Rede zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 28. August 2021 in Berlin

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius MdB

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Söder, lieber Markus, 
sehr geehrter Herr Weihbischof Dr. Hauke,
geehrte Exzellenzen und Eminenzen,
meine Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestags und der Landtage,
verehrte Ehrengäste aus Bund, Ländern und Gemeinden,
liebe Vertreter der deutschen Minderheiten aus den Nachbarländern,
meine Damen und Herren,

zur diesjährigen Auftaktveranstaltung des Tages der Heimat 2021 des Bundes der Vertriebenen heiße ich Sie alle ganz herzlich willkommen. 

Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie, Herr Ministerpräsident Dr. Söder, heute die Festrede halten werden und begrüße Sie persönlich ganz herzlich in unseren Reihen. Herzlich willkommen!

Herr Ministerpräsident, Sie sind bei den deutschen Heimatvertriebenen, den Aussiedlern und Spätaussiedlern nicht nur ein vertrautes Gesicht, nicht nur ein sehr, sehr gerne gesehener Gast. Sie stehen zu uns, Sie sind durch Bekenntnis einer von uns, Sie sind Mitglied der Sudetendeutschen Landsmannschaft und natürlich auch des Verbands der Siebenbürger Sachsen in Deutschland und wahrscheinlich noch so einiger Selbstorganisationen der Deutschen Heimatvertriebenen – und dafür danken wir aus ganzem Herzen.

Ihnen, sehr geehrter Weihbischof Dr. Hauke, sind wir ebenfalls zu Dank verpflichtet. Sie werden mit dem geistlichen Wort als Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge – wie so oft, es ist schon Tradition – unseren Tag der Heimat würdig und angemessen beschließen.

Ich begrüße des Weiteren ganz ganz herzlich: Ihre Exzellenzen, die Botschafter und Vertreter der Botschaften von Ungarn, aus Rumänien, aus Slowenien, der Slowakei, der Tschechischen Republik, aus Kroatien, aus Frankreich, aus der Ukraine sowie das gesamte anwesende Diplomatische Corps und ich begrüße die Landesbeauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, die aus den Ländern heute zu uns gekommen sind. Meiner Kollegin aus Niedersachsen, Editha Westmann, gratuliere ich ganz herzlich zur gestrigen Wahl in das Präsidium des Bundes der Vertriebenen.  

Ich freue mich natürlich, dass schon traditionell die Potsdamer Turmbläser unter der Leitung Bernhard Boseckers unsere Veranstaltung musikalisch umrahmen werden und sage jetzt schon danke dafür. 

Zum ersten Mal, meine Damen und Herren, übertragen wir unsere zentrale Auftaktveranstaltung live über unsere Internetseite – und werden so vielleicht auch den einen oder die andere erreichen, die heute wegen der Corona-Einschränkungen nicht mit im Saal sein können. Letztlich herzlichen Dank Ihnen allen dafür, dass sie heute hier sind. 

Viele von Ihnen, meine Damen und Herren, befinden sich noch – wie ich auch – auch im Nachhall der bewegenden Bilder, die wir vorhin gesehen haben. Auch wenn der Film hauptsächlich die Charta der deutschen Heimatvertriebenen in den Blick nimmt, so weckt er bei manchen die Erinnerungen an die eigene Flucht oder Vertreibung. Oder die Erinnerung an die zahllosen Gespräche und Erzählungen der Eltern und Großeltern, die zeit ihres Lebens von dem erlittenen Leid und den erlebten Gräueln geprägt blieben.

Wir alle hätten uns gewünscht, dass es die Charta der deutschen Heimatvertriebenen gar nicht erst hätte geben müssen! Die Geschichte aber, liebe Landsleute, bleibt nicht stehen. Sie wird nicht gestundet und macht keine Pause. Sie geht nach jedem Ereignis, so unermesslich tragisch oder katastrophal es war, unweigerlich und ungebremst weiter. Auch das hat uns der Film gezeigt, und das zeigen uns leider jeden Abend die schrecklichen Bilder aktueller Nachrichten. 

Auf den Verlust der Heimat folgt der Aufbruch: Jahre und Jahrzehnte, in denen jeder Einzelne, jede Familie und jede Gemeinschaft daran arbeitet, sich das neue Umfeld zur neuen Heimat zu gestalten. Das haben wir geschafft, meine Damen und Herren.

Es trifft zu, dass der Aufbruch in die Zukunft für viele bittere, ja bitterste Voraussetzungen mit sich brachte und gelingen musste. Es trifft zu, dass viele Geflüchteten und Vertriebene ihre neuen Heimatorte beinahe ein Vierteljahrhundert lang nur als Ersatzheimat betrachteten – gerade, weil ihre Hoffnungen genährt wurden, dass eine Rückkehr in die Heimat irgendwann möglich sei. Es trifft aber genauso zu und ist richtig – heute mehr noch als vor 70 Jahren – zu erkennen, dass mit der verabschiedeten Charta ein Weg vorgezeichnet wurde, der die deutschen Heimatvertriebenen letztlich in ein vereintes Europa führte. 

Dieses Europa war und ist und bleibt der Garant dafür, dass wir und unsere befreundeten Nachbarstaaten seit Jahrzehnten in einer langen Periode des Friedens leben dürfen.

In Europa hat Deutschland Partner und Verbündete. Europa hat einen Raum der Freiheit geschaffen, die auch unsere, die Freiheit der Heimatvertriebenen und ihrer Nachkommen, umfasst: Wir können wieder in die alte Heimat fahren, dort Eigentum erwerben, so wir das wollen uns dort niederlassen. Das ist schon ein Erfolg der Charta der deutschen Heimatverriebenen. 

Meine Damen und Herren, „Geschichte lässt sich ja nicht zurückdrehen“, war die Aussage eines Donauschwaben, mit dem ich mich bei meinem Besuch vor wenigen Wochen im Haus der Donauschwaben in Sindelfingen unterhalten konnte. Seine Eltern stammen beide aus dem Banat. 

Nein, wieder zurückgehen wolle er bestimmt nicht, denn erstens hätte man sich in Deutschland eine neue Heimat erarbeitet, und zweitens sei es völlig absurd, das Leben der Dorfgemeinschaften von vor 80 Jahren gedanklich ins 21. Jahrhundert übertragen zu wollen. „Man soll gedenken und erinnern, aber immer auch mit der Zeit Schritt halten und aus starken Wurzeln viel Kraft für neues schöpfen“, war sein Resümee.

Es bleibt Aufgabe des Bundes der Vertriebenen und seiner Landsmannschaften, Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den historischen deutschen Ostgebieten als das Unrecht zu bezeichnen, das von den Rache nehmenden Vertreiberstaaten im Osten an uns und an unseren Landsleuten verübt wurde.

Wir vergessen dabei niemals die entmenschlichte und entmenschlichende Kriegs- und Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten mit ihren kaum vorstellbaren Menschheitsverbrechen – vor allem im Holocaust.

Die Völker im Osten haben Rache genommen. Büßen mussten dafür vor allem diejenigen Deutschen, die ihre Heimat im damaligen Ostdeutschland, jenseits von Oder und Neiße hatten. Aber auch unsere Landsleute in den deutschen Siedlungsgebieten wie z.B. in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn oder Jugoslawien. Sie mussten stellvertretend für alle Deutschen die bittersten Konsequenzen tragen.

Immer und immer wieder stellen wir andererseits der Benennung des geschehenen Unrechts unseren unbedingten Willen zur Verständigung und zur gemeinsamen Zukunft mit unseren osteuropäischen Nachbarn an die Seite – so, wie unsere Väter und Mütter es in der Charta niedergeschrieben haben. Wir haben die Hände zur Versöhnung gereicht – und dafür, nur dafür, steht unser Logo des diesjährigen Tages der Heimat für Versöhnung unter dem Dach des BdV und unserer Charta unter einem vereinten Europa. 

Das ist glaubwürdig, meine Damen und Herren, weil wir Menschenrechte einfordern und grenzüberschreitende Verständigung anbieten. Das ist christlich, weil es Verzicht auf Rache bedeutet. Und es ist zukunftsweisend, weil wir – bei aller Kritik, die man an den europäischen Institutionen üben kann – gut beraten sind, Europa als schützendes Dach zu verstehen und zu sehen. Auch dieses Dach haben wir symbolisch in unser Veranstaltungslogo aufgenommen. 

Verständigungspolitik, von der großen politischen Bühne bis hinein ins familiäre Private, ist unverzichtbare Voraussetzung für andauernden Frieden. Dieser vermeintliche Zweiklang, meine Damen und Herren, zwischen Benennen des Unrechts einerseits und Ausstrecken der Versöhnungshand andererseits verschmilzt bei näherem Betrachten: Es sind zwei Aspekte, die sich beide aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs speisen.

Gerade, weil der Naziterror und der Zweite Weltkrieg die Welt derart aus den Fugen gehoben haben, brachen vielerorts Schutzmauern, die Menschlichkeit von Unmenschlichkeit trennten zusammen. Und wo diese Dämme geschleift wurden, war es nur noch ein sehr kleiner Schritt hin zu den Vertreibungen und ethnischen Säuberungen, die damals schon Unrecht waren und niemals – ich betone: niemals – ihren Unrechtscharakter verlieren werden. Es liegt auch an uns, dafür zu sorgen, dass dort, wo wir es beeinflussen können, die Schutzmauern der Menschlichkeit zukünftig sicher und fest stehen.

Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, lautet das diesjährige BdV-Leitwort „Vertreibungen und Deportation ächten – Völkerverständigung fördern“. Das Leitwort versteht sich ebenso als bittere Erkenntnis aus der Geschichte, wie auch als Forderung für das menschliche Miteinander in aller Zukunft. 

Es erfüllt mich persönlich mit Trauer, die aktuellen Tragödien an zahlreichen Schauplätzen auf der ganzen Welt verfolgen zu müssen, und unsere Gedanken sind in Afghanistan – bei den schrecklichen Bildern, die wir von dort zur Kenntnis nehmen müssen. 

Hat die Menschheit in ihrer Geschichte, meine Damen und Herren, das Soll an Fluchtgeschehen und Vertreibungen nicht bereits mehr als erfüllt? Müssen wir immer wieder aufs Neue Jahr für Jahr Millionen Menschen gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen? Wo bleibt das von uns geforderte sanktionsbewehrte Instrument des Vertreibungsverbots, mit dem endlich die Vertreiber – und nicht länger die Vertriebenen – in die Knie gezwungen werden?

Wir deutschen Heimatvertriebenen, genauso wie die Aussiedler und Spätaussiedler in unseren Reihen, haben am eigenen Leib erfahren müssen, was es bedeutet, Opfer und Leidtragende von Krieg, von ethnischen Säuberungen sowie von menschenverachtenden politischen und militärischen Schachzügen zu werden.

Wir im Bund der Vertriebenen würdigen zu jeder Zeit aber auch die schlimmen Jahre und Jahrzehnte, die unsere Heimatverbliebenen unter der Knute kommunistischer Regime zu erdulden hatten. Die Menschen, die dann als Aussiedler und Spätaussiedler nach Deutschland kamen – und nach wie vor kommen –, trugen während des Kriegs die schwere Bürde, in ihrer Heimat als Deutsche unter deutsch-feindlichen Regimen zu leben. Für sie war der Krieg zwar zu Ende, nicht aber die fortgesetzten ethnisch begründeten Repressionen als Deutsche durch die Mehrheitsgesellschaft in ihren Ländern.

Selbst in einem heutigen grenzüberschreitenden Verständnis sind die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge und die heimatverbliebenen deutschen Minderheiten in den mittel- und osteuropäischen Ländern zwei Seiten ein und derselben Medaille. 

Gerade die Heimatverbliebenen und ihre Familien sind es, die vor Ort in unseren Nachbarländern einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur und einer guten Verständigung den Boden bereiten. Wir im Bund der Vertriebenen wollen sie noch stärker als bisher in unsere Arbeit und in unsere Aktivitäten einbinden – ganz in dem Bewusstsein, dass wir für ein und dieselbe Sache einstehen. Es ist gut, dass unsere Landsmannschaften einen intensiven Austausch mit den Heimatverbliebenen pflegen, denn sie tun es nicht nur für sich, sondern ganz im Sinne eines europäischen Gedankens für unser Land.

Das gewählte Leitwort greift somit zwei der menschenrechtlichen und verständigungspolitischen Forderungen des BdV auf. Jeder Mensch muss in seiner Heimat dauerhafte Lebensperspektiven vorfinden können – ohne Angst, Opfer von Zwangsmaßnahmen zu werden. Deshalb fordern wir nach wie vor die kodifizierte Verankerung eines weltweiten Vertreibungsverbotes und damit die Sanktionierbarkeit von Vertreibungen. 

Auch die Forderung nach mehr Verständigung unter den Völkern, die wir ins Leitwort aufgenommen haben, ist für uns keine hohle Floskel. Wie schön wäre es, wenn unser steter verständigungspolitischer Dialog mit den Nachbarn im Osten dort auch auf Spitzenebene der Politik Früchte tragen würde. Von einigen unserer östlichen Nachbarländer erwarten wir noch heute eindeutige Bekenntnisse zum Unrechtscharakter der Vertreibungen, die unsere Landsleute mit brutaler Härte trafen. Bis heute sind Unrechtsdekrete in einigen Ländern Teil der dortigen Rechtsordnung, wenn ich nur an Tschechien oder auch an Serbien denke. Damit muss es aufhören, meine Damen und Herren.

Liebe Landsleute, wir im Bund der Vertriebenen sind eine Schicksals- und zugleich eine Solidargemeinschaft. Unsere Landsmannschaften haben eigene Spezifika – sowohl in der Geschichte ihrer jeweiligen Heimatregionen als auch in den dort entwickelten und mitgebrachten Bräuchen, ihrer Kultur und ihren Eigenheiten.

Im Bund der Vertriebenen haben sich gemeinsam mit den 16 Landesverbänden 18 Landsmannschaften zusammengeschlossen – von den Deutschbalten im Norden bis zu den Donauschwaben im Süden, von den Sudetendeutschen, deren Heimat vor der Vertreibung übrigens in Teilen westlicher liegt als Passau oder Deggendorf, bis hin zu der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die für die Deutschen aus allen ehemaligen Sowjetstaaten spricht. 

Wenn der BdV seine Interessen artikuliert, dann sowohl im Namen der Ost- und Westpreußen als auch des Bundes der Danziger, ebenso für die Pommern und die Ostbrandenburger wie für die Schlesier und die Oberschlesier – für alle Heimatvertriebenen, meine Damen und Herren. 

Und wenn es um die schreienden Rentenungerechtigkeiten bei Aussiedlern und Spätaussiedlern geht, stehen neben der bereits genannten Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die Verbände der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben, die Sathmarer Schwaben und Ungarndeutschen bis zu den Bessarabiendeutschen und den Karpatendeutschen und erfahren solidarische Unterstützung von allen anderen Landsmannschaften, deren Mitglieder heute nicht mehr betroffen sind. Frauenverband, Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen und Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen stehen als außerordentliche Mitglieder auch bei dieser Forderung ebenfalls eng an unserer Seite: Wir halten zusammen!

Um es daher klar zu sagen: Es ist ein Zwischenerfolg für den gesamten Bund der Vertriebenen, dass wir unserer Forderung bezüglich der Abmilderung der Altersarmut bei Spätaussiedlern in der parlamentarischen Debatte zumindest teilweise Gehör verschaffen konnten. Die Einbeziehung von Zeiten nach dem Fremdrentengesetz in die zum 1. Januar 2021 beschlossene Grundrentenberechnung und Zuschlagszahlung ist ein wichtiger Teilerfolg, der in vielen Fällen eine Verbesserung bewirkt. Zu einer Beseitigung der Generationenungerechtigkeiten der 90er Jahre durch Deckelungen und Kürzung für Aussiedler und Spätaussiedler konnte sich das zuständige Bundesministerium und der dort verantwortliche Koalitionspartner SPD leider nicht durchringen. Dort wurden alle unsere Verbesserungsvorschläge mit unerträglichem Starrsinn und einer ideologisch begründeten Blockadehaltung verhindert. Das finde ich sehr bedauerlich.  

Ein weiterer Teilerfolg, meine Damen und Herren, konnten wir trotzdem erkämpfen. Zur Errichtung eines Fonds zur Abmilderung von Härtefällen im Bereich der Grundsicherung, also außerhalb des Fremdrentengesetzes, wurde durch die Bundesregierung eine Milliarde Euro in den Haushalt des kommenden Jahres eingestellt. Es ist als wichtiges Signal ein Meilenstein der Aussiedlerpolitik in dieser Wahlperiode und ein immenser Gestaltungsauftrag an die nächste Bundesregierung und den am 26. September zu wählenden Deutschen Bundestag, bei dem natürlich auch die Länder mitwirken sollen. 

So oder so: Von einer systematischen, strukturellen Beseitigung der Rentenungerechtigkeit bei Aussiedlern und Spätaussiedlern ist man trotz aller Signale leider noch weit entfernt. Die Schlacht ist noch nicht geschlagen. Denn die Rentennachteile für Spätaussiedler waren 1996 bei ihrer Einführung falsch, sie sind heute falsch, und sie bleiben falsch solange sie bestehen. Ich bleibe, meine Damen und Herren, an diesem Thema jedenfalls dran, bis es zu aller Zufriedenheit erledigt ist. Das verspreche ich Ihnen.

In meiner Ansprache, meine Damen und Herren, will ich einen der Schwerpunkte auch auf die Deutschen aus Russland legen, weil das Bewusstsein für und die Solidarität mit ihrem Schicksal einer der Aspekte bei der Festlegung des Leitwortes für das Jahr 2021 gewesen ist. 

Genau heute vor 80 Jahre ließ Stalin den unglückseligen Erlass verabschieden, mit dem die Sowjetregierung am 28. August 1941 das Schicksal der Deutschen in Russland besiegelte und Hunderttausende in die Verbannung und zur Zwangsarbeit deportierte. Unterzeichnen musste Michail Iwanowitsch Kalinin, Vorsitzender des Obersten Sowjets, diesen Erlass. 

Ich möchte diesen Vorgang historisch einbetten, um das Ausmaß, die Zäsur, für die Russlanddeutschen aufzuzeigen. Es war natürlich zuerst die unmittelbare Reaktion auf den Deutschen Überfall auf Russland. Aber es war Rache und Vergeltung an Unbeteiligten. 

Es trifft zu, dass nach Kriegsende in Ostmitteleuropa, in Ost- und in Südosteuropa die größte Völkerverschiebung seit Menschengedenken stattfand. Flucht und Vertreibung, Deportation von rund 15 Millionen Deutschen aus ihren Wohnungen, Häusern, Dörfern und Städten – aus ihrer jahrhundertealten Heimat. Auch das war Rache und Vergeltung. Aber die Deutschen aus Russland traf das bereits 1941. Und schon davor, in den Jahren 1937 und 38, hatte es bereits die sogenannte „Große Säuberung“ gegeben, im Zuge derer 55.000 Russlanddeutsche exekutiert, erschossen, wurden. 

Das Jahr 1941 wurde dann zum vernichtenden Schicksalsjahr für mehr als eine dreiviertel Million Russlanddeutsche. Es wird die sozialen, kulturellen, administrativen und in vielen Fällen auch familiären Strukturen dieser Volksgruppe nachhaltig zerstören. Mit der Deportation nach Kasachstan, an den Ural, nach Sibirien endete eine furchtbare Epoche in der Geschichte der Deutschen in Russland. Dort, wohin die Russlanddeutschen verbannt wurden, wartete bittere Armut, Unterdrückung und Knechtschaft auf sie. Die Zeugnisse der Überlebenden sprechen eine deutliche Sprache.

Dem Erlass-Unterzeichner Kalinin setzte man ein besonderes Denkmal mit der Umbenennung der ostpreußischen Stadt Königsberg in Kaliningrad und dem sie umgebenden Regierungsbezirk.

Mehr als 20 Jahre mussten vergehen, meine Damen und Herren, bevor der rechtliche – oder besser: Unrechts-Status – der deutschen Bevölkerung in der Sowjetunion wieder geändert werden sollte. Erst 1964 wurde der 1941 ganz pauschal erhobene Vorwurf der Kollaboration mit Nazideutschland als unbegründet bezeichnet und durch eine Teilrehabilitierung zurückgenommen. Es war das Eingeständnis der Sowjetunion, seine deutsche Bevölkerung schuldlos der Heimat verwiesen zu haben. Dass dieses Eingeständnis eher klammheimlich als bedauernd verkündet wurde, sodass die Betroffenen etwa es nur zeitverzögert und über Umwege erfuhren, entspricht durchaus dem Bild, dass man noch heute zu Recht mit einer kommunistischen Diktatur verbindet.

Tatsächlich wurde im entsprechenden „Wiedergutmachungs-Erlass“ von 1964 behauptet, dass nunmehr die Gegenden des früheren Wohnorts der Deportierten besiedelt seien und dass die deutsche Bevölkerung an den neuen Wohnorten – gemeint waren die Deportationsziele – Fuß gefasst hätte. Diese Verhöhnung, meine Damen und Herren, genau das ist es nämlich, besiegelte eines endgültig: Die Russlanddeutschen sollten weder in ihre Heimat zurückkehren, noch sollten sie an ihr Leben vor dem Krieg anknüpfen. Sie waren und blieben Entwurzelte.

In der aktuellen Denkschrift der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland formulierte der Historiker Dr. Alfred Eisfeld wie folgt:

Aus den Deportationen der Kriegsjahre wurde eine endgültige Vertreibung. Das kollektive und individuelle Eigentum, alle Bildungs- und Kultureinrichtungen gingen unwiederbringlich verloren. Auch Kirchengebäude (…) und Grundstücke (…) konnten nicht mehr an die Gemeinden zurückgegeben werden (…). Diese Gemeinden existieren nicht mehr.

Es ist eine Tatsache der Geschichte, dass die Russlanddeutschen der Sowjetunion sowohl im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg zwischen die Räder der Diktaturen gerieten. Mit weitreichenden und verheerenden Folgen. Die Deportation markiert einen tiefen und bis in die Gegenwart nachwirkenden Einschnitt in die kollektive Biografie der Deutschen aus Russland. Es ist daher nur folgerichtig, meine Damen und Herren, dass Deutschland bis heute ihr Kriegsfolgenschicksal anerkennt und garantiert, dass sie als Deutsche nach Deutschland wiederkommen können. 

Die repressive Politik gegen die deutsche Minderheit in der ehemaligen UdSSR ist ein nur wenig bekanntes Kapitel russland- und bundesdeutscher Geschichte. Aufklärungsarbeit in dieser Sache leisten seit 2019 das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland in Nürnberg, gefördert vom Land Bayern – herzlichen Dank Herr Ministerpräsident, ich weiß, dass es ihre Initiative gewesen ist – sowie natürlich in Nordrhein-Westfalen das Detmolder Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte, dem Staatsministerin Grütters anlässlich eines Besuchs vor Ort die Bereitschaft der Bundesregierung zur dauerhaften Förderung zugesichert hat.

Lieber Herr Ministerpräsident Dr. Söder, sicherlich werden Sie, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, auch die eine oder andere politische Botschaft im Gepäck haben, und darauf freuen wir uns ehrlich. Ich möchte aber auch einige politischen Punkte ansprechen.

Wie kann es sein, dass in den Wahlprogrammen der meisten im Bundestag vertretenen Parteien die Vertriebenen und Spätaussiedler keine Rolle spielen – in einer Zeit, die geprägt ist von dem Ansatz, jeder gesellschaftlichen Gruppe, jeder Minderheit, jeder Meinung gerecht zu werden? Wie kann es sein, dass nur die CDU und die CSU sich in ihrem Programm ausführlich und zukunftsorientiert unserem Thema widmen?

Diese Fragen haben wir, übrigens als überparteilicher Verband, allen demokratischen Parteien im Bundestag gestellt: leider ohne Antwort. 

Das Bekenntnis zur deutschen Geschichte in all ihren Facetten muss parteienübergreifend auch diejenigen ansprechen, die ein besonders schweres Kriegsfolgeschicksal erleiden mussten. Das Programm der Unionsparteien stellt richtigerweise fest, dass ohne die Heimatvertriebenen der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg so nicht gelungen wäre.

Ich stehe heute hier als Vertreter des Bundes der Vertriebenen – eines Verbandes, der sich parteipolitisch dem Neutralitätsgebot verpflichtet hat und mit allen politischen Akteuren das Gespräch sucht und im Gespräch seht, die sich auf dem Boden unser freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen. Unser Verband nimmt jedoch zur Kenntnis, dass beinahe allen Parteien der Wille oder gar das Vermögen fehlt, sich zur Wahrhaftigkeit der Geschichtsschreibung zu bekennen oder zumindest sich mit uns zu darüber zu sprechen.

Nur die Unionsparteien stellen fest, dass „Vertriebene und ihre Nachkommen, Aussiedler und Spätaussiedler mit ihrem Können, ihrem Fleiß und ihrer kulturellen Tradition ein Gewinn für unser Land“ sind. Man werde deshalb „den verständigungs- und erinnerungspolitischen Einsatz der Vertriebenen- und Aussiedlerverbände, den Kulturerhalt und die Kulturarbeit durch eine zukunftssichere Förderung stärken“. Richtig und gut so!

Gerade auch der im Programm geäußerte Wille, „an der gesetzlich garantierten Aufnahme von Spätaussiedlern (…) festhalten und weiterhin Eingliederungshilfen leisten“ zu wollen, ist im 80. Jahr der Verbrechen an den Deutschen aus Russland ein wichtiges Zeichen für uns deutsche Heimatvertriebenen.

Derartiges, meine Damen und Herren, wollen wir in den Programmen aller Parteien lesen! Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler sind ein Teil des Querschnitts der Gesamtbevölkerung – und haben den Anspruch darauf, wahrgenommen zu werden. Leider Fehlanzeige.

Der BdV steht seit fast sieben Jahrzehnten auf dem Fundament unserer Charta der Heimatvertriebenen. Die Arbeit der Vertriebenenverbände ist nicht nur Selbstzweck, sondern ganz bewusstes Engagement für unsere Gesamtgesellschaft und das gute Verhältnis Deutschlands zu seinen Nachbarländern. 

Der Bund der Vertriebenen steht – und das, meine Damen und Herren, muss auch im Interesse unseres Landes sein – nach wie vor für das Bestreben, Ehrlichkeit in der Erinnerungs- und Gedenkkultur durchzusetzen. Wir fordern die Sicherung des kulturellen Erbes der Heimatvertriebenen und bieten den verständigungspolitischen Dialog mit den Nachbarn im Osten. Wir bieten das an.

Für uns umfasst die Sicherung des kulturellen Erbes auch die Sicherung des Wissens um die Umstände von Flucht und Vertreibung. Und das bringt mich unweigerlich zu dem im Juni dieses Jahres im Berliner Deutschlandhaus eröffneten „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Denn dieses ist ein wichtiger Baustein in der Erinnerungs- und Gedenkstättenlandschaft unseres Landes, mitten in der Bundeshauptstadt. 

Die Eröffnung, meine Damen und Herren, erfuhr medial hohe Aufmerksamkeit, nicht zuletzt, weil Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel teilnahm und das Schicksal der Heimatvertriebenen würdigte. Die Bundesrepublik Deutschland hat auf Initiative des Bundes der Vertriebenen und unserer Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN einen Erinnerungs- und Lernort geschaffen, der – natürlich eingebettet in seinem historischen Kontext – schwerpunktmäßig die Geschichte der 15 Millionen deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge darstellt, sich aber an die gesamte Gesellschaft, an eine breite, sogar internationale Öffentlichkeit richtet, die viel zu wenig vom Schicksal der Vertriebenen weiß. 

Das Dokumentationszentrum ist damit, anders als die landsmannschaftlichen und Landesmuseen, der Aufgabe verpflichtet, den Gesamtprozess in allen betroffenen Ländern und Gebieten an einem Ort zu erforschen, zu präsentieren und öffentlich zu machen.

Es ist zu hoffen, dass besonders jüngere und zukünftige Generationen die Möglichkeiten nutzen, der eigenen Familiengeschichte auf die Spur zu kommen. 
In der Einbettung in den historischen Kontext sowie in andere Flucht- und Vertreibungsgeschehen liegt für jeden Besucher die Chance zu erkennen, wie groß die Gefahren immer wieder zu beobachtender Kreisläufe von Rache und Gewalt gerade im Fall von Vertreibungen und ethnischen Säuberungen sind. 

Daher – und ich wiederhole noch einmal gerne – bleiben die zweifelsfreie Anerkennung des Heimatrechts als Menschenrecht sowie die Einführung eines internationalen Vertreibungsverbotes zwei der wichtigsten Anliegen des BdV als Menschenrechtsorganisation.

Meine Damen und Herren, ich ermutige Sie ausdrücklich, sich die Ausstellung anzusehen. Teilen Sie Lob und Kritik gerne mit dem Bund der Vertriebenen. Ganz gleich, ob Sie inhaltliche oder ausstellungstechnische Punkte ansprechen wollen, egal ob Sie rechtliche Hintergründe der Grenzziehungen detaillierter behandelt sehen wollen oder – wie ich etwa – das Gendern dort unerträglich finden: Lassen Sie uns kritisch, aber konstruktiv sein – so, wie es auch die sechs Mitglieder des BdV im Stiftungsrat weiterhin sein werden. Wir bringen jede berechtigte Kritik und jeden Verbesserungsvorschlag konstruktiv in ihrem Sinne in die dortige Arbeit ein.

Meine Damen und Herren, liebe Landsleute, wie jedes Jahr spreche ich zum Schluss meinen herzlichen Dank aus: Ihnen persönlich, sowie allen unseren Mitstreitern in den Landes- und Kreisverbänden, in den Landsmannschaften und Kulturgruppen. 

Ihre ehrenamtliche Arbeit, meine Damen und Herren, kann nicht mit Gold aufgewogen werden.

Wir wollen das, was uns verbindet, gemeinsam und mit viel Entschlossenheit in die Zukunft tragen. Und wir wollen zusammenhalten.

Dafür danke ich Ihnen.