BDV - Tag der Heimat 2016

Tag der Heimat 2015

Programm

29. August 2015, 12:00 Uhr

Urania Berlin, Humboldt-Saal

Verleihung der Ehrenpräsidentschaft

an

Erika Steinbach MdB

durch

Dr. Bernd Fabritius MdB

Präsident

Grußwort

von

Dr. László Trócsányi

Justizminister der Republik Ungarn

„Intrada“

Melchior Franck (1573 - 1639)

Geistliches Wort und Gedenken

Helge Klassohn

Kirchenpräsident i.R.

Beauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland EKD für Fragen der Spätaussiedler und der Heimatvertriebenen

„Spiritual-Gebet“

Enrique Crespo (1941)

Ansprache

Dr. Bernd Fabritius MdB

Präsident

Verleihung der Ehrenplakette

an

den Freistaat Bayern

vertreten durch

Sozialministerin des Freistaates Bayern
Emilia Müller MdL,

das Land Hessen

vertreten durch die

Hessische Ministerin für Bundesangelegenheiten und Bevollmächtigte des Landes Hessen beim Bund
Lucia Puttrich

und den Freistaat Sachsen,

vertreten durch den

Staatssekretär in Berlin und Bevollmächtigten des Freistaates Sachsen beim Bund
Erhard Weimann

Dankesworte

stellvertretend für die Geehrten

Emilia Müller MdL

Bayerische Sozialministerin
Schirmherrschaftsministerin der Sudetendeutschen

Festrede

Stephan Weil MdL

Ministerpräsident des Landes Niedersachsen

Kanon

Johann Pachelbel (1653 - 1706)

Nationalhymne

Im Anschluss an den Festakt findet um 15:00 Uhr die Kranzniederlegung auf dem Theodor-Heuss-Platz statt.

Potsdamer Turmbläser

Bernhard Bosecker (Ltg.),

Björn Brünnich, Sven Geipel, Rainer Wirth (Trompete),

Dieter Bethke, Michael Wolter (Posaune),

Gisbert Näther (Horn),

Tilmann Hennig (Tuba)


Videodokumentation


Bericht zum Tag der Heimat in der Berliner Urania


Ansprache zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 29. August 2015 in Berlin

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius MdB

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil,

Herr Justizminister,

meine Damen und Herren Länderminister,

liebe Ehrengäste,

liebe Landsleute,

ich begrüße Sie im Namen des Bundes der Vertriebenen zum diesjährigen Tag der Heimat, der unter dem Motto „Vertreibungen sind Unrecht – gestern wie heute“ steht.

Bereits fünf Jahre nach der Potsdamer Konferenz versammelten sich am 6. August 1950 weit über 100.000 Vertriebene in Stuttgart, um einerseits auf die Not und Rechtlosigkeit der Vertriebenen aufmerksam zu machen, und andererseits die Charta der Heimatvertriebenen zu proklamieren. Es war der erste offizielle Tag der Heimat!

Bereits ein Jahr später, im November 1951, als Bundeskanzler Adenauer anlässlich der Konstituierung des „Bundes der vertriebenen Deutschen“ in Hannover zu den Vertriebenen sprach, stellte er mit Genugtuung fest, dass jener Festakt unter dem Leitwort „Heimat, Deutschland, Europa“ stand.

Dieses Motto war ein klares Bekenntnis zu der Westeuropa-Politik der Bundesregierung und des Kanzlers. Es stärkte dementsprechend seine Verhandlungsposition gegenüber Frankreich, das hinsichtlich der außenpolitischen Orientierung der Millionen deutschen Heimatvertriebenen nach wie vor skeptisch war. Mit zusätzlichem Verweis auf die 1950 verabschiedete Charta konnte Adenauer jederzeit zu Recht behaupten, dass Vertriebene und Flüchtlinge hinter seiner friedlichen westlichen Integrationspolitik stehen.

In der sowjetisch besetzten Zone des Nachkriegsdeutschland war es anders: Nach der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im Görlitzer Vertrag von 1950 durch die DDR waren dort Erinnerungen an die Heimat nicht erwünscht. Den Vertriebenen in der DDR war es jahrzehntelang, bis zum Zusammenbruch des Ostblocks, bei Androhung von Gefängnisstrafe verboten, über ihre persönliche Geschichte zu sprechen. Vergessen wir nicht, dass allein auf dem Gebiet der späteren DDR rund 4 Mio. Vertriebene gestrandet waren!

DDR-Integrationspolitik war purer Zwang zur bedingungslosen Assimilation. Im Gegensatz dazu verfolgt die Eingliederungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland bis heute – bezogen auf die Spätaussiedler – das Ziel, eine soziale und wirtschaftliche Integration zu gewährleisten und dabei die Identität der Betroffenen zu wahren.

Der Tag der Heimat hat in Deutschland gottseidank auch die DDR überlebt. Es ist jahrzehntelange Tradition, zum Tag der Heimat

  • Aktualität herzustellen,
  • Entwicklungen zu benennen,
  • Forderungen zu formulieren
  • und über den eigenen Tellerrand zu blicken.

Meine Damen und Herren, Nachrichten über die jüngste Flüchtlingskatastrophe, die in Österreich in einem LKW entdeckten und vermutlich qualvoll erstickten 71 Menschen, machen uns und mich persönlich tief betroffen!

Nach solchen Nachrichten können und wollen wir nicht einfach zum politischen Alltag übergehen. Wir erleben inzwischen eine humanitäre Katastrophe unglaublichen Ausmaßes – direkt in unserer Mitte. Schleuser, meine Damen und Herren, betreiben ein skrupelloses und kriminelles Geschäft, in dem Menschen nur eine Ware sind – und deren Not Teil eines perfiden Geschäftsmodelles. Das ist durch und durch verwerflich und gehört gleichermaßen bekämpft, wie die Flucht- und Vertreibungsursachen selbst.

Und, meine Damen und Herren, ich kann nur noch sagen: Diese Tragödie ist eine Schande für diejenigen Staaten in Europa und der Welt, die sich einer Lösung der akuten Notsituation in der notwendigen Solidarität verschließen und so tun, als ob das Problem sie nichts angehe. Menschliche Dramen müssen uns alle angehen!

Der Bund der Vertriebenen ruft auch zum Tag der Heimat dazu auf, den Opfern von Flucht und Vertreibung in Gegenwart und Zukunft Hilfe zu bieten und ihnen mit Anteilnahme zu begegnen.

Der Bund der Vertriebenen hat bereits Ende letzten Jahres als Leitwort für 2015 festgelegt: „Vertreibungen sind Unrecht – gestern wie heute“. Die deutschen Heimatvertriebenen, meine Damen und Herren, wissen, wie es ist, als Vertriebener die Heimat zu verlieren und in die Fremde zu müssen. Auch sie wurden nach dem Krieg von vielen als fremd und als Belastung wahrgenommen.

Trotzdem ist die Situation der deutschen Heimatvertriebenen nicht mit der Situation des aktuellen Flüchtlingsgeschehens und den sich heute stellenden Herausforderungen vergleichbar. Nach dem Krieg, meine Damen und Herren, kamen Landsleute, es kamen Menschen aus demselben Kulturkreis, sie sprachen dieselbe Sprache, beteten trotz unterschiedlicher Konfessionen zu demselben Gott, sie lebten die gleichen Wertvorstellungen.

Für viele Flüchtlinge und Vertriebene heute ist es um ein Vielfaches schwerer, weil sie aus anderen Kulturen kommen und sprichwörtlich in der Fremde sind. Schwerer ist es daher auch für die aufnehmende Gesellschaft. Trotzdem und gerade deshalb bitte ich Sie, den leidgeprüften Menschen von heute mit noch mehr Empathie zu begegnen, als uns und unseren Müttern und Vätern vor 70 Jahren zuerst entgegengebracht wurde.

Sie, Herr Klassohn, haben von einer kalten Heimat gesprochen. Bieten wir doch den Vertriebenen und Flüchtlingen von heute offene Herzen. Die Menschen, meine Damen und Herren, die aus Bürgerkriegsländern kommen und um Leib und Leben bangen, brauchen unseren Schutz. Es ist unsere ethische, moralische und menschliche Pflicht, diesen Menschen Obhut zu gewähren. Das entspricht unserem christlichen Menschenbild, und deswegen wollen wir helfen.

Der Bund der Vertriebenen betreibt deswegen, auch deswegen, 13 Betreuungsstellen in 10 Bundesländern, in denen natürlich vorrangig deutsche Aussiedler und Spätaussiedler betreut werden, aber auch Opfer von Flucht und Vertreibung von heute Rat und Hilfe bekommen. Im letzten Jahr konnten wir so über 5.000 Fälle betreuen. In diesem Jahr sind es heute bereits mehr, darunter gut 40 Prozent Opfer aus aktuellen Krisengebieten. Diesen Menschen, meine Damen und Herren, können wir helfen. Diesen Menschen kann Deutschland helfen.

An dieser Stelle möchte ich dem Kirchlichen Suchdienst danken, der nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung der Deutschen über die Pfarrämter meist erste Anlaufstelle für getrennte Familien gewesen ist. Er hat Ende September dieses Jahres nach 70 Jahren und 18 Millionen Anfragen seine erfolgreiche Arbeit einstellt. Der Bund der Vertriebenen sagt Dankeschön!

Nun, meine Damen und Herren, was ist angesichts der aktuellen Flüchtlingssituation zu tun? Der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, Prof. Dr. Klaus Hänsch, der 1938 im schlesischen Sprottau geboren wurde, sagte letztes Jahr in Frankfurt anlässlich der Verleihung unseres Franz-Werfel-Menschenrechtspreises des Zentrums gegen Vertreibungen:

„Wir werden nicht allen helfen können, das ist klar. Aber es ist kein Grund, keinem zu helfen. Angesichts der Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa kommen und bleiben dürfen, ist die Behauptung, Europa schotte sich ab, ebenso unsinnig und falsch wie die Behauptung, das Boot sei voll. Aber widersinnig ist es, wenn wir Menschen aus Staaten, die schon als Beitrittskandidaten zur Europäischen Union anerkannt sind, immer noch den Status von Verfolgten einräumen.“

Meine Damen und Herren, der BdV fordert daher:

  • eine nachhaltige Bekämpfung der Vertreibungsursachen und der Vertreiber.
  • Er fordert europäische Solidarität zur Bewältigung des Leides dennoch vorhandener Opfer von Flucht und Vertreibung.
  • Und er fordert eine klare Differenzierung zwischen diesen Opfern und solchen Menschen, die NICHT vertrieben werden, sondern sich selbst, aus meist wirtschaftlichen Gründen, für eine freiwillige Migration entscheiden! Soviel zur Aktualität.

In die Geschichtsbücher des Bundes der Vertriebenen, meine Damen und Herren,  wird das Jahr 2015 eingehen als das Jahr, in welchem Deutschland aktiv auf seine Vertriebenen zugegangen ist.

Der Gedenktag am 20. Juni, der in diesem Jahr erstmalig begangen wurde, ist der nationale Gedenktag der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Das betont unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel erneut in ihrem Grußwort, das sie uns zum heutigen Festakt zugeschickt hat:

„Der 20. Juni ist nunmehr unser nationaler Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Er wird jährlich dazu beitragen, dass die Erinnerung an das Schicksal und die Kultur der deutschen Heimatvertriebenen lebendig bleibt.“

Lassen Sie mich einen Schritt weiter gehen und festhalten, dass die Wahl dieses Tages, die nicht immer unumstritten war, eine deutliche Absage an alle Kollektivschuld-Theorien ist, die den Opfern dieser Vertreibung Verantwortung für die eigene Vertreibung anlasten und den Unrechtsgehalt schmälern wollen. Gerade für einige Länder in Osteuropa ist dieses Signal auch im 21. Jahrhundert leider noch wichtig.

Der Gedenktag ist dem Leid, den Verlusten, den menschlichen Tragödien und den Toten gewidmet. Jedes Jahr am 20. Juni werden wir nunmehr öffentlich an die grausamen Vertreibungen im Sudetenland sowie im slowakischen und westukrainischen Karpatenraum erinnern. Wir werden an die Vertreibungen in Südosteuropa, einschließlich des gesamten Donauraums, an die Vertreibungen aus Schlesien, Ost- und Westpreußen, aus Pommern, aus Danzig und Ostbrandenburg erinnern. Wir werden unsere Gedanken zu den Deutschen aus dem Baltikum richten und wir werden die Deportation der Deutschen aus Russland, vor allem aus den Gebieten der Wolgarepublik ansprechen. Wir werden Leid, Unrecht und Todesopfer beklagen und ein würdiges Gedenken etablieren.

Deutschland war uns, seinen eigenen vertriebenen Landsleuten, diesen Gedenktag schuldig! Es hat ihn nun geschaffen!

Der Tag der Heimat, meine Damen und Herren, hingegen ist und bleibt der wichtigste Ankerpunkt im Jahreskalender der Vertriebenen und unseres Verbandes – bis in die untersten Gliederungen –, der in die Zukunft gerichtet ist. Auf den letzten 65 Tagen der Heimat haben die Vertriebenen – und auch die mit den Jahren stetig wachsende Zahl der Spätaussiedler – sowohl der eigenen Toten und Leidgeprüften der Vergangenheit gedacht als auch beharrlich jeweils aktuelles Zeitgeschehen, das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben in seinen Mitgliedsverbänden aufgegriffen und die dann notwendigen Forderungen in die Gesellschaft hineingetragen.

Im Gegensatz zum nationalen Gedenktag am 20. Juni rückt der Tag der Heimat also das Leben und das Überleben sowie Gegenwart und Zukunft unserer Heimat in den Fokus der Aufmerksamkeit. Den Tag der Heimat werden wir auch weiterhin begehen, denn seine Legitimation bezieht er aus 65 Jahren verlässlichen Handelns des Bundes der Vertriebenen. Wie schreibt uns doch unser Innenminister Dr. Thomas de Maizière so treffend in seinem Grußwort:

„Vergangenheit bewältigen, in der Gegenwart leben, Zukunft gestalten – so lässt sich die Arbeit des Bundes der Vertriebenen seit seiner Gründung auf den Punkt bringen.“

„Heimat“, meine Damen und Herren, ist einer der zentralen Begriffe, um den sich unser Wirken orientiert und den wir aus allen möglichen Perspektiven reflektieren müssen.

Viele von uns haben die Erfahrung gemacht, dass „Heimat“ als eine ganz besondere „Sehnsucht des Herzens“ immer mehr an Bedeutung gewinnt, sobald man sie verloren hat. Heimat ist viel mehr als nur ein geographischer Ort. Heimat sind Orte, Verstecke, Gerüche, Klänge, Lieder und Freunde – aber auch die einzigartige Wolkenformation über dem Elternhaus, den vertrauten Wiesen und Wäldern.

Heimat ist die „innere Landschaft“ in uns selbst. Ich möchte sie die „Topographie des Herzens“ nennen.

Doch, meine Damen und Herren, haben wir inzwischen alle den notwendigen Mut, unser Heimatverständnis ehrlich und selbstkritisch zu prüfen?

Ja, selbstverständlich haben viele unter uns unsagbar viel verloren und aufgeben müssen. Ich denke hier ganz besonders auch an Werte und Schätze jenseits des Materiellen. Selbst ein Dreivierteljahrhundert genügt nicht, um den Schmerz des Verlustes zu kompensieren.

Aber, meine Damen und Herren, wir haben inzwischen Freunde als Nachbarn. Das betone ich, Herr Justizminister aus Ungarn, ausdrücklich. Gegenseitiges Verständnis wächst, so können wir zunehmend angehen, was uns wichtig ist. Die Landsmannschaften, die intensive Kontakte in den Heimatländer pflegen, wissen das und können es bestätigen.

Vertriebene und Spätaussiedler haben jeweils eigene regionale Kulturen, sie haben große Persönlichkeiten aus ihren Reihen hervorgebracht, sie haben zum wirtschaftlichen Aufbau Deutschlands entscheidend beigetragen. In den Heimatländern hat sich als Zeugnis der Kultur eine Architektur erhalten, die die Handschrift unserer Ahnen trägt. Es gibt heute noch in Schlesien und Ostpreußen, in Siebenbürgen und im Banat und in vielen weiteren Heimatregionen deutsches Leben, das wir unterstützen wollen. Das kulturelle Erbe aus der Heimat ist für uns, meine Damen und Herren, nicht nur Vergangenheit, sondern Gegenwart und Zukunft. Dieses wollen wir kommenden Generationen weitergeben.

Nun, die Voraussetzungen dafür sind so gut wie nie. Die Europäische Osterweiterung, meine Damen und Herren, hat uns doch irgendwie „die Heimat zurückgebracht“. Im Sudetenland, in Schlesien und fast überall, in unseren Heimatgebieten, sind wir heute „EU-Inländer“. Wir können dort wohnen, Eigentum erwerben, Familien gründen – ja, wir können dort wieder Heimat haben.

Schon deshalb erscheint es mir völlig selbstverständlich, dass der Dialog zwischen Deutschland und Ländern wie Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn oder Rumänien heute ein zutiefst anders gearteter sein kann und sein muss als noch vor 25 Jahren! Gerade Ungarn, Herr Justizminister, aber auch Rumänien und die Tschechische Republik sind beste Beispiele dafür.

Das gilt für alle Bereiche – für Wirtschaft, für Wissenschaft, für die Kultur, für Geschichte! Ja, auch Geschichte. Auch für die Geschichte der Vertreibung der Deutschen aus ihren Heimatgebieten. Deutschland und seine Vertriebenen sind gereift, sie suchen das offene Gespräch. Ich erinnere an die Aussage unseres Innenministers Dr. Thomas de Maizière anlässlich des Festakts zum nationalen Gedenktag am 20. Juni in Berlin. Er sagte wörtlich:

„Für mich ist der heutige Gedenktag auch ein Zeichen dafür, dass wir als Land und Gesellschaft erwachsen geworden sind, auch im Umgang mit dem Thema Heimatvertriebene. Die Beziehungen auch zu unseren östlichen Nachbarn sind vertrauensvoll, freundschaftlich und verlässlich.“

Mehr als 25 Jahre nach dem Fall des Ostblocks, mehr als elf Jahre nach der EU-Osterweiterung und dem Beitritt der baltischen Staaten sowie unserer östlichen Nachbarn Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn möchten wir deutschen Heimatvertriebenen endlich einen kritischen, aber vorurteilsfreien Dialog mit diesen Ländern führen. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, dass man unter Nachbarn, ja unter Freunden, über Jahrzehnte hinweg bestimmte Themen tabuisieren muss, weil ansonsten politische Verwerfungen drohen – oder dieses behauptet wird. 70 Jahre nach Kriegsende ist die Zeit reif dafür.

Niemand von uns will heute neues Unrecht schaffen. Was wir wollen, ist Anerkennung historischer Wahrheiten, die Einsicht der Völkerrechtswidrigkeit der Vertreibungen dort, wo diese Einsicht noch fehlt und ein Ablassen von Kollektivschuld- und Rechtfertigungstheorien.

Auch in Deutschland haben wir noch einiges zu tun: Wir müssen uns die Frage stellen, meine Damen und Herren, wie Deutschland die Erinnerung an seine – vor allem zivilen – Opfer von Flucht und Vertreibung im kollektiven Gedächtnis verankern kann. Wir müssen uns auch Gedanken darüber machen, wie wir die Heimat, die wir im Herzen tragen, in versöhnlicher Weise in das historische Gedächtnis Deutschlands einspeisen können.

Wir benötigen eine ehrliche und angemessene Erinnerungskultur!

  • Dafür gibt es landsmannschaftlich getragene, institutionell unterstützte Museen,
  • es gibt Forschungsinstitute mit Schwerpunkten zur mittel- und ostdeutschen Geschichte und Kultur,
  • ich erwähne die BdV-Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen und ausdrücklich die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung,
  • es gibt in Hunderten von Städten und Gemeinden Mahnmale und Denkmäler für die Opfer von Flucht und Vertreibung, hier in Berlin z.B. die „Ewige Flamme“ am Theodor-Heuss-Platz, wo anschließend unsere feierliche Kranzniederlegung stattfindet, zu der ich Sie alle jetzt schon einlade,
  • es gibt kaum eine Gemeinde, kaum eine Stadt in Deutschland, die ohne Straßennamen mit mittel- und ostdeutschem Bezug auskommt. Als Beispiel nenne ich nur den zentralen Bahnhofsvorplatz in der viertgrößten Stadt Deutschlands, Köln, der den Namen Breslauer Platz trägt.

Sowohl zur Mahnung an kommende Generationen als auch aus Achtung vor den Opfern aus unseren Reihen ist es notwendig, über kurz oder lang einen unumstrittenen, angemessenen und würdigen Rahmen für diesen Teil unserer Kollektiverinnerung zu definieren. Es handelt sich um einen wesentlichen Teil unserer gesamtdeutschen Geschichte, diese so und nicht anders in unserer Gesellschaft hinein zu reflektieren bleibt unsere gemeinsame Aufgabe!

Wenn wir von Erinnerung und Erinnerungskultur sprechen, vergessen wir bitte nicht, dass bittere Erinnerungen durch nachträgliche Gesten der Wiedergutmachung etwas weniger bitter sein könnten!

Auf seiner letzten Bundesversammlung hat der BdV daher beschlossen, die Errichtung eines Entschädigungsfonds für deutsche Zwangsarbeiter zu fordern. Es ist, meine Damen und Herren, längst an der Zeit, dass auch diese Opfergruppe, von der nur noch wenige Vertreter leben, aus einem solchen Entschädigungsfonds eine Entschädigung erfährt und so aus dem Schatten der Vergessenheit herausgenommen wird.

Es waren damals mehr als eine Million deutscher Zwangsarbeiter, die vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Darunter auch mein Großvater. Am 14. Januar 1945 wurde er, damals Vater von vier kleinen Kindern und einziger Ernährer der Familie, für fünf Jahre in sowjetische Zwangsarbeit verschleppt, als „menschliche Kriegsreparation“, wie das damals genannt wurde. Er hat Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ in jeder Facette der dort geschilderten Grausamkeiten, Zeile für Zeile, am eigenen Leib erfahren.

Heute, meine Damen und Herren, leben nur noch wenige dieser Opfer. Auch mein Opa ist lange tot. Dennoch ist es wichtig, dass wir Heimatvertriebenen als Teil der gesamtdeutschen Zivilgesellschaft die späte Anerkennung des maßlosen Unrechts gegen diese Menschen einfordern, die wissenschaftliche Aufbereitung der damaligen Geschehnisse und Zusammenhänge vorantreiben und, ja, uns für eine gerechte Entschädigung der Opfer einsetzen.

Der BdV ist – auch in diesem Zusammenhang – notwendigerweise darauf angewiesen, in der bundesdeutschen Öffentlichkeit Gehör zu finden. Wir haben noch nicht alles erreicht, was wir uns im Sinne der Vertriebenen und Spätaussiedler gewünscht hätten. Aber das, was wir erreicht haben, macht uns zuversichtlich.

Wir sind als Gesamtverband bekannt und anerkannt, weil wir seit Jahren und Jahrzehnten mit guten Argumenten und festen Standpunkten überzeugen. Weil es in der Gesellschaft und in der Politik dadurch immer wieder und immer mehr offene Ohren für unsere Anliegen gibt.

Wir wollen zeitgemäß wirken, aber nichts unterlassen, nur weil es nicht opportun erscheinen mag. Wir wollen den am 20. Juni mit unserem Gedenktag eröffneten Weg selbstbewusst beschreiten und zeigen, dass das Schicksal der Vertriebenen und Aussiedler eine gesamtdeutsche Angelegenheit ist. Wir wollen mutig, aber realistisch bleiben.

Lassen Sie uns zuversichtlich in die Zukunft schauen und unsere Heimat mitgestalten.

Dankeschön.


Festrede zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 29. August 2015 in der Berliner Urania

Stephan Weil MdL, Ministerpräsident des Landes Niedersachsen

Sehr geehrter Präsident Dr. Fabritius,

Herr Justizminister,

liebe Kolleginnen und Kollegen Ministerinnen und Minister,

Senatoren aus den Ländern,

meine Damen und Herren Abgeordneten,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

zunächst einmal ganz herzlich Dank dafür, dass ich hier, auf dem Festakt des BdV zum Tag der Heimat einige Bemerkungen machen darf. Ich bin dieser Einladung ausgesprochen gerne gefolgt. Seit 70 Jahren besteht eine ausgesprochen enge Verbindung zwischen dem Land Niedersachsen und den Vertriebenen – warum das so ist, dazu werde ich noch in meinen Ausführungen ein ganz klein wenig sagen, aber vielleicht so viel: Mit einem der Flüchtlingstrecks gelangte der Gründungsvater des Landes Niedersachsen Hinrich Wilhelm Kopf in sein künftiges Land, das es damals noch gar nicht gab.

Das bringt zum Ausdruck, wie tief die Verbindung ist. Das gilt natürlich auch für die anderen Bundesländer und deswegen möchte ich eingangs sehr herzlich den Freistaaten Bayern und Sachsen und dem Land Hessen und meinen Kollegen Ministerpräsidenten sehr herzlich gratulieren zu der Verleihung der Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Jahr 2015 ist ja ein Jahr der Erinnerung. Ein Jahr der Jubiläen, und es hat vor allen Dingen in vielerlei Hinsicht Gelegenheit gegeben, an die Entstehung unseres Staates, der Bundesrepublik Deutschland, zu erinnern. Wenn man einmal in die Geschichte schaut, dann findet man viele Beispiele dafür, dass die Gründungsgeschichte, vielfach auch der Gründungsmythos eines Landes eine fortdauernde Bedeutung für das Selbstverständnis des entsprechenden Staates hat.

Denken Sie an die Vereinigten Staaten von Amerika: Das Bild von freien, auf sich selbst gestellten Menschen, die sich ihr Land selbst erobern, das prägt das amerikanische Nationalverständnis bis heute. Oder denken Sie an Großbritannien: Die Magna Carta war ein entscheidender Schritt zur Etablierung der Freiheit, persönlich und politisch und ist bis heute ein Gegenstand von nationalem Stolz.

Dass historische Entwicklungen dabei auch gelegentlich ein wenig verklärt werden, das tut eigentlich nicht viel zur Sache und schmälert die Strahlkraft einer solchen Gründungsgeschichte für die nachfolgenden Generationen nicht.

Auch unser Land, auch die Bundesrepublik Deutschland hat eine Gründungsgeschichte. Sie ist aber eine ganz andere. Sie beginnt an dem absoluten Tiefpunkt der deutschen Geschichte mit dem Kriegsende vor 70 Jahren.

Der von Deutschland begonnene Zweite Weltkrieg endete mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Die Kriegsfolgen waren in vielen Ländern Europas verheerend, nicht zuletzt in Deutschland selbst. Die Städte lagen in Trümmern, die Wirtschaft war ruiniert, die Menschen am Ende. Aber das war noch nicht alles: Unser Land, Deutschland, befand sich auch auf dem moralischen Tiefpunkt seiner Geschichte.

„Oh Deutschland, bleiche Mutter!
Wie sitzest du besudelt
unter den Völkern.
Unter den Befleckten
fällst du auf.“

So dichtete 1933 Bertolt Brecht, und er konnte kaum ahnen, wie sehr er mit seiner Prophezeiung recht behalten sollte. Die zwischen 1933 und 1945 begangenen Verbrechen, vor allem die in der Menschheitsgeschichte beispiellose Vernichtung von Millionen von Menschen mit industrieller Perfektion, standen eben auch für ein moralisches Desaster unseres Volkes. Und zu Recht ist daran in diesem Jahr aus Anlass von 70 Jahren Kriegsende immer wieder erinnert worden.

Meine Damen und Herren, wir müssen uns diesen Hintergrund vor Augen führen, wenn wir die Nachkriegsgeschichte einordnen wollen. Das Kriegsende war eben nicht nur ein Ende, sondern es war vor allem auch ein Anfang. Deutschland, mindestens sein westlicher Teil, konnte von seinem Tiefpunkt aus einen langanhaltenden Aufstieg antreten, der vielleicht heute noch nicht einmal so ganz abgeschlossen ist.

Und wie Phönix aus der Asche mutet die Geschichte der jungen Bundesrepublik Deutschland an, und der Gründungsmythos unseres Landes ist geprägt von Trümmerfrauen nach dem Kriegsende, von einem beispiellosen Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit, nicht zuletzt übrigens auch von Bern 1954 – dem völlig überraschenden Weltmeistertitel der scheinbar chancenlosen deutschen Fußballnationalmannschaft.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bis heute unterschätzt ist der Beitrag der Vertriebenen zu dieser Erfolgsgeschichte, obwohl er untrennbar mit der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik verbunden ist. Das ergibt sich schon aus der schieren Zahl. Etwa zwölf Millionen Menschen hatten, wie Sie wissen, nach dem Krieg, insbesondere in den westlichen Ländern, aber natürlich auch im sowjetisch besetzten Teil Zuflucht gesucht. Was heißt das?

In Niedersachsen beispielsweise waren es mehr als 1,8 Millionen Vertriebene, die 1950 gezählt wurden, und damit mehr als ein Viertel der gesamten Bevölkerung. Es ist völlig ausgeschlossen, sich den Aufstieg der Bundesrepublik Deutschland ohne die Aufbauleistung dieser Menschen vorzustellen. Und das wiegt umso schwerer, als die Vertriebenen ja gleichzeitig auch noch das Trauma ihrer Vertreibung bewältigen und neue Wurzeln schlagen mussten. Daran müssen wir immer und immer wieder erinnern. Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Ohne die Vertriebenen wäre der Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg niemals möglich gewesen, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Nicht sehr oft wird dabei auch über die Schwierigkeiten gesprochen, denen die Vertriebenen damals begegnet sind. Es waren nämlich zumeist nicht ausgebreitete Arme, die sich ihnen entgegenstreckten, sondern in vielen, vielen Fällen Distanz und Ablehnung, obwohl es sich ja auf beiden Seiten um Deutsche gehandelt hat, obwohl sie beide dieselbe Sprache sprachen, obwohl sie dieselbe Kultur pflegten.

Es ist schon das Wort von der kalten Heimat gefallen und diese Erfahrung, die haben damals viele Vertriebene gemacht. „Die Flüchtlinge und die Kartoffelkäfer werden wir nicht mehr los", so hieß es damals in einem hässlichen Wort, und in vielen Familiengeschichten findet man Beispiele für die Haltung, mit der damals Vertriebene, die Zuflucht gesucht haben, kämpfen mussten.

Und trotzdem ließen sich die Vertriebenen nicht entmutigen, trotzdem schufen sie sich selbst eine neue Existenz und leisteten einen großen, einen unersetzlichen Beitrag zum Aufbau des gesamten Landes. Und dafür gebührt Ihnen der verdiente Dank, gerade auch der nachfolgenden Generationen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich an diese Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland erinnere, dann ist es natürlich nicht nur eine historische Betrachtung, die ich anstelle. Zuwanderung aus tiefer Not heraus war von Anfang an prägend für die Bundesrepublik Deutschland und ist es unter unterschiedlichen Bedingungen über die Jahrzehnte hinweg geblieben.

Wir haben dafür in Niedersachsen ein sehr eindrückliches Beispiel, das Lager Friedland bei Göttingen. Ihnen allen wird Friedland ein Begriff sein. Die Geschichte dieses Lagers ist zugleich die Geschichte von Flucht und Vertreibung in den letzten 70 Jahren. Das Lager Friedland wurde im September 1945 eröffnet und diente zunächst Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland als Zuflucht. Später waren es dann vor allen Dingen Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft, die nach Friedland gelangten. Und unvergessen ist der Empfang der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus Russland durch Bundeskanzler Adenauer im Jahr 1955. Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR waren dann seit den sechziger Jahren Bewohner des Lagers und vor allen Dingen seit den achtziger Jahren wurde Friedland das Aufnahmelager für tausende von Spätaussiedlern aus der früheren UdSSR.

Aber nicht allein deutsche Bürgerinnen und Bürger suchten Zuflucht im Lager Friedland, das Lager spiegelte auch immer wieder internationale Fluchtbewegungen wider. 1956 waren es Flüchtlinge aus Ungarn, 1973 aus Chile, 1978 gelangten Flüchtlinge aus Vietnam – die sogenannten „Boatpeople“ – nach Friedland, und seit 2009 sind dort verstärkt irakische Flüchtlinge angekommen. Es ist eine vielschichtige Geschichte von Flucht und Vertreibung seit 1945, die sich im Lager Friedland widerspiegelt. Im nächsten Jahr werden wir dort ein Museum eröffnen, das sich dieser Geschichte widmet, und ich bin sicher, es wird ein wichtiger Platz werden für die Dokumentation der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland insgesamt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Friedland ist auch aktuell wieder ein Spiegelbild von Fluchtbewegungen auf der ganzen Welt. Wir erleben derzeit die größte Flüchtlingsbewegung weltweit seit dem Zweiten Weltkrieg. Es sind ca. 60 Millionen Menschen, die gegenwärtig gezwungenermaßen ihre Heimat verlassen haben und sich auf der Suche nach Zuflucht befinden. Friedland ist eine dieser Erstaufnahmeeinrichtungen, die für Flüchtlinge nach Deutschland vorgesehen sind, und das Lager steht in Anbetracht der hohen Zugangszahlen derzeit einmal mehr massiv unter Druck. Es sind dort viel mehr Menschen untergebracht, als die Kapazitäten eigentlich hergeben – das ist in Friedland ebenso wie in vielen, vielen anderen Erstaufnahmeeinrichtungen in den unterschiedlichen Deutschen Ländern.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach meinem Dafürhalten zählt es zu den großen, zu den ganz großen Vorzügen unseres Staates, dass unser Gemeinwesen bereit und in der Lage ist, die eigene Vergangenheit nicht ad acta zu legen, sondern sich mit ihr auseinanderzusetzen. International steht die Bundesrepublik beispielhaft für die gelungene Erinnerungsarbeit eines Staates. So schwer das ist und so unvollkommen unsere Bemühungen in dieser Hinsicht immer bleiben müssen, ich glaube, wir können sagen, wir geben uns in der Bundesrepublik alle Mühe, aus der eigenen Geschichte zu lernen. Das ist häufig unbequem und belastend, aber es ist notwendig.

Deutschland hat vor dem Hintergrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung für Frieden und Aussöhnung. Und viele Beiträge aus der deutschen Politik heraus haben über Jahrzehnte hinweg zum Ausdruck gebracht, dass wir uns dieser Verantwortung stellen. Das Gleiche gilt für Mitmenschlichkeit und Solidarität, für Hilfe in der Not. Viele Familien in unserem Land haben in ihrer eigenen Familiengeschichte Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung. Viele von uns wissen deswegen selbst oder aus den Erzählungen in der Familie sehr genau, wie wichtig Hilfe für die Opfer von Gewalt und Unterdrückung sind. Wenn wir uns selbst treu bleiben wollen, dann ist das, so meine ich, auch der Maßstab für unseren Umgang mit den Menschen aus vielen Teilen der Welt, die aus tiefer Not heraus zu uns kommen.

Gewiss, es werden nicht alle, die zu uns kommen, auch bei uns bleiben können. Es ist eine dringende Forderung an die Bundespolitik, das Asylverfahren so zu beschleunigen, dass die Bleibeperspektive rasch geklärt wird. In dem einen Fall müssen wir uns intensiver um die Integration von Menschen kümmern, die Anspruch auf Asyl haben. In dem anderen Fall müssen wir auch Menschen wieder veranlassen, unser Land wieder zu verlassen. Aber machen wir uns nichts vor: Es ist ein durchaus hoher Anteil von Menschen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive, die derzeit zu uns kommen – sehr viel höher als etwa in den neunziger Jahren. Das sind Menschen, die ihre Heimat nicht freiwillig verlassen haben, die alles aufgegeben haben und die bei uns Schutz suchen.

In diesen Menschen können viele von uns ihre eigene Familiengeschichte wiedererkennen, in diesen Menschen spiegelt sich dieselbe Not wieder, die auch vor 70 Jahren deutsche Vertriebene erlitten haben. Um nur ein besonderes schlimmes Beispiel zu erwähnen: Viele Frauen haben 1945 auf der Flucht sexuelle Gewalt erlitten. Heute sind es im Irak und in Syrien wieder Frauen, die Opfer von widerwärtiger Verbrechen werden. Die historischen Bedingungen mögen unterschiedlich sein, die Not der betroffenen Menschen ist vergleichbar.

Deswegen ist der respektvolle Umgang mit Flüchtlingen und die mitmenschliche Hilfsbereitschaft auch die richtige Lehre aus unserer eigenen Gründungsgeschichte, der Bundesrepublik Deutschland. Der Staat des Grundgesetzes ist nicht kalt, er ist nicht blind, er kennt Mitgefühl und Mitmenschlichkeit. Und umgekehrt gilt – und das sage ich an Ende einer Woche mit vielen schlechten Nachrichten aus unterschiedlichen Teilen unseres Landes: Menschenverachtende Parolen, Hass und Gewalt passen nicht zu uns, passen nicht zu unserem Staat. Geben wir ihnen keine Chancen, nirgendwo meine sehr verehrten Damen und Herren!

Meine Damen und Herren, die Geschichte hat es gut gemeint mit uns und mit der Bundesrepublik Deutschland. Vergleichen wir einmal unsere ganz persönliche Situation heute mit der unserer Eltern und unserer Großeltern: Das Ergebnis fällt zumindest bei mir sehr eindeutig aus, und ich nehme an, bei vielen von Ihnen auch. Oder vergleichen wir einmal unsere Situation mit dem Leben von Menschen in vielen anderen Teilen der Welt: Ich glaube wir können tiefe Dankbarkeit für die Bedingungen empfinden, unter denen wir leben. Daraus folgt aber zugleich auch eine Verpflichtung. Die Verpflichtung, die eigene Geschichte, auch die eigenen Tiefpunkte, im Hinterkopf zu behalten und als Auftrag für Gegenwart und Zukunft unseres Landes zu verstehen.

„Vertreibungen sind Unrecht – gestern wie heute". Sie haben sich für den Tag der Heimat 2015 ein Motto gewählt, zu dem ich Ihnen nur gratulieren kann. Der Opfer von Krieg, Gewalt und Vertreibung zu gedenken und sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, das ist notwendig, und das muss geschehen. Das ist die eine Seite der Medaille. Den heutigen Opfern von Krieg, Gewalt und Vertreibung zu helfen, ihnen als Mitmenschen zur Seite zu stehen: Das ist die andere Seite der Medaille und in diesen Tagen eine aktuelle Anforderung an uns alle.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, 70 Jahre nach der Vertreibung von Millionen von Deutschen aus den Ostgebieten, 70 Jahre nach dem schwierigen Wiederbeginn und Neubeginn, hier in den heuten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, 70 Jahre danach ist die Geschichte lebendig. Sie ist es unter anderen Bedingungen als vor 70 Jahren, aber Flucht und Vertreibung, Hass und Intoleranz und Gewalt gibt es heute wie vor 70 Jahren. Bleiben wir uns selbst treu, bleiben wir auch der Geschichte unseres Landes treu und engagieren wir uns für die Opfer unserer Tage.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Dankesworte zur Verleihung der Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen beim Tag der Heimat am 29. August 2015 in der Berliner Urania

Emilia Müller MdL, Bayerische Staatsministerin für Soziales, Schirmherrschaftsministerin der Sudetendeutschen

Sehr geehrter Herr Präsident Dr. Fabritius, lieber Bernd,

Herr Ministerpräsident Weil,

Herr Ministerpräsident a.D. Dr. Beckstein,

liebe Kollegin Ministerin Puttrich,

Herr Staatssekretär Weimann,

liebe Kollegen und Kolleginnen aus dem Deutschen Bundestag, den Landtagen,

sehr geehrte Exzellenzen,

meine sehr geehrten Damen und Herren!

Die Einladung zum Tag der Heimat für Herrn Ministerpräsident Seehofer habe ich wirklich sehr gerne übernommen. Ministerpräsident Seehofer bedauert sehr, dass er nicht persönlich anwesend sein kann und ich darf Ihnen, Ihnen allen, meine Damen und Herren, seine herzlichen Grüße übermitteln.

In seinem Namen und im Namen des Freistaats Bayern sowie stellvertretend für das Land Hessen und den Freistaat Sachsen bedanke ich mich ganz besonders für die Verleihung der Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen. Diese höchste Auszeichnung des BdV erfüllt uns alle mit Stolz.

Wir haben in Bayern, Hessen und Sachsen im vergangenen Jahr erstmals einen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung begangen – ein starkes Signal gegen Unrecht und Leid.

Ich bin froh, dass der Bund dem Vorbild unserer Länder gefolgt ist. Am 20. Juni fand der erste bundesweite Gedenktag gegen Vertreibung statt. Für die Bayerische Staatsregierung darf ich in Anspruch nehmen: Wir Bayern haben gemeinsam mit Hessen und Sachsen den Stein ins Rollen gebracht. Unser beharrlicher Einsatz hat sich gelohnt, meine Damen und Herren!

Und unsere Botschaft lautet: Vertreibungen sind Unrecht – gestern wie heute. Und Vertreibungen weltweit ächten: Das ist unser Auftrag für die Zukunft. Und ich sage Ihnen die derzeitigen Fluchtbewegungen erfordern auch, dass wir im Denken derart handeln.

Im Gedenkjahr 2015 erinnern wir uns an das Kriegsende vor 70 Jahren. Wir gedenken in Würde und Respekt aller Opfer des Kriegs. Die Bilanz des Zweiten Weltkriegs ist der Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte: 55 Millionen Tote, das beispiellose Verbrechen des Holocaust an den europäischen Juden, millionenfache Deportation in die Konzentrationslager.

70 Jahre Kriegsende bedeutet aber auch: 70 Jahre Beginn von Flucht und Vertreibung. Zwölf Millionen Deutsche erlebten Rache und Vergeltung – in Nemmersdorf in Ostpreußen, in Lamsdorf in Schlesien, in Brünn oder in Aussig im Sudetenland. Zigtausende Deutsche mussten Zwangsarbeit leisten.

Die Bundesregierung hat mir ihrem Beschluss im Mai dieses Jahres, sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter für das Leid zu entschädigen, ein wichtiges Zeichen gesetzt. Eine solche humanitäre Geste sind wir auch den Deutschen schuldig, die am Ende des Zweiten Weltkriegs und danach Zwangsarbeit leisten mussten. 70 Jahre nach Kriegsende ist dafür höchste Zeit. Am Ende von Flucht, Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit waren rund zwei Millionen Tote zu beklagen.

1990 sagte der tschechische Präsident Václav Havel:

„Das war keine Strafe, das war Rache.“

Echter Friede, gelebte Völkerverständigung, Versöhnung nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den Herzen – all das braucht die Kraft und den Mut zur Wahrheit. Und deshalb sage ich auch ganz deutlich: Die Vertreibung der Deutschen aus ihrer angestammten Heimat im Osten war und bleibt ein großes und schweres Unrecht, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!

Dennoch suchen die Vertriebenen seit vielen Jahren Kontakt mit ihrer Heimat. Sie überwinden alte Gräben und bauen menschliche Brücken zwischen den Völkern.

Der gemeinsame Brünner Gedenkmarsch von Tschechen und Deutschen Ende Mai ist ein eindrucksvolles Beispiel für Versöhnung und Völkerverständigung.

Was die Vertriebenen für die gute Nachbarschaft in Europa geleistet haben, lässt sich kaum mit Worten messen: Sie alle leisten großartige Verständigungsarbeit. Und dafür meinen herzlichen Dank!

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit 65 Jahren begehen Sie an vielen verschiedenen Orten den Tag der Heimat. 1950 lagen die traumatischen und furchtbaren Erlebnisse erst wenige Jahre zurück.

Über acht Millionen Heimatvertriebene lebten im Westen Deutschlands, rund die Hälfte davon noch in Lagern. Sie hausten in Wellblechhütten, zusammengedrängt in Dachgeschossen oder Kammern. Millionen Menschen, Millionen Einzelschicksale. Unsägliches Leid.

Besonders beeindruckt und beeindrucken mich der Mut und die Gestaltungskraft der Heimatvertriebenen. Durch Krieg und Vertreibung haben sie ihre Heimat verloren, aber nicht ihre Identität, nicht ihren Stolz, ihre Würde, ihre Kraft zum Anpacken und zum harten Arbeiten. Für die Aufbauleistung der Heimatvertriebenen sind wir zutiefst dankbar!

Ich bin überzeugt davon, dass die Heimatvertriebenen unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg vorangebracht haben. Das Ergebnis sehen wir jetzt auch in der Bundesrepublik Deutschland.

Die aktive Teilnahme am Wiederaufbau Deutschlands ist aber nicht nur materiell zu sehen. Die Heimatvertriebenen setzten bei allem Leid, das sie erfahren hatten, auf Hoffnung und Zuversicht.

Und bereits 1950 wurde vor der Ruine des Schlosses in Stuttgart feierlich die Charta der Heimatvertriebenen verkündet – ein Dokument für Frieden und Versöhnung in Europa. Die Vertriebenen bekannten sich zu einem gemeinsamen Haus Europa, „in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können“. Und dieses frühe Bekenntnis zu Europa kann nicht hoch genug gewürdigt werden!

Und sehr geehrte Damen und Herren, Sie haben nicht auf Rache gesetzt, sondern auf Versöhnung. Mit Mut und Tatkraft, Hoffnung und Zuversicht haben Sie Ihre neue Heimat, unser Land mitaufgebaut.

Lassen Sie uns mit dieser Haltung auch aktuelle Zukunftsaufgaben anpacken!

Ich denke hier an die Asyl- und die Flüchtlingsfragen, an Schicksale, die uns besonders bewegen und mit denen wir täglich befasst sind.

Machen wir uns gemeinsam stark für den Zusammenhalt in Deutschland und Europa, für mehr Solidarität in Europa!

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!