Millionen Deutsche die vor ihrer Vertreibung Zwangsarbeit leisten mussten. Auch Frauen und Kinder. Nicht nur für die Sowjetunion, sondern auch für Polen, die Tschechoslowakei oder Jugoslawien. Mittel-, Ost- und Südosteuropa war über viele Jahre noch lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine gigantische Sklavenhalter-Region. Schon viel zu lange warten diese Opfer darauf, dass die Versprechungen, auch deutsche Zwangsarbeiter zu entschädigen, umgesetzt werden. Es ist zu hoffen und der BdV erwartet das auch, dass sich die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen endlich an die lange gemachten Zusagen und selbst erhobenen Forderungen erinnern und diese auch umsetzen.

Mit Zusagen bei öffentlichen Veranstaltungen, in persönlichen Gesprächen, in Wahlprüfsteinen und sogar in Bundestagsanträgen sind in der Vergangenheit hohe Erwartungen geweckt worden Diese Erwartungen müssen erfüllt werden. Horst Seehofer hat ja Recht, als er sagte: „Wir zahlen in Europa für alle, dann können wir auch für deutsche Zwangsarbeiter zahlen.“ Ja! Aber die Zeit drängt!

Wir brauchen einen nationalen Gedenktag

Nahezu 70 Jahre sind seit dem Beginn des Massenexodus von 15 Millionen Menschen, seit der Massenvertreibung Deutscher aus ganz Mittel-Osteuropa vergangen und mehr als 70 Jahre seit der Deportation der Russlanddeutschen.

  • Ist es nicht an der Zeit, die Erinnerung daran einschlafen zu lassen?
     
  • Ist es nicht an der Zeit, einen endgültigen Strich unter diesen Teil europäischer Geschichte zu ziehen?
     
  • Ist es nicht an der Zeit, diese deutsche und zugleich europäische Tragödie mit der Erlebnisgeneration zu Grabe zu tragen und dieses Kapitel zu schließen?

Immer wieder wird uns das durch den einen oder anderen nahegelegt.

Im Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages werden mit großer Empathie heutige und lang zurückliegende Vertreibungen debattiert. Steht aber das Thema Vertreibung der Deutschen auf der Tagesordnung, gibt es nach wie vor alte Abwehrreflexe. Dass dort alle Mitglieder Menschenrechte als unteilbar ansehen, die auch für Deutsche gelten, kann ich nicht feststellen. Jeder Absichtserklärung zu diesem Themenkreis wird von Teilen des Menschenrechtsausschusses eine Ausrede oder ein großes „aber“ angehängt.

Universale Menschenrechte sind aber für mich genauso unverhandelbar wie die Überzeugung: Erbe und Geschichte gibt es nur als Ganzes! Selektive Geschichtsbetrachtung führt je nach Standpunkt in die unterschiedlichsten Sackgassen. Auf gar keinen Fall aber in die Zukunft.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrem Grußwort zum heutigen Tage postuliert: „Von unserem Land ist unermesslich viel Leid ausgegangen. Wir stehen als Deutsche zu unserer Verantwortung, das haben wir stets deutlich gemacht. Aber wir dürfen, wir müssen und wir wollen auch an das erinnern, was Deutschen am Ende des Krieges widerfahren ist.“

Unser historisches Erbe umfasst alles, was den Menschen ausmacht. Nicht nur zwölf Jahre nationalsozialistische Schreckensherrschaft und die furchtbaren Vertreibungsjahre danach. Alle Höhen und Tiefen, Wunderbares und Schreckliches sind uns aus Jahrhunderten mitgegeben. Darum ist ein nationaler Gedenktag an die Vertreibung so elementar für die gesamte Nation.

Auf Initiative des Landes Hessen hat der Bundesrat bereits im Jahre 2003 beschlossen, dass es einen solchen nationalen Gedenktag geben muss. Die Umsetzung ist lange überfällig. Das Elend von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung, das Millionen von Menschenleben kostete und das Leben Unzähliger mit Schmerz, Verlust und Trauer überschattete, hat uns und viele Gesellschaften in Europa grundlegend verändert. Bis heute werden die Beziehungen zwischen den europäischen Völkern davon beeinflusst. Unsere Geschichte mahnt uns, immer wieder aufs Neue unsere Stimme aufrichtig und mutig zu erheben, wenn Menschen gewaltsam vertrieben werden und ihre Menschenwürde mit Füßen getreten wird. Der Verlust von Heimat, die Suche nach neuer Heimat, die bleibende Sehnsucht nach der alten oder auch die Zerrissenheit zwischen alter und neuer Heimat, sind prägend für uns und Europa.

Die Vertriebenendebatten der letzten Jahre bis hin zum heutigen Tage sind direkte Folge der von unserem Verband 2000 gegründeten Stiftung „ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN“ (ZgV). Und sie sind Teil eines Klärungsprozesses, der immer noch nicht abgeschlossen ist. Wir haben durch die Gründung des ZgV Beachtliches erreicht. In dieser Woche, am 6. September ist unsere Stiftung 12 Jahre alt geworden. Das sind 12 Jahre hervorragender Arbeit, die dank zahlloser Spenden Privater und Patenschaften von Städten, Gemeinden und Ländern möglich wurde. Nur unserer Stiftung wegen, nur durch den Druck, den wir durch gute Argumente erzeugt haben, gibt es heute die Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung.“ Peter Glotz war ein kämpferischer Begleiter bis zu seinem frühen Tode.

Durch das Engagement und die Unterstützung vieler ist es mit Hilfe unserer Stiftung gelungen, in Berlin diese dauerhafte Gedenkeinrichtung auf den Weg zu bringen, die an das Schicksal und Erbe der deutschen Heimatvertriebenen beständig erinnern wird. Wir waren die treibende Kraft und haben die Absicht, es zu bleiben.

Der Weg dahin war außerordentlich schwierig – es war eine Art Extrembergsteigen – und der Weg war nicht ohne Verwerfungen und Steinschlag. Vor allem Staatsminister Bernd Neumann ist es zu verdanken, dass die Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ sich jetzt auf einem guten Weg befindet. Einfach waren die Beratungen sowohl im Stiftungsrat als auch im wissenschaftlichen Beirat nicht. Ich begrüße insbesondere, dass Bernd Neumann mehrfach deutlich gemacht hat und in der Stiftungskonzeption hat festschreiben lassen, dass der Schwerpunkt der Arbeit und der Ausstellung das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen ist.

Die vom BdV benannten Stiftungsratsmitglieder haben einen gewichtigen Anteil daran, dass unsere Kernanliegen Teil der Stiftungskonzeption geworden sind:

  • Der historische Kontext zum Vertreibungsgeschehen wird nicht nur auf den  Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus bezogen, sondern es werden auch die davorliegenden Ursachen aufgezeigt. Damit wird die ganze Kausalkette in den Blick genommen. 
     
  • In der Konzeption wird explizit in Bezug auf die Vertreibung der Deutschen festgehalten, dass früheres Unrecht, auch wenn es noch so groß war, keine rechtliche oder moralische Legitimation für neues Unrecht ist.
     
  • Und es ist gelungen, dass im Deutschlandhaus über die historische Wissensvermittlung hinaus dem individuellen Gedenken an die Opfer von Flucht und Vertreibung angemessen würdevoll Raum gegeben werden wird.

Es ist ein gutes Zeichen, dass beide Gremien der Stiftung, der Stiftungsrat und der Wissenschaftliche Beirat, diese Konzeption mittragen. Damit wir in Deutschland zu uns selbst finden und damit Europa immer mehr zu einer Gemeinschaft werden kann, dürfen wir die Vergangenheit nicht vergessen und verdrängen. Dazu trägt diese Bundesstiftung bei.

Zukunft braucht Herkunft, auch eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Wir brauchen auf dem Weg in eine menschenwürdige und lebenswerte Zukunft notwendig Orte der Erinnerung und immer wieder Zeiten der Vergewisserung. Denn wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der ist anfällig für neue Grausamkeiten. Diese grundlegende menschliche Erfahrung ruft uns der jüdische Satz ins Bewusstsein: »Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung«. Wir brauchen für eine fruchtbare lebensvolle und gute Zukunft die Wurzeln, aus denen sich unsere Identität speist.

Goethe riet uns:

„Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es um es zu besitzen.“ Ja, wir müssen uns des Erbes annehmen, es umfassend erwerben wollen. Nicht nur einzelne Teile als politisches Instrumentarium. Wir erinnern uns heute am Tag der Heimat. Unsere Kinder und Enkel tragen die Erinnerung weiter. Wir alle tragen das geschichtliche Erbe in uns.